JOSE NEY MILÁ ESPINOSA
Nach der Ausstellung „The New Generation: Two Decades of Contemporary Cuban Photography from the Island“ im März 1994, die in der Richmond Hall in Houston veranstaltet wurde, veröffentlichte die Kritikerin Susan Kalil ihre eindrucksvolle Rezension mit dem Titel Sozialistischer Surrealismus. In dem Bericht erläutert sie die wesentlichen Veränderungen der kreativen Strategien, die von kubanischen Fotografen in ihren aktuellen Beiträgen umgesetzt werden. Die Bilder, die in ihrem Wesen von einer ungewöhnlich expressiven und traumhaften Mehrdeutigkeit geprägt waren, entzogen sich in jeder Hinsicht den Themen und dokumentarischen Konventionen der kubanischen Fotografie. In den Jahren nach dem revolutionären Triumph von 1959 erlangte diese Fotografie anhand einer umfassenden ikonographischen Sammlung, durch Portraits triumphierender Anführer sowie großer Volksversammlungen die Anerkennung, die ihr gebührte. Ein entscheidender Meilenstein, dessen sich Kalil damals womöglich bewusst gewesen ist, war der Wirbel um die symbolische Auseinandersetzung und Entstehung einer Art Autonomie, die ab den späten 1970er Jahren bis heute das Profil der künstlerischen Fotografie in Kuba veränderte. Diese Veränderung betraf sowohl die ersten ikonoklastischen Ausführungen innerhalb der Dokumentarfotografie und ihrer Traditionen als auch den dekonstruktiven Ausbruch der zeitgenössischen Kunst und ihrer fachübergreifenden Verfahren.
![Portrait_jose ney milá espinosa](https://archiv.stayinart.ch/wp-content/uploads/2021/06/Portrait_jose-ney-mila-espinosa--1600x1079.jpg)
Mitte der neunziger Jahre glich das Bild der sozialen Landschaft in Kuba – der letzte Zufluchtsort einer Weltutopie des 20. Jahrhunderts – keineswegs der heroischen Aufzeichnung einer sieg-reichen Revolution. Gekennzeichnet von politischen und moralischen Widersprüchen nach dem Fall der Berliner Mauer und belastet durch die materielle Unterversorgung in der sogenannten „Sonderperiode in Friedenszeiten“ erschuf die Alltäglichkeit ihre eigenes, neuartiges und imaginäres Narrativ sowie einen Chronotopos der postsowjetischen Epoche, der den Zusammenhang eines einzigartigen Zeitverlaufs und Ortes in dem Land charakterisierte. Die Fotografen jener Jahre – vor allem diejenigen, die mit der Kamera in der Hand durch die Straßen des Landes herumstreiften – fanden in der aufgenommenen Paradoxie und in den Absurditäten des Alltags den Schlüssel dafür, der Gesellschaft, die an der Schwelle ihrer Gegensätze festgefahren war, einen „Körper und ein Ebenbild“ zu verleihen. In der Allegorie und bei anderen Annäherungen an die Beschreibung des Status Quo fanden die Fotografen eine Möglichkeit, fotografische Dokumentationen zu führen, die es ihnen im Rahmen und fernab des offiziellen Bilds im kompakten politischen Block erlaubte, neue Erzählungen zu erschaffen.
Im Hinblick auf den Epos aus dem Archiv der 1960er Jahre nutzten die Fotografen die ikonoklastische Kraft der Metapher, um sich von dem spürbaren Gewicht der Geschichte zu befreien. Das „Durchsuchen“ von geheimen Palimpsesten der Stadt und verborgener Ebenen entwickelte sich zu einer alternativen Vorgehensweise, um sich nicht mehr vor der Zeitgeschichte und der Gesellschaft mit all ihren Ursachen und Verläufen zu positionieren. Vielmehr bot diese Praxis eine zeitlose Beziehung zu den Archetypen und förderte Mythen und Trugbilder sowie Tarnung und Maskerade, die als befreiende Formen des kollektiven Unbewussten verstanden wurden und neue kognitive Erfahrungen hervorzurufen vermochten.
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José Ney Milá (Havanna, 1959) ist einer der erfahrensten Begründer dieser kreativen Bewegung. Es handelt sich dabei um einen Trend oder Chronotopos des „Surrealismus“ in der kubanischen Fotografie jener Jahre. Sein Erstvertrag als Labortechniker bei der Zeitung Tribuna de la Habana ebnete ihm den Weg des Fotojournalismus und ermöglichte ihm über mehrere Jahre die Arbeit als angestellter Fotograf. Doch die Bilder, die Gegenstand seines künstlerischen Projekts in den neunziger Jahren waren (einige dieser Bilder werden in diesem Text dargestellt), weichen erheblich von der denotativen Pressesprache ab und im Allgemeinen von dem Wesen dieser Art fotografischer Dokumentation, die in jenen Jahren als Maß für den ästhetischen Wert und als Philosophie des Fotografierens galt. Vielmehr dienen diese Bilder als Anregung zur Selbstreflexion oder um sich von althergebrachter Symbolik, Inhalten und der wahrgenommenen Rationalität vorhergehender Traditionen zu lösen.
In Serien wie Los románticos ángeles de la tierra (1989–1999) neigt José Ney seine Kamera in einem spitzen Winkel zum Motiv und schwenkt sie rechtwinklig zum unteren Bereich der Szene. Und zwar genau dorthin, wo der Blick auf die Erde mit ihren tellurischen Mysterien fällt. In dieser eigentümlichen Unterwelt der Beziehungen und Verhaltensweisen werden gewöhnlich die Füße und Schuhe (das andere Ich einer jeden Person) der Passanten in Szene gesetzt. In seinem prägnanten Bildausschnitt wird die Ansicht in Nahaufnahmen aufgeteilt. Auf diese Art und Weise werden die zusammenhängenden Markierungen auf ein Minimum reduziert und nehmen somit weniger Einfluss auf das Bild. Der Fotograf porträtiert die Füße der Menschen und dokumentiert durch sie jene „anderen Städte“ und das scheinbar unsichtbare „andere Land“: ein Land, das mit den Steinen des Archetyps wieder aufgebaut wurde und in unbestimmter Zeit durch aufeinanderfolgende Assoziationen von Symbolen und Zeichen, die einen emotionsgeladenen, animistischen oder anthropomorphischen Ursprung haben, wiederhergestellt wurden und die den Betrachter dazu anregen, die gemeinsame Sache auf neue Art und Weise zu interpretieren.
Von diesem spielerischen Ausgangspunkt des Versteckens-und-Enthüllens geht der Foto-graf erneut auf die Reise durch die Szenen eines Landes, das durch das repräsentative Gewicht geprägt ist. Die Szenen werden von dem Fotografen mit der scharfsinnigen Intelligenz des Humors festgehalten. Diese Verspieltheit spiegelt zum Einen Ironie und Zuneigung, alltägliche Vertrautheit und kritische Distanz wider und zum Anderen in vielen Fällen die Befreiung – jedoch vor allem Offenbarung. José Ney „tritt in die Fußstapfen anderer“ und fotografiert als „Individualist“. Er bevorzugt eine Perspektive, die nicht den üblichen Techniken und der ausdrucksstarken Eigenschaft eines Ereignisbildes entspricht. Das Bildarchiv seiner Abwandlungen rekonstruiert das Profil des einfachen Bürgers und Landsmannes in einem intuitiven Porträt. Dieses Bild entzieht sich den sozialen Masken, welche einst die Anführer, Arbeiter und Bauern in den großen Auflagen der kubanischen Presse stärkten. Seine Bilder verzaubern die einfachen Gegebenheiten trivialer Ereignisse – dazu werden Füße – die von Da Vinci als ein „Meisterwerk der Technik und als Kunstwerk angesehen wurden“- zum Protagonisten des Bildes und zum Gesprächspartner des kollektiven Unbewussten. Die Füße dienen als Mittel für unzählige Darstellungen – sei es literarisch, mythologisch oder traumhaft – die durch Analogien zum Leben erweckt werden und letzt-endlich die Besonderheiten einer Zeit ausdrücken, in der alle Spannungen kreativ gelöst wurden.
Mit dieser „raffinierten Perspektive“ kann der Fotograf beispielsweise die grenzenlose Welt von Kindern und Jugendlichen veranschaulichen, die mit ihren erstaunlichen Fähigkeiten Schiffe aller Art erfinden und mit diesen dann die Stadt erkunden; oder kafkaeske Visionen in den Vitrinen der Geschäfte in Havanna in Zeiten materieller Knappheit, die wahre Dioramen für den Improvisationswillen des zuständigen Designers sind. Das Erscheinungsbild von Füßen verbindet uns mit dem universellen Repertoire archaischer Symbole, die in den Archiven so vieler Kulturen vorkommen. Sie verbinden uns unmittelbar mit der Erde und im Unterbewusstsein mit dem Ursprung aller Dinge. Einige dieser Bilder prallen bei dieser Ausführung zeitlos oder sichtbar aufeinander abgestimmter Assoziationen auf den Chronotopos der „Sonderperiode“. Ein Beispiel hierfür ist ein Bild, auf dem die Schuhe von drei Landarbeitern dargestellt sind – dieses Bild ruft die Erinnerung ins Gedächtnis, schwere wetterfeste Stiefel zu tragen, oder wenn solche nicht vorhanden sind, stattdessen zu improvisieren und fragiles Schuhwerk herzu-nehmen, wie sie jugendliche Mädchen an ihrem Geburtstag nutzten.
Andere Aufnahmen lassen auf einen einzigartigen Augenblick in der kubanischen Ge-schichte der letzten Jahrzehnte schließen, als mythische und religiöse Praktiken nach mehreren Jahren der Distanzierung und Ausgrenzung im öffentlichen Raum wieder in den Vordergrund gelangten. Diese Bilder öffnen uns die Türen des Kontinuums an den Knotenpunkten zwischen kulturellem Erbe, überlieferten Traditionen und dem religiösem Gefühl in Kuba. Zu dieser Gruppe gehört das Foto mit dem barfüßigen Motiv, das hoch über einer Krippe ragt – man könnte meinen, dass es sich um den echten Gulliver in Lilliput handelt. Die Krippe wird von einer Legion biblischer Figuren bevölkert, die sich in einer Art chaotischem und unmöglich zu entschlüsselnden Zauber zu versammeln scheint. Oder ein weiteres Foto, das in einer Großaufnahme einen zeremoniellen Tanz afro-kubanischer Kulte mit dem dazugehörigen ständigen Begleiter abbildet: nämlich die Füße einer Frau, die ihre Tango-Tanzschuhe und sexy Vaudevilles-Mädchenstrümpfe der dreißiger Jahren trägt.
José Ney hat nie aufgehört, mit Leidenschaft zu fotografieren. Seine lange Flaneur-Reise durch die Straßen der Welt hat ihn von der Momentaufnahme zu anderen künstlerischen Tätigkeiten wie abstrakter Komposition und Installation geführt. Sein Fotoarchiv der neunziger Jahre ist – zusammen mit der Arbeit an-derer Künstler seiner Generation – in die Geschichte der zeitgenössischen kubanischen Kunst eingegangen und ist eines der faszinierendsten ikonischen Abenteuer der Dokumentarfotografie auf der Insel: die Suche nach neuen Motiven, welche die heterogene Visionen der Realität aufrechterhalten können; oder die mithilfe „kurzer Geschichten“ die Wahrnehmung der offiziellen Geschichte sowie die vermeintliche Transparenz großer Erzählungen in Frage stellen.