Barbara Holzknecht und Kurt Moser
Als die Fotografie das Licht der Welt erblickte, ging es den Pionieren dieser Technik nicht in erster Linie um Fragen der Wiedergabe von Wirklichkeit oder deren Manipulation, sondern um die grundlegenden Themen der Haltbarkeit und Vervielfältigbarkeit des fotografisch generierten Bildes. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war das zunächst gewonnene Bild eine flüchtige Angelegenheit und stets in Gefahr, zu verschwinden. Die unterschiedlichsten Verfahren wurden entwickelt, um den Prozess der Bildgewinnung durch einen Prozess der Stabilisierung zu ergänzen. Eine sehr frühe und damals sehr praktikable Lösung war das Kollodiumverfahren in Kombination mit Glasplattennegativen, welches die belichtete Negativplatte zum Positiv erklärte und damit zum einzig vorhandenen Unikat, gleichsam als Objekt mit fotografischer Engrammierung machte – die sogenannte Ambrotypie. Das griechische Wort ambrotos für unsterblich sollte seine Wirkung tun: auch heute wird diese Technik in einem aktualisierten Prozess eingesetzt.
Die Frage der Motivik, also des ausgewählten Bildsujets nahm gleichermaßen einen Weg vom Experiment zur bewussten Entscheidung: hatte man in den ersten Tagen der Fotografiegeschichte auf zufällig Vorgefundenes wie den Blick aus dem Fenster oder einen Innenhof, eine Haustüre, eine Gebäudeecke gesetzt, so entwickelte sich bald die Korrelation von Technik und Motiv. Was mit welcher Technik am geeignetsten umgesetzt werden konnte, wurde zum bevorzugten Sujet. Somit ging mit der möglichen Schnelligkeit der Bildherstellung auch eine Aufmerksamkeit für den Faktor Zeit einher: schnelle Bilder, schnelle Szenen – die Street Photography wäre ohne Kleinbildkamera, Rollfilm, neue Objektive und raschen Filmtransport nicht möglich. Was aber, wenn die Zeit stillsteht? Hier gibt es nun als Gegenbewegung zur globalen Beschleunigung unserer Tage ganz generell eine andere Haltung: langsames Schauen, stille Bilder, gleichsam ewig gültige Ansichten. Was bisher der Malerei vorbehalten war, nämlich eine kontemplative und reflexive Wahrnehmung, konnte die gegenwärtige Fotografie nicht einlösen. Sie war zum rasanten Bilder- und Sensationslieferanten geworden; wie schnell sich Bilder in den Medien verbrauchen, stellen wir täglich in den Zeitungen, Magazinen und Reportagen, aber noch viel mehr in der pervertierten Mitteilungssüchtigkeit in den sozialen Medien fest. Und in der Tatsache, dass für diesen akzelerierten Bilderverschleiß nicht einmal mehr eine Kamera Verwendung findet: die ins Handy eingebaute Optik reicht aus – schnell fotografiert, schnell vergessen.
DER SCHATTEN DER ZEIT
Einer fundamentalen Umdeutung wurde nun eine der frühesten fotografischen Technologien unterzogen, die Ambrotypie; nicht mehr das Ringen um fotoimmanente Prozesse steht im Vordergrund, sondern die Möglichkeit, Wirklichkeit im Bild wiederzugeben. Was auf einer heutigen Ambrotypie erscheint, ist wahrhaftig und anwesend. Das Bild ist Garant für Wirklichkeit, ist das einzige, unikale Abbild einer vorhandenen Realität. Die Ambrotypie war um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine Errungenschaft: sie ist ein Direktpositivverfahren und verdankt die Bildherstellung einer auf die Glasplatte aufgebrachten Kollodiumschicht. Da es sich bei der belichteten Platte um ein Negativ handelt, wurde diese mit schwarzem Papier oder Samt hinterlegt und durch das Dunkelfeldprinzip der Schwarz-Weiß-Umkehrung als Positiv wahrgenommen. In jedem Fall ist bis heute auch in der aktuellen Anwendung der Ambrotypie das mittels Kamera generierte Bild ein Unikat, der Bildträger ist Glas und die belichtete Schicht ist mit schwarzer Materie belegt. Die sogenannte »Dunkelkammerarbeit« geschieht in der Kamera selbst, diese ist gewissermaßen selbst die Camera Obscura – der lichtlose Raum, in dem das Bild generiert wird. Somit muss direkt vor dem Motiv die Glasplatte präpariert, entwickelt und fixiert werden – ein fundamentaler Unterschied zur Technik des Fotogramms. Dagegen steht die Ambrotypie, die ihren wahrheitsreferierenden Charakter durch aufwändige Kamera- und Dunkelkammerarbeit generiert, aber ebenso wie das Fotogramm immer ein einziges Original hervorbringt. Das Dunkle, fast Schwarze der Ambrotypie-Bilder verdankt sich der extrem langen Belichtungszeit und den UV Anteilen von Licht; es bilden sich gleichsam die Schatten der Zeit ab. Das Künstlerduo Holzknecht/Moser, arbeitend unter dem Namen »Lightcatcher«, verwendet für die Anwendungen der Ambrotypie-Technologie schwarzes Kathedralglas aus Böhmen, das in sich eingeschwärzt wurde. Diese schweren Glasplatten werden in originalen Balgenkameras um 1900 und eigens entwickelten Kameras bearbeitet – direkt vor Ort, direkt vor dem Motiv.
Dies bedingt, dass die beiden Künstler mit einem umgebauten Lieferwagen und der großen Kamera zu ihren Bildsujets fahren: Landschaften, Menschen, ethnographische Objekte erwecken ihr Interesse und ihre subtile Aufmerksamkeit; die Dolomiten sind das Thema ihrer aktuellen Ausstellung im LUMEN Museum für Bergfotografie in Bruneck. Bergfotografie an sich ist ein breites und vielschichtiges Thema, gleichsam seit den frühen Tagen der Fotogeschichte. Oftmals waren es Tourengeher und Naturfreunde, die die ersten Fotos von bizarren Felsformationen, charakteristischen Gipfeln, stimmungsvollen Tälern und Hochebenen mitbrachten. Später waren oft Erosion und Zerstörung der Bergidylle durch menschliche Eingriffe Themen – gänzlich anders liegen die Intentionen von Lightcatcher, die sich fundamental auf die Grundcharakteristika ihrer gewählten Abbildtechnik besinnen: das Ewige und Unwandelbare, der Reichtum an Strukturen und Schattierungen sind für sie Thema und Motiv ihrer fotografischen Arbeit. Zeit bildet sich in diesen Bildern als ein Kontinuum ab, als eine Erfahrung, die der Betrachter im Anblick der Berge für sich überprüfen kann, eine Erfahrung gewissermaßen jenseits des Verstreichens von Zeit.
DAS BILD ALS ERFAHRUNGSRAUM
Die Ambrotypien von Lightcatcher sind mehr als bloße fotografische Dokumente. Sie eröffnen eine Art von Dreidimensionalität in der Wahrnehmung, die weit über das Sehen von planer Fotografie hinausgeht. Der Betrachter betritt einen Raum, in dem die Dimensionen von Vermessbarkeit und Zeit aufgehoben sind. Es ist etwas Unveränderbares, ewig Gültiges, das sich in dieser antiquierten und doch nun neu angewandten Technologie wiederfindet: der Eindruck eines unendlichen Raumes, in den der Rezipient eintritt und der durch die Anwesenheit, die Betrachtung eines schauenden Individuums das So-Sein des Bildes erst bedingt. Das Bild ist somit nicht »Ersatz« der Betrachtung des originalen Motivs (gleichsam wie im Sinne des 19. Jahrhunderts, das durch fotografische Alben und Kompendien die entlegendsten Weltgegenden vorführen und bekannt machen wollte), sondern mutiert zum autarken und authentischen Bilderlebnis. Das Bild der Natur ist nicht Surrogat für den Blick auf ein Gebirge, einen Berggipfel, sondern ist ein künstlerisches Werk, dessen Betrachtung und Erfahrung weit über das »Erkennen « eines Motivs hinausgeht; wie wir in einem Seerosenbild von Monet nicht das Abbild eines Teiches sehen, sondern ein impressionistisches Gemälde, das – anhand eines Motivs – die Sehgewohnheiten revolutionierte und das Bildersehen vom Gegenstand emanzipierte, so sind die Dolomiten-Ansichten von Lightcatcher sehr wohl Ansichten des bekannten Gebirgsmassivs – dennoch aber auch Bildwerke, die einen eigenen Erfahrungsraum für den Betrachter eröffnen: Tiefe und Intensität des Kolorit, feinste Strukturen und Abschattierungen, Konturierung und Modulation im fotografischen Bild lassen den Eindruck eines monumentalen Raumes entstehen und suggerieren dem Betrachter: Du bist mitten im Bild. Dabei wird – so beschreiben es die beiden Lightcatcher, Barbara Holzknecht und Kurt Moser – nicht das Bild manipuliert oder die Wirklichkeit zurechtgerückt, sondern eine zusätzliche Dimension im Bild freigelegt: »Wir fotografieren das Unsichtbare«, sagen sie über ihre Bilder, in denen sich die Schatten der Zeit und die Unauslotbarkeit des Raumes verfangen.
FOTOGRAFISCHE OBJEKTE
Die Fotografien von Lightcatcher sind demnach also nicht Fotos im üblichen Sinne, wie wir fotografische Werke zumindest seit dem Ende der Daguerreotypien kontextualisieren; seither nämlich ist das hauptsächliche Trägermaterial Papier. Nach der Pionier- und Experimentierphase der fotografischen Technik um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren es vor allem alle Arten von beschichteten Papieren, die einer Belichtung unterzogen wurden. Erst etwa ein Jahrhundert später war es eine avantgardistische Bildrhetorik, die fotografische Prozesse auf anderen Materialien anwandte oder sich einer tradierten Technologie neu besann: unter neuen Gesichtspunkten wurde Glas als Bildgrund verwendet. Einem Foto kam auf einer solchen Trägermaterie eine andere, neue, haptische Qualität zu, die belichtete Glasscheibe ist durch ihre Stärke und ihre Trägerkonstruktion gleichzeitig immaterielles, transparentes Bild und feste, dreidimensionale Materie. Die Fotografie wird zum Objekt, das Bild erhält skulpturale Qualität. Diese Eigenschaften im Dialog von unkörperlichem Bild und körperhafter Trägersubstanz werden in den Arbeiten von Lightcatcher zum ausschlaggebenden Moment: ihre Fotografien nähern sich nicht nur durch ihre dichte Schwarz-Weißstringenz und ihre nahsichtige Präzision einer reliefierten Oberfläche an, sondern sie tendieren gleichsam zu einer objekthaften, materiellen Präsenz – Das Bild verlässt die Sphäre der Zweidimensionalität und tangiert die Raumhaltigkeit einer skulpturalen Gestaltung. Etwas von der Monumentalität und Massivität der Bergbilder von Lightcatcher manifestiert sich somit in den Bildtafeln, in denen ein untrügliches Bild der wahren Naturgegebenheiten auf einen Betrachter trifft, der gleichsam in einem Bildraum sich umblickend etwas Neues, Immaterielles erfahren kann: eine Wirklichkeit für sich, ein fotografisches Bild zwischen Realität und Fiktion, zwischen dem getreuen Abbild und der künstlerischen Gestaltung.