In Zeiten der gefälschten Nachrichten und alternativen Fakten reagieren die Kunstschaffenden durch kritisches Denken, neue Wege der Kontextualisierung und kreative Vorschläge, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die 58. Kunstbiennale in Venedig zeichnet sich nicht nur durch die einzelnen nationalen Pavillons aus, sondern vor allem durch die thematische Ausstellung im italienischen Pavillon der Giardini und im Arsenale von Venedig.
„May You Live in Interesting Times“, ist der prägnante Titel der Ausstellung, die von dem Leiter der Hayward Gallery London, Ralph Rugoff, in Venedig kuratiert wurde. Rugoff ist seit vielen Jahren einer der anerkanntesten amerikanischen Kuratoren der internationalen Kunstwelt, und ihn als Leiter der zentralen Ausstellung in Venedig auszuwählen, war von der Biennale Leitung eine der besten Ideen der letzten Jahrzehnte. Durch den Ausstellungstitel wird dem Publikum die jetzige Weltsituation sehr deutlich vor Augen geführt. Krieg, Armut, Ungerechtigkeit, Falschmeldungen, Korruption, Rassismus, Sexismus und mehr sind nicht nur mehr denn je in unserer Gesellschaft vertreten, sondern werden von den teilnehmenden Künstlern auch provokant inhaltlich erarbeitet. Beim Besichtigen der Ausstellung, die sich über zwei Gebäude erstreckt, bleibt dem Betrachter nichts übrig, als sich der erschreckenden Situation, in der wir leben, zu stellen. Die Installationen, Videos, Ölbilder, Zeichnungen und Skulpturen der teilnehmenden Künstler haben alle eines gemeinsam: Sie weisen auf die Missstände unserer Kultur hin. Noch nie war eine Biennale-Ausstellung durch ihr Thema so klar definiert wie diese. Obwohl Rugoff kein spezielles Thema an sich ausgesucht hat, wie er selbst meint, ergeben alle Werke einen gemeinsamen Sinn. Wenn man am Ende der Ausstellung das Arsenale verlässt, ist die Stimmung im wunderschönen Venedig plötzlich getrübt. Leichte Depression, Schwermut und Gedanken um die Zukunft benebeln die Laune. Nicht weil die Ausstellung vielleicht schlecht sei, im Gegenteil: Fast alle Künstler zitieren eine triste Gegenwart, die den meisten Kunstbesuchern verdeutlicht wird. Die Vehemenz, mit der die Künstler inhaltlich arbeiten, ist erstaunlich. Nichts bleibt einem beim Anblick der Kunstwerke erspart.
Die Ausdruckskraft und die Art der Gestaltung einzelner Installationen und Fotografien hinterlassen ein mächtiges Bild des Unbehagens. Die Ausstellung umfasst Werke von 79 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus fast allen Kontinenten. Die namhaftesten Künstler sind Rosemarie Trockel, Christian Marclay, Stan Douglas, Julie Mehretu, George Condo und Nicole Eisenman. Die deutsche Künstlerin Alexandra Bircken setzt mit ihren an die Wand gehefteten, ausgestellten Motorradanzügen eine feministische und auch haptische Aussage, wo sich das männliche Image des Motorradsports mit dem körperlichen Gestus vermischt. Ihre Textilarbeit ANGIE, 2019, zeigen die Hände der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in ruhiger, konzentrierter Geste. Die innerliche Kraft, Probleme zu bewältigen, die von dieser Haltung ausgeht, wird in Birckens „Handarbeit“ deutlich. Alexandra Bircken wird in der Wiener Sezession im kommenden Herbst eine Einzelausstellung mit neuen Werken zeigen.
In den Fotografien des indischen Künstlers Soham Gupta, OHNE TITEL, AUS DER SERIE ANGST, 2013−2019, portraitiert er Menschen in Indien, die auf der Straße leben müssen und von der enormen Armut gezeichnet sind. Gupta fotografiert zumeist in der Nacht, um einen Kontext zwischen Figur und Umwelt zu vermeiden und sich ganz auf die misshandelten und mental kranken Menschen zu konzentrieren. Mittels der Fotoserie wird das Bild, das Gupta von der Armut in Indien darstellt, erschreckend dem Publikum vorgeführt.
Der kalifornische Maler Henry Taylor porträtiert Menschen in seiner Umgebung wie Nachbarn, Prominente und Obdachlose. Als schwarzer Künstler gilt sein Interesse den Schwarzen Amerikas und deren Leben in einer noch immer geteilten Gesellschaft. Die pastose, farbenkräftige Malerei kennzeichnet seine dynamischen Bilder, die in fast allen großen Museen der USA ausgestellt wurden, wie im Museum of Contemporary Art, Los Angeles, Carnegie Museum of Art und Whitney Museum of American Art in New York.
„HAIL THE DARK LIONESS“ ist der Titel der großformatigen, schwarzweißen Selbstporträts der südafrikanischen lesbischen Künstlerin Zanele Muholi, die sich mit aufwändigem Kopfschmuck fotografiert. Muholi steht zu ihrer „blackness“ und setzt sich als Aktivistin ein. Eine erste große Retrospektive erwartet die Künstlerin in der Tate Modern in London 2020.
Der Gewinner des Goldenen Löwen der Biennale 2019 ist der Amerikaner Arthur Jafa. Mit dem Video „THE WHITE ALBUM“, das im Berkley Museum of Art Premiere hatte, setzt Jafa durch Szenen, die im und außer dem Fokus sind, neue Maßstäbe. Das Video handelt weniger von Weißen sondern von der Fragilität der verschiedenen Rassen und deren Spaltung. Der Titel des Videos ist von dem gleichnamigen Album der Beatles geliehen, das 1968 herauskam. Viele andere Künstler überzeugen mit politischen, poetischen und visuell markanten Inhalten in der Sonderausstellung der Biennale, wie Martine Gutierrez, Hito Steyerle, Otobong Nkanga und Neil Beloufa. Die nationalen Pavillons konnten bei der diesjährigen Biennale nicht unterschiedlicher sein. Den Britischen Pavillon bespielt die Engländerin Cathy Wilkes, die sehr eindrucksvoll ihre puppenartigen Figuren in den Raum integriert, emotionelle Verbindungen zwischen den einzelnen Skulpturen entstehen lässt und eine dunkle, melancholische Welt aufbereitet. Wilkes, die als extrem privat gilt und nicht über ihre Arbeit öffentlich spricht, hatte zunächst Zweifel, an der Biennale teilzunehmen, da sie weder an Grenzen in der Kunst noch an nationale Kunstpositionen glaubt. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind durch den renommierten Bildhauer Martin Puryear vertreten. Puryear, 1941 in Washington geboren, verbindet Geometrie mit organischen Formen und verwendet Naturmaterialen wie Holz, Stein und Leder. Mit der Skulptur „SWALLOWED SUN“, präsentiert Puryear den Kampf zwischen Licht und Dunkel. Hinter dem perforierten Holzgestell erscheint eine schwarze, schlangenartige Skulptur.
Venedig bietet dieses Jahr nicht nur die Kunstbiennale, sondern auch eine Anzahl anderer Ausstellungen, die in der Stadt verteilt zu sehen sind. Zu nennen ist die seltene Präsentation der Gemälde der Amerikanerin Helen Frankenthaler im Palazzo Grimani, der erst kürzlich nach langer Restaurierung durch den Experten Toto Bergamo Rossi eröffnet wurde. Helen Frankenthaler stellte im Jahr 1966 bereits im Pavillon der USA aus und wurde vor einigen Jahren „wiederentdeckt“. In Europa ist die Künstlerin nach wie vor wenig bekannt, da sie als Frau unter ihren Malerkollegen wie Jackson Pollock und Robert Motherwell im Hintergrund stand. Seine erste italienische Retrospektive erhält der 1904 geborene Amerikaner Ashile Gorky im Ca’ Pesaro, wo 80 Werke aus internationalen Museen und Sammlungen zusammengetragen wurden. Zwischen Surrealismus und Abstraktem Expressionismus bewegen sich Gorkys Bilder, die nach wie vor an Intensität nichts verloren haben und dem Künstler einen fixen Platz in der Kunstgeschichte des 20. Jhs. verschafft haben. Venedig ist zu jeder Jahreszeit eine Reise wert, besonders während der Kunstbiennale. Wären da nicht die außergewöhnlich hohe Touristenanzahl, die Venedig fast in den Untergang zwingt, sowie die gigantischen Kreuzfahrtschiffe, die fast surreal in den Kanälen Venedigs auftauchen. Über ein Verbot der Schiffe wird immer wieder diskutiert. Sie sind aber immer noch da. Was man nicht alles für die Kunst macht … Save Venice.