Identität, Dualität, Transformation
Michael Fliri (Taufers im Münstertal, Italien, 1978) ist ein vielseitiger Künstler, der verschiedene Medien einsetzt: Video, Performance, Fotografie, aber auch Skulptur und Installationen. Im Verlauf seiner produktiven Laufbahn reiste er viel und hielt sich in unterschiedlichen Zeiträumen an verschiedenen Orten auf: New York, Wien, Paris, Antwerpen, London. Derzeit lebt er zwischen Taufers im Münstertal und Zürich und unterrichtet in Innsbruck an der Fakultät für Architektur, Stu-dio3. Im kleinen Dorf in Südtirol errichtete er zusammen mit der österreichischen Architektengruppe columbosnext sein neues Kunstatelier. Eine Konstruktion des Geistes mehr noch als der Materie, die sich entlang der vertikalen Achse seiner kreativen Vorgehensweise entwickelt: Ausgehend von den zugrunde liegenden und unbewussten tellurischen Kräften offenbart sich langsam das Werk – während sein eigenes Gewicht aus Fleisch und Blut dem Boden überlassen bleibt, da, wo die Füße die Erde berühren – in Zeichen, die den Geist einer neuen Sprache verstärken. Obwohl der Wert eines sofort erkennbaren individuellen Stils aufrecht erhalten wird, wenn auch in ständiger Metamorphose, schweift Fliri durch die verschiedensten schöpferischen Umgebungen und lässt eine physische und metaphysische Welt entstehen, immer zwischen Abstraktion und Figuration, zwischen Eindruck der Netzhaut und sofortiger Übersetzung des Ausdrucks.
Fliris Werke beziehen sich auf ein Konzept fluider und formbarer Identität und zeigen sein Interesse an den Dingen, die da-zwischen liegen, im modellierbaren Raum der Metamorphose.
Identität, Dualität, Transformation sind die Themen, um die sich seine Poetik dreht. Und sein Körper spielt bei dieser Recherche eine fundamentale Rolle. Ein organischer Kör-per in ständiger Entwicklung, der dazu neigt, sich nicht nur im Kontext der Performance zu entfalten, sondern auch durch die damit verbundenen Abzweigungen der Plastik und der Installation. Gleichzeitig Haupt- und Nebendarsteller, ein verfügbarer Körper, der die Botschaft von einer streng individuellen Ebene auf eine universelle Ebene hebt, der sich seiner Besonderheit beraubt, um von einer gelenkigeren und komplexeren Besonderheit zu sprechen, der des Menschen. Fliris künstlerischer Schauplatz ist zweifellos ein physischer und konkreter Ort, der gefüllt werden will: In ihm wird der Körper zu einer materiellen und festen Sprache. Eine Sprache für die Sinne, die sich vor allem darum bemüht, diese zu befriedigen. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, im Folgen-den alle seine intellektuellen Wirkungen auf jeder möglichen Ebene und in jede Richtung zu entwickeln und die Poesie des Physischen an das Ufer der Poesie des Metaphysischen überzusetzen, die sich auf der Grundlage von Ideen auslöst und deren spirituelle Tiefe untrennbar ist von der formalen und äußeren Harmonie des Werkes. Metaphysik des Körpers betreiben heißt, den Körper in den Dienst des Ausdrucks von etwas zu stellen, das er normalerweise nicht ausdrückt. Das heißt, ihn auf eine neue und ungewöhnliche Weise so einzusetzen, tatsächlich etwas Mystisches in Form von Verzauberung und Staunen zu entreißen und ans Licht zu bringen. Hier erscheint dann das Universum Fliris schillernden Charakters, in dem der Körper zweckdienlich und wichtig ist, um die Metamorphose dazu zu bringen, zu einer Methode zu werden, die in der Lage ist, Form zu erzeugen, die Konturen aufzulösen, die Spuren zu verwischen, die Wahrnehmungscodes zu verändern und letztendlich das Bild in eine mehrdeutige Harmonie zu überführen, die in vielen Fällen zu einer anthropomorphen und zoomorphen Vision der Dinge führt.
Seine Einzelausstellung, die im Sommer im Italienischen Kulturinstitut in Madrid in Verbindung mit der 40. Ausgabe der internationalen Messe für zeitgenössische Kunst ARCO Madrid eröffnet wird, umfasst einige der exemplarischsten Werke Fliris. Beginnend mit My Private Fog (2014), indem der Künstler die Themen Gesicht, Maske und deren Veränderungen aufgreift.
„Ich sammle Steine im Hochgebirge und trage eine dünne Schicht Glas, Harz oder Acrylglas auf deren Oberfläche auf, je nach der Wirkung, die ich erzielen möchte. Sobald diese ausgehärtet ist, entferne ich sie und es ist, als würde ich eine feste transparente Haut von dem Objekt abnehmen, die ich dann wie eine Maske über mein Gesicht stülpe. Durch meine Körperwärme entsteht Kondensation, die mehr und mehr mein Gesicht verdeckt und die Berglandschaft zum Vorschein treten lässt. Diese Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur wird hervorgehoben. Meine Identität wird fließend und fast nicht mehr wahrgenommen.“
Fliris Werke beziehen sich auf ein Konzept fluider und formbarer Identität und zeigen sein Interesse an den Dingen, die dazwischen liegen, im modellierbaren Raum der Metamorphose. Dieser ist auch der Raum der Abwesenheit, der nicht als Leere, sondern als äußerst kreativer Moment verstanden wird, der die Durchlässigkeit des Werkes für Innovationen, das Unvertraute, das Unbekannte öffnet. In den Übergangsriten, in denen sich die Form nicht in ihrer Definition versteift, sondern die Wahrnehmung eine Handlung privilegiert, deren Wirklichkeit uns noch hier, in diesem Übergang der Grenzen entgeht, um es in den Worten des französischen Anthropologen Arnold Van Gennep auszudrücken, bewerkstelligt der Künstler eine echte Methodologie des Staunens. Indem er der Reproduktion des Identischen ihre Regeln entreißt, akzeptiert und wünscht er die Koexistenz selbst divergierender und zeitgenössischer Identitätsfragmente inner-halb desselben Werks, wobei er sich bewusst ist, dass die Identität nicht auf dem Identischen beruhen darf, sondern das Nicht-Identische akzeptieren muss, das wesentlich ist, um die Wüste der Abwesenheit zu durchqueren. Bei näherer Betrachtung betont Fliris ganzes Werk die transitive Dimension der zeitgenössischen Identität und erzählt uns gleichzeitig von einer allgegenwärtigen Identität, die potentiell in je-dem Raum vorhanden ist, und von einer utopischen Identität, die es nirgendwo ist. In dieser Beziehung des Seins in allen Räumen und im Nirgendwo, in diesem Übergang, erklärt sich der Kontext der zeitgenössischen Subjektivität. Wie es der italienische Anthropologe und Ethnograph Massimo Canevacci in seinem Text „Allgegenwärtige Körper“ betont: „Das Konzept der Physiognomie kann und muss sich in diesen anderen Subjektivitäten, die auftauchen, neu formulieren und anwenden, eine Physiognomie, die sich von der des 19. Jahrhunderts unterscheidet und sich ausdehnt in der transitiven Verflechtung zwischen allgegenwärtigen Identitäten, mutieren – den Körpern, transhumanen Technologien.“ Der zeitgenössische Künstler präsentiert sich daher als derjenige, der sich der Komplexität bedient: Das Allgegenwärtige drückt Spannungen aus, die über das vereinfachte Denken der dualistischen Ratio hinausgehen, über die Identitätsfixierung von Dingen und des Seins hinaus, um unbegrenzte poetisch-künstlerische Visionen anzubieten.
AniManiMism (2017) – ein Titel, der eine klare Anspielung ist auf die Idee, Leben einzuhauchen, das Leblose zu animieren – ist eine Videoinstallation, die mit vier im Ausstellungsraum angeordneten Projektoren erstellt wurde, die Schattenspiele zeigen. Die transparenten beweglichen Masken erinnern auf den ersten Blick an Röntgenaufnahmen. Wie in einem Puppentheater werden die Masken von einer darunterliegenden Hand bewegt. Die Bewegung belebt die Maske und erinnert an die Bewegungen eines Dirigenten. Der Mund öffnet sich und Töne und Geräusche sind zu hören. Auf diese Weise kommunizieren die Masken mit dem Betrachter, der selbst Teil der Installation wird.
Im Werk Polymorphic Archetypes (2018) hinterfragt Fliri den Weg zum Verständnis von Archetypen und untersucht den Prozess der Identitätsbildung. Dabei orientiert sich der Künstler symbolisch an der Maske: Was passiert, wenn eine Maske maskiert wird, wenn eine Maske eine andere und dann noch eine andere überlagert und sich diese Ebenen dann verwirren und absorbieren? Wie in Platons Höhlengleichnis dreht sich die Frage darum, was verborgen bleibt, was hinter dem Sichtbaren liegt. Die des Künstlers eine unendliche Infragestellung, bei der der Raum des Bildes durch Ereignisse und nicht vollständig definierbare Gesetze reguliert wird, die ihr magisches und unwirkliches Potenzial im Verlauf der Untersuchung freisetzen und es in einer verborgenen Reihenfolge aufzeichnen – rätselhaft und mysteriös.
Das Spiel von Licht und Schatten spielt stattdessen eine zentrale Rolle in der Fotoserie The light never sees a shadow (2018), ein Zeugnis der Faszination, die Lichtphänomene und ihre Auswirkungen auf den Künstler ausüben. Die transparenten Masken, abgenommen von dreidimensionalen Gipsskulpturen mit unterschiedlichen Oberflächenstrukturen, werden von Lichtquellen unterschiedlicher Farben durchdrungen. Auf diese Weise multiplizieren sich die Schatten, die als Kopie des Bildes auf den Hintergrund projiziert werden. Die Masken und Schatten scheinen zurück zu kommen, um zu einem einzigen Objekt zu verschmelzen. Die ausgeschnittenen Augenhöhlen vermehren sich abwechselnd in den Schatten, die das Aussehen von Gesichtern annehmen. Das Werk The skin of an image (2018) besteht stattdessen aus zwei fotografischen Sequenzen mit jeweils fünf Bildern. Das zentrale Bild der ersten Sequenz zeigt einen Stein, das der zweiten ein Mineral. Links und rechts von jedem zentralen Bild befinden sich zwei Reproduktionen desselben Motivs aus transparentem Kunststoff, die aus verschiedenen Blickwinkeln fotografiert wurden. Aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, werfen die transparenten Formen Schatten auf die dahinter stehende Oberfläche, lassen eine optische Täuschung zu und erzeugen tatsächlich die Reproduktion einer Reproduktion einer Reproduktion. Mit der Reproduktion und Anordnung in Serie des zentralen Steins schafft der Künstler das Profil einer Bergkette.
Schließlich verwendet Fliri in seinen jüngsten Werken Stargazer (Selbstporträt) (2020) oder Hand (2021) das analoge Medium, um Bilder zu erstellen, die bestimmte Assoziationen mit Science-Fiction hervorrufen. Wenn er seine Recherche des Selbstporträts oder der Hände kristallisiert, interessieren ihn eigentlich nicht diese, sondern ihre Bedeutung, ihre Voraussetzung, ihre Herkunft. Und diese Herkunft entdeckt Fliri in sich selbst: in seinem Geist, in seiner Seele. Was produziert wird, ist eine virtuose Osmose zwischen kontrastieren-den und unterschiedlichen Universen, die nicht das Interesse des Künstlers an der Ausgestaltung digitaler Techniken offenbart, sondern seinen Wunsch, die Fotografie als Schnittstelle zwischen zwei unterschiedlichen Sensibilitäten zu verwenden: der irdischen und physischen, und der durchscheinenden und immateriellen. Aus diesen anthropomorphen und zoomorphen Kreaturen können wir seinen Hang zur Transzendenz lesen: Fliri transzendiert seinen menschlichen Körper, transzendiert das Fleisch, das Fleisch, von dem Pier Paolo Pasolini schrieb: „wo es mehr Fleisch und damit mehr Tod gibt“, um nach anderen Formen der Existenz zu suchen. Und indem er eine ontologische Offenbarung inszeniert, verwandelt er das Werk in eine Metapher der Grenze zwischen endlich und unendlich. Fliri sucht in der Welt einen Übergang in Richtung Jenseits oder Nichtwelt und fragt nach dem Wie und Warum. Er schaut darüber hinaus, schaut in die Unendlichkeit, aber es ist keine wissenschaftliche Beobachtung oder ästhetische Kontemplation, sondern eine Prüfung: ein Versuch, das zu sehen, was weder die Beobachtung der empirischen Realität noch die Kontemplation der idealen Realität ihm zeigen würde. In dieser Grenzziehung, die keine Abgrenzungslinie mehr ist, entwickelt sich seine gesamte Arbeit, die sich seines Seins, seiner Existenz, seines „ex-sistere“ bewusst ist. Ein Begriff, der wörtlich verstanden werden muss in dem Sinne, auf etwas zu bestehen, dort, in diesem Etwas, den eigenen Rückhalt zu finden, aber gleichzeitig von dort aus, von dieser Grenze aus, macht Fliris Werk einen Sprung, wenn auch nur in der Vorstellungskraft. Aber einen immensen, über die Grenzen der Welt hinaus.
In der Theorie, die der brillante Antonin Artaud vom alchemistischen Theater entwirft, finde ich Gemeinsamkeit mit dem Werk von Fliri, einem Werk, das viele Prinzipien mit der Alchemie gemein hat. Beide sind sozusagen virtuelle Künste, die weder ihren Zweck noch ihre Realität in sich tragen. Um „Gold entstehen zu lassen“, muss der Künstler immense Konflikte zwischen entgegengesetzten Kräften entfesseln und sich diesen stellen. Tatsächlich liegt es im Prinzip der Alchemie, dem Geist nicht zu erlauben, seinen Schwung zu nehmen, bevor er wesentliche Umwälzungen durchlaufen hat, um so alle Konflikte zu lösen oder zumindest zu vernichten, die durch den Antagonismus zwischen Materie und Geist, zwischen Idee und Form, zwischen Konkret und Abstrakt hervorgerufen werden, unter Verschmelzung aller Erscheinungen zu einem einzigen Aus- druck. Darin liegt die leidenschaftliche Seite der gesamten Produktion Fliris: im Konflikt zwischen einer Urzeit, der der Schöpfung selbst, dem Ergebnis eines einzigen, konfliktlosen Willens, und eines zweiten Moments, der der Schwierigkeit und des Doppelten, der der Materie und der Verdichtung der Idee.
Dieser Beitrag ist in der Print-Ausgabe CONNECTEDNESS 2.21 erschienen
Mehr Informationen über das Werk von Michael Fliri unter: