Ich halte mich für einen pathologischen Optimisten

Ich kam zur Eröff­nung der Aus­stel­lung von Lean­dro Erlich im Mal­ba nach Bue­nos Aires, die einen Besu­cher­an­drang ver­zeich­ne­te, den ich noch nie in einem öffent­li­chen Muse­um gese­hen hat­te. Zum Glück war ich tags zuvor bei der Pre­view anwe­send, sonst hät­te ich über­haupt nichts sehen kön­nen: Lean­dros Arbei­ten ver­lan­gen die akti­ve Teil­nah­me des Betrach­ters, aber man kann sie nicht in einer Men­schen­men­ge „erle­ben“. Die Aus­stel­lung trägt den Titel Limi­nal, ein Schlüs­sel­wort, das den Limen, die­sen Ort in Raum und Zeit, aber auch das Den­ken, das die Gren­ze der Wahr­neh­mung dar­stellt, sehr gut beschreibt. Die Schwel­le, die Gren­ze also, die den Durch­gang ermög­licht und daher eine Bedin­gung der Begeg­nung, der Kom­mu­ni­ka­ti­on, aber auch der Ruhe sein kann.

Für Erlich befin­det sich das Kunst­werk in die­sem Limi­nar-Grenz­be­reich und ist eine stän­di­ge Auf­for­de­rung an den Betrach­ter, eine Schwel­le, genau das, was wir zwi­schen dem, was wirk­lich ist oder von dem wir glau­ben, dass es sei, und dem, was ima­gi­när ist, über­schrei­ten müs­sen. In die­sem Grenz­be­reich gibt es eine par­al­le­le Rea­li­tät, eine Über­gangs­stu­fe zwi­schen dem, was wir den­ken, dem, was wir wis­sen, und dem, was wir sehen, sowie dem, wor­an wir uns erin­nern, alles ver­mischt und auf­ge­teilt. Denn wenn eines wahr und real ist, und viel­leicht ist dies das ein­zig Gewis­se, das über Lean­dro Erlich gesagt wer­den kann, dass sei­ne Arbeit die Men­schen dazu drängt, mit den ande­ren zu inter­agie­ren, denn jedes Mal, wenn man eines sei­ner Wer­ke betrach­tet, wird man auch beob­ach­tet und unbe­ab­sich­tigt foto­gra­fiert, wäh­rend man es betrachtet.

Ich hat­te noch nie so vie­le Men­schen in einer Aus­stel­lung für zeit­ge­nös­si­sche Kunst mit dem Han­dy in der Hand gese­hen, die sich selbst oder ande­re foto­gra­fier­ten, wäh­rend sie ein Kunst­werk betrach­ten, und dann den Drang ver­spür­ten, das Foto die­ser Begeg­nung zu ver­öf­fent­li­chen und auf Insta­gram zu tei­len (wie vie­le hun­dert Fotos gab es in die­sen Tagen vom „Swim­ming Pool“ – das berühm­tes­te Werk von Erlich auf Social Media); ich hat­te noch nie im Leben am eige­nen Lei­be die­ses Gefühl der zeit­li­chen Deplat­zie­rung und die­se geis­ter­haf­te Vor­stel­lung vom Erschei­nen von Kind­heits­er­in­ne­run­gen erlebt, die plötz­lich ent­ste­hen, wenn man im Klas­sen­zim­mer („Class­room“) sitzt, wäh­rend unbe­kann­te Schul­ka­me­ra­den an der Sei­te sit­zen; wenn sie plötz­lich auf­tau­chen und ver­schwin­den, genau wie die Erin­ne­run­gen; ich hat­te noch nie die­ses Gefühl der Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit emp­fun­den, das einen über­kommt, wenn man vor einem Spie­gel beim Fri­seur sitzt und nicht sein eige­nes Spie­gel­bild sieht, son­dern das eines ande­ren („Hair Salon“); ich hat­te nie zuvor die ver­meint­li­chen Nach­barn durch das Fens­ter beob­ach­tet, an dem ich die Roll­lä­den her­un­ter­ge­las­sen hat­te, wobei ich mir bewusst war, dass ich Vide­os betrach­te­te, die die ange­bo­re­ne Nei­gung, das Leben ande­rer aus­zu­spio­nie­ren, auf magi­sche Wei­se sti­mu­lie­ren („The View“). Kurz gesagt, die­se ers­te antho­lo­gi­sche Aus­stel­lung von Lean­dro Erlich in sei­ner Stadt, Bue­nos Aires, im bedeu­tends­ten Muse­um für latein­ame­ri­ka­ni­sche Kunst, im Mal­ba, hat mei­nen Gedan­ken bestä­tigt, von dem ich im Hin­blick auf die von mir kura­tier­te Aus­stel­lung in Bolo­gna im Ora­to­rio di San Filip­po Neri geschrie­ben hat­te, die wäh­rend der Arte Fie­ra mit dem Titel „Coll­ec­tion de nuages“ und in Zusam­men­ar­beit mit der Gal­le­ria Con­ti­nua ver­an­stal­tet wur­de: näm­lich dass in Erlichs Werk eine spie­le­ri­sche und kind­li­che Kom­po­nen­te steckt, die das Gewöhn­li­che auf­bricht, es in Außer­ge­wöhn­li­ches ver­wan­delt und eine posi­ti­ve emo­tio­na­le Reak­ti­on erzeugt.

Lean­dro Erlich, Por­trait für Guyot

Das Wort Ver­gnü­gen könn­te miss­ver­ständ­lich sein, aber man braucht nur die Men­schen vor sei­nen Wer­ken zu beob­ach­ten, und wird über­rascht sein, wie viel Spaß sie haben und wie sie Kom­men­ta­re, Ges­ten und Bil­der aus­tau­schen. Ande­rer­seits erklär­te der­sel­be Künst­ler in einem Inter­view in der argen­ti­ni­schen Zeit­schrift Gen­te: „Ich hal­te mich für einen patho­lo­gi­schen Opti­mis­ten. Ich stel­le mir ger­ne vor, dass die Rea­li­tät, in der wir uns bewe­gen, kei­ne begrenz­te Situa­ti­on oder ein unver­än­der­li­ches und star­res Ele­ment ist. Des­halb lie­be ich es, der Ent­frem­dung der Rea­li­tät zu ent­flie­hen und mit dem Ver­stand und der Wahr­neh­mung des Betrach­ters zu spie­len, um all­täg­li­che Räu­me neu zu defi­nie­ren“. Das „Spiel von Erlich“ hat mit jenem magi­schen Raum zu tun, der für Spie­le typisch ist, in denen die Regeln und die Umgangs­for­men des All­tags auf­ge­ho­ben sind, um in eine ande­re Erfah­rung ein­zu­tre­ten, die durch die Mehr­deu­tig­keit und die Wir­kung des Schwin­del­ge­fühls gekenn­zeich­net ist, das einen aus dem Gleich­ge­wicht bringt.

Roger Cal­lois defi­niert in sei­nem berühm­ten Buch „Die Spie­le und die Men­schen“ das Spiel als eine freie, abge­trenn­te, unge­si­cher­te, unpro­duk­ti­ve, gere­gel­te und fik­ti­ve Akti­vi­tät: Wir könn­ten die­se Wor­te für die Wer­ke von Lean­dro ver­wen­den, der es liebt, Gedan­ken von Gren­zen, Frei­heit und Erfin­dung mit­ein­an­der zu ver­mi­schen. Cal­lois spricht von der Pai­día (und schon der Begriff bringt uns zurück in die Welt der Kin­der) und ver­bin­det Ver­gnü­gen mit Spaß im eigent­li­chen Sin­ne des Wor­tes: Was in der Pai­día Ver­gnü­gen macht, ist das Aus­bre­chen, die Über­ra­schung, die Neu­heit. Cal­lois warnt uns daher, dass man im Ver­gnü­gen des Spiels ein dop­pel­tes oder ambi­va­len­tes Sze­na­rio fin­den kann, in dem sowohl Ludus als auch Pai­día vor­han­den sind, wobei das eine in das ande­re rut­schen kann. Ein Sze­na­rio, das auf eine Bewe­gung hin­weist, die nicht auf einen ein­zig­ar­ti­gen Sinn redu­ziert wer­den kann, son­dern insta­bil und nicht ver­ein­fa­chend ist, die zur eigent­li­chen Erfah­rung des Spiels zu gehö­ren scheint. Und dies scheint mir Erlichs Spiel zu sein, ein magi­scher Raum, in dem man unter Auf­he­bung der Regeln des All­tags ein- und aus­stei­gen kann: Es ist kein Zufall, dass der Künst­ler von Spie­geln, Laby­rin­then und Spie­len mit opti­scher Täu­schung fas­zi­niert ist, deren Tricks nie ver­steckt sind, im Gegen­teil, sie wer­den der Öffent­lich­keit gezeigt und for­dern zur Teil­nah­me auf. Lean­dro unter­strich im Gespräch mit dem Kura­tor der Aus­stel­lung, Dan Came­ron, der die antho­lo­gi­sche Aus­stel­lung in der Mal­ba tat­säch­lich eine Stun­de vor dem Öff­nen der Türen des Muse­ums eröff­net hat, wie wich­tig es ist, dass das Kunst­werk sei­nen Trick zeigt, denn nur auf die­se Wei­se kann man die Über­ra­schung hin­ter­fra­gen: „Mei­ne Arbei­ten – so sagt er – erzeu­gen kei­ne Furcht und Angst, nur Konfusion.“

Die Kon­fu­si­on ist daher der Schlüs­sel zu Erlichs Vor­ge­hens­wei­se, weil sie –gemäß ihrer ety­mo­lo­gi­schen Bedeu­tung, dem latei­ni­schen con zusam­men und fusus geschmol­zen – auf eine Des­ori­en­tie­rung hin­weist. In die­sem Zusam­men­hang fährt Erlich fort: „Das Bild des Spie­gels ist sehr inter­es­sant, weil es eine Fra­ge nach der Exis­tenz auf­wirft. Wenn ich vor dem Spie­gel einen ande­ren anstel­le von mir selbst sehe, kann mich das ver­wir­ren. In die­sem Fall drückt das Werk das Kon­zept aus, dass der Eine immer der Ande­re ist. In die­ser Inter­ak­ti­on möch­te ich her­aus­fin­den, wie Men­schen mit ande­ren Men­schen inter­agie­ren und eine ech­te Ver­bin­dung zwi­schen Frem­den herstellen“.

In Erlichs Kon-fusi­on gibt es kei­ne Unord­nung, wie Dan Came­ron in sei­nem Ein­füh­rungs­text im Aus­stel­lungs­ka­ta­log schreibt: „Man kann sagen, dass Lean­dros Werk das Wort ‚Ord­nung‘ sowohl in sei­ner Auto­ri­tät als auch in sei­ner Orga­ni­sa­ti­on in Fra­ge stellt. Es tut dies mit Tücke, weil die­se kei­ne Unord­nung schafft, wie es offen­sicht­lich wäre, son­dern sie ersetzt. Die Auto­ri­tät scheint erhal­ten zu blei­ben und auch die Orga­ni­sa­ti­on. So scheint am Ende das Unmög­li­che mög­lich, das Absur­de wird ratio­nal und das Bekann­te wird in Fra­ge gestellt, bis es das Unbe­kann­te berührt.“

All dies, um zu sagen, dass in der Kon-fusi­on von Lean­dro Ord­nung, Prä­zi­si­on und Sym­me­trie herr­schen: Wenn Sie den „Hair Salon“ betre­ten, wird nichts dem Zufall über­las­sen, die Anord­nung der Stüh­le drängt Sie, sich zu set­zen, die Plat­zie­rung der Gegen­stän­de des Fri­seur­sa­lons lässt Sie glau­ben, dass wirk­lich jemand kommt, um Ihnen die Haa­re zu schnei­den oder zu waschen. Alles scheint so, als ob es wirk­lich ein Schön­heits­sa­lon wäre, weil alles echt ist. Aber sobald Sie sich hin­set­zen und sich anschau­en, um nach Ihrem Spie­gel­bild zu suchen, fin­den Sie einen ande­ren, einen Frem­den, der Sie ansieht und lächelt, weil er das glei­che Gefühl der Des­ori­en­tie­rung empfindet.

Einen Augen­blick spä­ter löst die Über­ra­schung das Lächeln aus, manch­mal sogar Geläch­ter, und jeder greift zum Han­dy, um Bil­der zu machen, aber dann ist der Augen­blick ver­gan­gen und man ist Schau­spie­ler in einem Dreh­buch gewor­den, das der Künst­ler selbst ent­wor­fen und geschrie­ben hat. Lean­dros Wer­ke, von den melan­cho­lischs­ten bis zu den amü­san­tes­ten, von den poe­tischs­ten bis zu den illu­sio­nis­tischs­ten, erzeu­gen daher eine Ein­la­dung zur Teil­nah­me, und wir kön­nen uns als ech­te Schau­spie­ler eines Films in den räum­li­chen Kon­tex­ten und in der Erzäh­lung iden­ti­fi­zie­ren und ent­de­cken, dass sich die­se gera­de unse­ret­we­gen jedes Mal ver­wan­deln. Man kann also unter­schied­li­che Pools in ver­schie­de­nen Muse­en vor­fin­den, mehr oder weni­ger groß, drau­ßen oder drin­nen, per­ma­nent oder für ein paar Mona­te ein­ge­rich­tet; in Form und Grö­ße unähn­li­che Wol­ken in Bolo­gna, Bue­nos Aires, Peking, Paris, Tag- oder Nacht­flü­ge, ande­re Samm­lun­gen von Wol­ken, neue Ober­flä­chen von Spie­gel­häu­sern… Lean­dros Wer­ke rei­sen um die Welt in Erwar­tung neu­er archi­tek­to­ni­scher, geo­gra­fi­scher, sozia­ler und mensch­li­cher Kon­tex­te. Nach der Eröff­nung in Bue­nos Aires reis­te der Künst­ler nach Peking, wo er sei­ne groß­ar­ti­ge Aus­stel­lung im Cafa Art Muse­um eröffnete.

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geschrieben von

Sie ist Professorin für Geschichte und Methodik der Kunstkritik an der Akademie der bildenden Künste in Bologna. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit zeitgenössischer Kunst und kuratiert Ausstellungen im öffentlichen und privaten Raum. Sie hat bereits zahlreiche Bücher und Fachartikel veröffentlicht. Regelmäßig schreibt sie für den Corriere di Bologna, einer regionalen Publikation des Corriere della Sera. Außerdem ist sie im Vorstand der Istituzione Bologna Musei.

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