Neo Rauch
Rauchs Bilder seien, so seine Kritiker, emotionslos und statisch, ohne Bewegung, leidenschaftslos. Das Gegenteil ist der Fall. Mehr Bewegung, mehr Prozess ist kaum darstellbar, denn Rauch setzt die krassesten Gegensätze ins Bild: Harmonie und Zerstörung, Landschaftsidylle und Geschwindigkeit – Macht und Demut −, die von Größenwahn bis Selbsterniedrigung zeugen. Potenzstrotzende Ur-Männer voller natürlicher Überlegenheit – man will meinen der gesamten Natur, der Welt gegenüber –, Kraft und selbstverständliche Souveränität ebenso wie zwergenhafte, kleine, ja beinahe aufgrund ihrer anscheinenden Hilflosigkeit mitleiderregende kleine Männer, die in Demut oder vielleicht sogar gedemütigt auf der Herrscherin Wort horchen.
Rauch trägt das, was ihn angeht, anfällt – also mehr oder weniger ungefragt, ja ungewollt überkommt, überfällt, anschreit oder ihm geheim zuflüstert, stilisiert aus sich wieder heraus, mitten in unsere Welt: auf die Leinwand, aufs Papier … Seinem Innersten einen Ausdruck verleihen – das ist Kunst.
Menschen, die sich geschickt und v.a. konsumorientiert, vielleicht gar einflussreich, inmitten unserer alltäglichen Welt der Zerstreuung zu bewegen wissen, nennt man heute ganz bewundernd „Player“. Wer etwas sein will oder sein soll, muss Player sein, nicht Looser. Spieler muss er also sein. Sind aber Spieler eben nicht immer die, die als Einzelne, aus einem Ganz-für-sich-Sein heraus, niemals aus den Grenzen der Fremdbestimmtheit des Spieles heraustreten könnten, weil es für sie kein Außen gibt? Auch kein Zwischen − es besteht die Eindeutigkeit der Welt und eine Wirklichkeit. Spieler sind immer Mit-Spieler. Player (engl.) gibt es auch nur im Plural. Grammatikalisch ist der Singular nicht vorhanden. Die Bedeutung hat man unwissend gleich mit eingedeutscht oder in Kauf genommen. Sprache hat also einen manchmal sehr implizit schleichenden Wirkungsgrad der Veränderung von Lebensumständen. Wenn sich etwas verändert hat, bezieht man sich wieder auf die Richtigkeit der Situation mit Blick auf das Wort, das es ja schon beinhaltet.
Aber leben wir nicht in einer Zeit, wo gerade auch das Anliegen des jungen Georg Lukács wieder aktueller denn je wird: „Alles wirbelt umher; alles ist möglich und nichts ist gewiß; alles fließt ineinander: Traum und Leben, Wünsche und Wirklichkeit, Furcht und Wahrheit…“ („Die Seele und die Formen“) Einen Halt zu finden in einer Welt, die eher orientierungslos macht als Orientierung zu schaffen, ist eine echte Aufgabe. Es bedeutet in einer gnadenlos zerreißenden, Menschen trennenden Realität eine eigene Haltung als eigenes Ethos (griech.: ethos = Haltung) innerhalb eines bis zur Unumkehrbarkeit fortgeschrittenen Wertezerfalls, der auch die Moral entwurzelt, die Halt geben könnte, Fassung in der Fassungslosigkeit, Form in der Formlosigkeit zu errichten. Nietzsches Bonmot, das in etwas weniger spektakulärer Form auch schon der junge Hegel sinngemäß formulierte, nämlich „Gott ist tot“, heißt ja im Grunde nur: Das alte Bild, das wir von Gott hatten, seine Werte, seine Bestimmungen für uns, was gut und was böse ist, gelten nicht mehr. Was aber gilt dann? Es gibt keinen Gott mehr, der ernstzunehmend Werte an die Menschen vermitteln könnte. Aber eines ist sicher: ER FEHLT!
Die große Sehnsucht nach Gott, nach Sinn, nach Bedeutung, nach Halt hängt wie ein Damoklesschwert über dem Einzelnen, seit Gott tot ist. Diese große Sehnsucht zielt in ihrem Bestreben nach Perspektivierung des eigenen Lebens, nach Selbstermächtigung und Selbstbestimmung nicht mehr auf eine Gemeinschaft, sondern auf den Einzelnen selbst. Manch einer wird davon erschlagen – von seiner eigenen großen Sehnsucht, manch einer verdrängt sie und sucht sein Glück im Allgemeinen, das aber womöglich keine Aufgabe mehr für ihn hat.
Man muss Künstler sein, um die Große Sehnsucht nicht nur zu ertragen, sondern auch zu gestalten, sein Leben zu gestalten, ihm eine Form zu geben, es zu ästhetisieren, zumindest für sich sinnvoll zu machen, vielleicht gar Größe zu erlangen, (Selbst-)Macht.
Künstler schaffen Formen. Will man Formen schaffen, muss man die Fähigkeit haben, Formen zu erkennen, zu verstehen, sie aufzunehmen und durch sich hindurch gehen zu lassen – hin zu neuem Ausdruck – konservativ (lat.: conservare: bewahren) und visionär (lat.: genau besehen, betrachten). Zwischen-Sein heißt Medium-Sein. Neo Rauch sagt von sich selbst, er sei wie ein Medium, es gehe etwas durch ihn hindurch, das Postulat des „Zuhandenen“, es weiterzutragen und so nicht sterben zu lassen, sondern es durch die Neugestaltung lebendig zu lassen, eine neue Form zu geben, es zu transformieren in das Jetzt und gerichtet auf Zukünftiges. Demütig sein, seine Arbeit tun, seine Pflicht erfüllen, in asketischer Dienerschaft (askesis = griech.: Einübung) gegenüber etwas, das größer ist, als man es selbst ist und das doch nur durch uns selbst gedeiht, bedeutet: Medium sein.
Die Figuren, die Formen, die auf den Bildern Rauchs zu betrachten sind, sind nüchtern, kulissenhaft dargestellt. Inmitten verschiedener historischer Zeiten lässt er Figuren auftreten, die jeweils mehr sind als ihre konkrete Gestalt oder als der einzelne dargestellte Ort. Sie stehen für eine Allgemeinheit, sind Typen, in die der Betrachter des Bildes seine je eigene Emotionalität und Konkretion der Orte und Situationen selbst legen kann. Die Figuren sind ebenso Figuren des Zwischen.
Wie kann man Neo Rauchs Bilder also verstehen – wie „liest“ man sie richtig? Indem man sich auf sie einlässt, selbst versucht, in dieses Zwischen zu tauchen für einen Augenblick. Selbst zwischen Sich und Sich in einem ästhetisch-künstlerischen und damit philosophischen Verständnis vertraut zu werden mit dem Gegenüber. Sich in den Bildern finden, Heimat in den Bildern finden – Metatropist sein. Die Metatropie ist eine Kehre, eine Wende des Künstlerphilosophen zu sich selbst. (Meta = zwischen, und tropos = die Wende, die Kehre.) Allgemein gültige, transhistorische Formen sind nur in diesem sowohl künstlerischen als auch philosophischen Zustand zu finden. Man erfindet sie nicht, man findet sie in sich selbst. Man muss sich einlassen können, der eigenen Natur Ausdruck verleihen, allem, was außerhalb der eigenen Individuation zur eigenen Natur gehört. Das ist einzig gemeinschaftsstiftend und – wenn man so will – religiös. Religio (lat.) kann übersetzt werden mit: das, was uns verbindet, im Sinne von verbindlich sein, verpflichtend. Es verbindet uns das, was wir im Anderen auch sind, das zu uns gehört. Das ist es, das wir verstehen können. Wenn nun durch den Künstler Neo Rauch Formen entstehen, die viele Menschen verstehen können, ist das eine säkulare religiöse Tat.
Religion als das, was uns verbindet, ist mit künstlerischen Mitteln unmittelbarer ausdrückbar als in unserer doch mehr rational und theoretisch verfassten Verbalsprache. Was Neo Rauch als Herr eines Zwischenreichs, als Metatropiker, ausdrückt und für jeden, der sich darauf einlässt, in die Welt bringt, liegt in den Bildern. Der Einzelne muss sie erleben, könnte sie aber vielleicht niemals adäquat verbal zur Sprache bringen.
Es sind Dinge, die er konsequenterweise in Bildern ausdrückt, weil man sie erleben, aber niemals 100-prozentig verbal aussprechen oder aufschreiben könnte. Wittgensteins letzter berühmter Satz aus seinem „Tractatus logico-philosophicus“ aus dem Jahre 1918 „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ wird befolgt. Die Kunst ist Grund und Weiterführung sprachanalytischer Wissenschaftsphilosophie, und als solche hat Wittgenstein auch die Philosophie überhaupt gesehen. Das „Spechen“ beinhaltet für Wittgenstein verballogische Folgerungen, die in einer objektiven und allgemeingültigen Form fixiert sind und am besten für immer und ewig Gültigkeit haben. Gültig ist, was wahr ist. Das Schweigen, das jede Philosophie, die als „Liebe zur Weisheit“ immer künstlerisch tätig ist, wagt sich an die Herausforderung heran, bisher noch Unausgesprochenes zum Ausdruck zu bringen. Neuen Ausdruck zu finden, um sich und seine eigene innere Welt verständlich zu machen, setzt dort ein, wo Wittgenstein aufgibt: an den Grenzen der Realität, an den Schnittstellen von Wahrheit und Lüge, von Sinn und Unsinn, von Regelkonformität und Verrücktsein, von Sinn und Wahnsinn. Also im Zwischen. Es ist das Zwischen, in dem sich die Kehre vollzieht, die den Künstler zum Neuen, noch nicht Daseienden oder So-noch-nicht-Daseienden aus einer inneren Getriebenheit, einer Großen Sehnsucht, sein Leben in Autonomie zu gestalten, treibt: Er richtet und formt einen Teil dieses Zwischenraumes, indem er sich in ihm zu beherrschen lernt, indem er ihm eine Richtung, eine Perspektive gibt. Das perspektivierte Zwischen ist die Metatropie und beginnt mit dem souveränen Blick des Künstlers auf sich selbst.
Gedankt sei an dieser Stelle den hilfsbereiten und kooperativen Mitarbeiterinnen der Grafikstiftung Neo Rauch in Aschersleben, die meine Freunde und Kollegen Hagen Wiel (Filmemacher, Fotograf und Inhaber der Videoproduktion Wiel Leipzig) und Lu Potemka (Galeristin und Inhaberin der Galerie Potemka in Leipzig) und mich sehr kurzfristig empfingen. Im offenen Gespräch und bei einer Führung durch die aktuelle Ausstellung durch Christiane Wisniewski (Mitbegründerin der Stiftung) bekamen wir wichtige Hinweise zur Arbeit Neo Rauchs und Material zur Veröffentlichung dieses Artikels.