DER MODERNE MAL DIE LUFT RAUSLASSEN
Seit er 1999 an der 48. Biennale von Venedig mit seiner Installation „Archaic Modern Suite“ einem breiten Publikum auffiel, gelang Lori Hersberger, 59, der Sprung zu internationaler Bekanntheit. Der in Basel geborene und seit über 20 Jahren in Zürich lebende Maler und Bildhauer gilt heute als einer der renommiertesten Gegenwartskünstler der Schweiz. In der von Harald Sezeemann konzipierten Biennale ließ er damals eine riesige Plattform mit bunten Secondhand-Teppichen auf dem Hafengelände des Arsenals schwimmen, das wie ein gestrandetes Floß aus dem Orient Kultur, Historie und Vergänglichkeit an einem geschichtsträchtigen Ort zu einem temporären Stillleben verortete.
Kunst baut auf die Oberfläche. Sie schert sich nicht um Sinn.
Das mittelgroße Schweizer Städtchen Basel ist eine Kunststadt. Mit der Art Basel beheimatet die Stadt nicht nur die größte Kunstmesse der Welt, sondern auch die Fondation Beyeler mit ihren außergewöhnlichen Ausstellungen und hochkarätige Museen wie das Kunstmuseum Basel, das Gegenwartsmuseum oder das von den Basler Stararchitekten Herzog und De Meuron gebaute Schaulager. Welch Wunder also, dass mit Lori Hersberger ein außerordentlich sachverständiger Künstler aus der Stadt am Rhein kommt. Seine Leidenschaft für Kunst war früh geweckt. »Mein Vater hat mich bereits an die allersten Art Basel-Kunstmessen mitgenommen, das war etwa 1974 oder 1975«, meint Hersberger. Sein Interesse galt schnell einmal der Pop Art und dem Dadaismus, aber auch der Musik. »Die frisch entstehende Punk- und New Wave-Szene war ein Glücksfall für mich, selbst wenn sie mich eine Zeit lang von der Kunst abgelenkt hat.« Hersberger gründete um 1980 eine Band und fand, beeinflusst von Dada und Punk, in der Ästhetik der Fotokopierer, der Collagentechnik und wilder Typografie ein starkes Ausdrucksmittel. In der Beschäftigung mit diesen sog Hersberger unter anderem bald auch Walter Benjamins1 epochales Werk »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« auf, mit nachhaltigem Eindruck. Schließlich wurde Videotechnik anfangs der Neunziger erschwinglich und begann, sich als neues, aufregendes Kunstmedium zu etablieren. Mit der befreundeten Pippilotti Rist, der heute vielleicht berühmtesten Schweizer Künstlerin, besuchte er dieselbe Fachklasse für Audiovisuelle Kunst, ein Jahr über ihm. Basel in den frühen Neunzigern war ein guter Nährboden für Kunst.
Wer seine Werke heute betrachtet oder ihn in seinem Atelier in Wädenswil am Zürichsee besucht, wird allerdings keine Spuren seiner Videokunst mehr vorfinden. Ein paar eingepackte Gemälde sind an eine Wand angelehnt. Ansonsten befinden sich in seinem großen Atelier vor allem wunderbar spiegelnde, deformierte Chromstahlobjekte. »In den späteren Neunzigerjahren bin ich von den Reproduktionstechniken als Mittel für meine Kunstpraxis abgekommen und habe mich in wilder Entschlossenheit – und als massiven Bruch mit meiner bisherigen Arbeit – der Abstrakten Malerei zugewandt. Dem Medium also, das die höchsten künstlerischen Ansprüche einfordert und gleichzeitig aufgrund seiner dominierenden Stellung sowie seiner langen Geschichte irgendwie unmöglich geworden schien.« Dieser »Schritt zurück« ins vertieft Analoge und damit in die alte Schule wurde zum eigentlichen Paradigmenwechsel für Hersberger.
»Die Malerei auf Leinwand, auf der Basis einer unmittelbaren, freien Dialektik – letztlich mit mir selbst – verabschiedete ich mich von der Angst vor der Romantik der persönlichen Urheberschaft. Ich stellte mich damals gewissermaßen einer Wahrheit als Künstler, der nun ein echtes Unikat, ein klassisches ‘Werk’ mit traditionellen Mitteln schaffen will, ohne viel Technik und doppelten Boden. Im Unterschied zu den sich auf-drängenden Reproduktionstechniken, bleibt die Malerei für mich deshalb so entscheidend, weil das Technische im Prozess des Malens, die Struktur, im Grunde extrem beschränkt ist. Während die ‘Funktion’ des Mediums, also die Möglichkeiten zur Beantwortung aller entscheidenden künstlerischen Fragen, zahllos ist und keine Grenzen kennt. Nebst dem Material, bildet das Irrationale des Kunstwerks, das ‘Sensationelle’ letztlich den alles entscheidenden Faktor. Die Zwiespältigkeit, aber auch Chance des Mediums war es, die mich als echtes Abenteuer anzog.«
1999, Venedig. Die erste Biennale von Harald Szeemann, dem großen Schweizer Kurator und Ausstellungsmacher, die heute noch als eine der besten Biennalen überhaupt gilt. In Berlin hat Szeemann ein Werk des jungen Künstlers Lori Hersberger gesehen, das ihn beeindruckte. An ihn denkt er, als ihm noch ein Vertreter aus der Schweiz fehlt, und ruft ihn an. Als Hersberger den Hörer in die Hand nimmt, hört er eine Stimme in nuscheligem Schweizerdeutsch: »Wir sind hier in Venedig. Ich habe Ihre Ausstellung in der Akademie der Künste gesehen. Können Sie nicht morgen nach Venedig kommen und etwas mit Teppichen machen? Ach ja, ich bin der Harry.« So oder ähnlich ist das Gespräch verlaufen. Hersberger stand damals gerade in einem Copyshop vor einer Kopiermaschine, sortierte seine Dokumentation und brauchte einen Moment, um zu verstehen, wer da genau weshalb angerufen hatte. »Dann ging alles sehr schnell.« Am übernächsten Tag stand Hersberger neben Szeemann in Venedig und begeisterte ihn für seine Idee zur schwimmenden Installation »Archaic Modern Suite«. Der Auftritt mit diesem Werk, das in einer Reihe ähnlicher Installationen aus dieser Zeit steht, katapultierte Hersberger quasi aus dem Nichts in eine internationale Aufmerksamkeit und bescherte ihm nun Besuche von Galeristen in seinem Atelier. Als bedeutendste davon sicherlich die Galerie Thaddaeus Ropac, die ihn in sein Programm aufnahm und ihn in die Reihe namhafter Größen wie Baselitz, Beuys und Warhol reihte. Dass Hersberger unlängst mit der Malerei begonnen hatte, entpuppte sich als Glücksfall: Die Bilder machten ihn nun auch für den Markt interessant und ermöglichten ihm – nebst dem Zuspruch Szeemanns, der ihn auch in den folgenden Jahren immer wieder unterstützte –, nun auch eine ökonomisch erfolgreiche Karriere zu starten.
Aus der Ferne gemahnten seine Gemälde an den abstrakten Expressionismus, doch die bewusste Übertreibung mit Leuchtfarben, dieser Dreh ins Groteske und Ironische machten seine Bilder einzigartig. »Bekannt ist Lori Hersberger vor allem durch seine ortsbezogenen Arbeiten, von denen die Dutzenden schwimmenden Teppiche, die er an der letzten Biennale in Venedig auf das Wasser der Lagune legte, eines der schönsten Beispiele sind. Als Träger des Manor-Kunstpreises Basel 2000 konnte er im Museum für Gegenwartskunst Basel mit »Day-Glo Blues Conspiracy« seine erste Museumsausstellung einrichten. In gewissen Sinne arbeitet Hersberger auch im Museum für Gegenwartskunst in Basel ortsbezogen – er malt Bilder. In der bisherigen Arbeit Hersbergers stand die Malerei noch hinter den multimedialen Installationen zurück und stellte allenfalls ein Nebengleis dar, hier bearbeitet er nun mit bunten Leuchtfarben weiße Leinwände gleich meterweise.«2
»Die Kunst von Lori Hersberger ist synthetisch, sowohl in ihrer betont anorganischen Materialität als auch in ihrem Entstehungsprozess. Seine Kompositionen auf Leinwand bezeichnet er selbst als ‘Anti-Landschaften’. Zur belebten Natur haben sie keinen direkten Bezug – ganz im Gegenteil. Es sind fragmentierte Sehfelder, dissonant und hochenergetisch.«3 Das Drama der abstrakten Malerei wird von Lori Hersberger Ende der Neunzigerjahre so noch einmal aufgenommen und durchgespielt. Als reduktionistische Zurschaustellung von Oberflächen und der dialektischen Volte gegen die narrative Enge abstrakter Malerei. Seine Antwort sucht er im komplementären Ausdruck der Werke im Kontext des White Cubes, als Grenze des Flachen und dessen Auffaltung in den Raum.
Bis heute sind nebst Leuchtfarben Stahl, Glas und insbesondere Licht die bestimmenden Materialien von Hersbergers Schaffen. Denn ähnlich dem Schritt zur Malerei, nahm Hersberger das Vorhaben auf sich, sich der klassischen Plastik beziehungsweise der Skulptur zu widmen.
Anstelle des Malergestus, kommt nun der Gestus des Ein- und Aus-drucks ins Spiel. Seine Plastiken sind luftdicht geschweißte Körper aus Stahl oder Chromstahl, denen Luft entzogen wird. Das entstehen-de Vakuum im Inneren bewirkt, dass der Metallkörper jeweils an seiner schwächsten Stelle nachgibt und einbricht. Diese »Romanze zwischen Zufall und Absicht«, wie Hersberger den Prozess beschreibt, schafft Unikate, die dezidiert Kontrolle und Kontrollverlust thematisieren, aber auch aufzeigen, wie die Stabilität des Körpers im Endresultat überhaupt erst durch die Verformung der einfachen geometrischen Figur erzielt wird. Nicht zuletzt liefern seine deformierten Skulpturen auch Hinweise auf die bedeutsame Frage, wann ein Kunstwerk vollendet ist.
Hersbergers Werke wurden in zahlreichen Institutionen und Museen gezeigt und sind in vielen Sammlungen in der Schweiz, in Europa und den Vereinigten Staaten vertreten. Ebenso findet sich im öffentlichen Raum eine Reihe von Installationen. In seiner bisher größten Einzelausstellung mit dem Titel »Phantom Studies« von 2008 im Musée d’art contemporain in Lyon präsentierte er erstmals die deformierten Skulpturen im Großformat, kombiniert durch umfangreiche Lichtinstallationen aus Neon. Wie in der Malerei, greift der Künstler in dieser Ausstellung wiederum Themenkomplexe wie hybride Emotionalität oder die semantische Doppelnatur von Phänomenen wie das Phantomhafte auf. Strategien der Spiegelung, Verdoppelung, Vervielfachung verstärken nicht nur bildimmanente Rezeptionsweisen, sondern betonen ebenso die Gegensätze zwischen der Welt der Illusion und der Wirklichkeit, in deren Zwischenwelt sich aber immer auch neue Räume öffnen. In diesem Sinne sind sei-ne Werke gleichzeitig sublim und grotesk, eine Verbindung, die in seinen Ausstellungen immer wieder deutlich zum Ausdruck kommt.
Ohne Licht würde unser Universum nicht existieren, und Licht bildet letztlich auch immer die entscheidende Voraussetzung für unsere visuelle Wahrnehmung. Kunstlicht, wie in Hersberges Neoninstallationen, ist daher in der Bildenden Kunst immer ironisch. Licht aus, und der ganze Zauber ist weg. »Wie kaum ein anderes Medium hat das elektrische Licht in den letzten einhundert Jahren unseren Lebensraum revolutioniert und demokratisiert. Vielfältigste Bereiche des Alltags, des Berufslebens, des Konsums, der Medienwelt usw. haben sich durch das künstliche Licht verändert – so auch die Kunst. Vom Flugzeug oder Satelliten aus betrachtet wirkt die nächtliche, illuminierte Erde selbst wie ein Sternenhaufen. Lichtwerke wurden zu künstlichen Sternen, wodurch sich die Welt des Sichtbaren und das Leben der Menschen insgesamt verändert hat.« Neonkunst gehört seit 20 Jahren zu einer wichtigen Werkgruppe in Hersbergers Schaffen. Erst operierte er mit ironisch konnotierten Schriften, später hat er das Neonlicht hauptsächlich zur Akzentuierung der Ausstellungsarchitektur und der sich im Raum befindenden Objekte eingesetzt. »Neonkunst ist faszinierend, verführerisch, übertreibend, aggressiv, überflüssig und modern. Sie steht als Medium seit nunmehr rund fünfzig Jahren geradezu exemplarisch für das »Sensationelle« in der Bildenden Kunst.«
»Lichtkunst mit Neon ist die vielleicht artifiziellste aller Kunstmedien. Auch wenn die Technik heute von LED vom Markt verdrängt wird, in der Kunst hat sie immer noch ihre Daseinsberechtigung. Sprechen wir von Lichtqualität und haptischer Präsenz, bleibt die Wirkung von klassischem Neongas betreffend Farbemotionen unübertroffen. Kein anderes Medium in der Kunst repräsentiert Großartigkeit und Banalität in der Kunst auf eine solch’ überzeugende Weise.«
Ein besonders gelungenes Beispiel stellt dabei Hersbergers Werk »Sunset 164« von 2006 dar. Es zeigt einen stilisierten Sonnenuntergang mit zerschlagenen Glasplatten im Vordergrund, das, je nach Betrachterstandpunkt, die Halbkreise aus Neonkonturen zu einem gebrochenen Ganzen zusammenfügt. »Hersbergers ambivalente Konstellationen sind zugleich irritierend und anziehend. Es sind verletzliche Bilder, die Hersbergers Auffassung, dass Kunst heute einzig noch fragmentarisch oder aus Fragmenten zusammengesetzt bestehen kann, entsprechen. Sie strahlen eine überwältigende Empfindung von Freiheit und Optimismus aus, gleichzeitig aber sind sie voller Melancholie – es sind Zeugen des verlorenen Glücks, ungemein heutig und urban.«4
Eine Neuauflage dieses Werks wird der Künstler ab 12. März 2022 in der Gruppenausstellung »Macht!Licht!« im Kunstmuseum Wolfsburg zeigen.
1 https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Kunstwerk_im_Zeitalter_seiner_technischen_Reproduzierbarkeit
2 Aus: Kunstforum International Bd.154: Lori Hersberger »Day-glo Blues Conspiracy«, Museum für Gegenwartskunst Basel, 22.2. – 6.5.2001 (Text: Dora Imhof) https://www.kunstforum.de/artikel/lori-hersberger/ Dora Imhof, Lori Hersberger, in: Kunstforum International, Bd. 154, Mai-April 2001, S. 448
3 Aus: «Malerei als besser aussehender Attentäter», Essay von Gianni Jetzer; Lori Hersberger, «New Roots And Paintings», Museum für Gegenwartskunst Basel der Öffentlichen Kunstsammlung Basel und der Emanuel Hoffmann-Stiftung; Schwabe & Co. AG Verlag Basel (2001), ISBN 3–7965-1725–0
4 Aus: »Frozen Beauty« »Cœur Synthétique« Monografie (2005), Text v. Mirjam Varadinis, Kuratorin Kunsthaus Zürich