Drei Abschiede – Xenia Hausner

Es ist die Stil­le, die einen zuerst berührt. Dies sind Abschie­de, aber es gibt kei­ne letz­ten Wün­sche und Beteue­run­gen, Grü­ße und Beschwö­run­gen. Die Prot­ago­nis­ten sind stumm. Ein klei­ner Jun­ge wird zum Fens­ter hin­auf­ge­ho­ben, aber auch er scheint sei­ne Hand wort­los nach einer der Rei­sen­den im Abteil zu recken. Die Betei­lig­ten spre­chen mit ihren Hän­den. Sie ges­ti­ku­lie­ren nicht − sie stre­cken sie aus, hal­ten sich fest, deu­ten auf etwas Unsichtbares.

Dicht gedrängt am Fens­ter sehen sie zuerst all­täg­lich aus. Aber die jun­ge Frau mit ihrer gemus­ter­ten Decke und ihrem roten Kopf­tuch, die wie ein Flücht­ling wirkt und doch sonst ganz west­lich geklei­det ist (vor wem flüch­tet sie, oder wovor?), die Frau mit dem auf­wärts gewand­ten Blick, nach der sich der klei­ne Jun­ge drau­ßen erfolg­los reckt, erin­nert stark an die Jung­frau Maria, die Mut­ter Got­tes in einem dicht gedräng­ten Abteil 2. Klas­se. Und der jun­ge Mann über ihr, der mit sei­ner barock deu­ten­den Hand in die Höhe weist? Wir sind in einem zeit­lo­sen Moment, irgend­wo zwi­schen der Gegen­wart, der Zeit der alt­mo­di­schen Zug­ab­tei­le und einem Altar­bild aus Rom um 1600.

Copyright Lukas Beck
Por­trait Xenia Hausner

Was sind das für stum­me Abschie­de? War­um tref­fen sich die suchen­den Augen­paa­re nie? Und war­um tau­chen eini­ge der Figu­ren in den drei Sze­nen in unter­schied­li­chen Zügen und Kom­bi­na­tio­nen wie­der auf? Auf was für einer Rei­se befin­den sie sich eigentlich?

Die Male­rin legt Spu­ren, um sie gleich wie­der zu ver­wi­schen. Auf dem nächs­ten Tableau ist es Nacht. Nur das Abteil ist grell aus­ge­leuch­tet. Hin­ter der Schei­be des halb geöff­ne­ten Fens­ters ver­sinkt die jun­ge Maria wie in einem Aqua­ri­um. Jetzt ist sie die Deu­ten­de, oder viel­leicht hat ihre Hand auch ein­fach kei­ne Kraft mehr, sich fest­zu­hal­ten. Dies ist eine schein­bar ruhi­ge­re Sze­ne. Nie­mand reckt sich aus dem Abteil. Eine Frau auf dem Bahn­steig macht ein letz­tes Foto, aber der Bild­schirm ihres Han­dys zeigt nicht das Gesicht, auf das er gerich­tet ist. Zwei him­mel­blau beklei­de­te Frau­en­bei­ne vom Dach des Wag­gons gehö­ren wohl zu der Hand, die eine Scha­le ins Abteil hin­un­ter­reicht, aber die Scha­le scheint leer zu sein. Und wie soll­te die Frau es geschafft haben, mit ihren hohen Haken auf den Zug zu stei­gen? Was tut sie dort? Eine Hand fasst sie an, hält sie fest, zieht sie her­ab. Der jun­ge Mann aus dem Inne­ren des Abteils, der sie so berührt, blickt direkt aus dem Bild her­aus, die Augen leer, fast hoff­nungs­los, ohne emo­tio­na­le Bindung.

EXILES 2, 2017, Öl auf Papier auf Dibond, 240 x 380 cm

Im drit­ten Abteil gibt es kei­ne deu­ten­den Hän­de mehr. Die Frau, die anfangs gewirkt hat­te wie eine Mari­en­fi­gur, hat ihre Augen geschlos­sen, ganz ver­sun­ken, ertrun­ken im Aqua­ri­um ihres Schwei­gens. Drei ande­re jun­ge Frau­en haben ihren Platz am Fens­ter ein­ge­nom­men, haben sie ver­drängt und fül­len mit ihren Hän­den den Rah­men aus, wie um ihn zu defi­nie­ren. Zwei von ihnen bli­cken zurück, auf etwas, was sie hin­ter sich las­sen. Es scheint, als bedau­er­ten sie die­sen Abschied nicht. Sie win­ken nie­man­dem, sehen nie­man­den direkt an. Ein Paar auf dem Bahn­steig umarmt sich wie in Trau­er, ganz in sich gekehrt.

EXILES 1, 2017, Öl auf Papier auf Dibond, 240 x 337 cm

Lang­sam ver­dich­tet sich eine neue, ver­stö­ren­de Per­spek­ti­ve auf die Rei­sen­den. Von­ein­an­der iso­liert und stumm ges­ti­ku­lie­rend umgibt sie eine laten­te Panik. Sie kämp­fen um Platz, um Luft zum Atmen, drän­gen sich ans offe­ne Fens­ter und zögern dabei nicht, ein­an­der zu erdrü­cken. Sie sind weder Tou­ris­ten noch Flücht­lin­ge − sie sind auf einer Rei­se, deren Ziel sie selbst nicht ken­nen. Die Zug­ab­tei­le waren ein­mal Teil eines geord­ne­ten Net­zes von Desti­na­tio­nen und Fahr­plä­nen (die Num­mern auf den Wag­gons zeu­gen noch davon), aber sie sind längst her­un­ter­ge­kom­men, mehr­mals neu ange­stri­chen wor­den, haben Eigen­tü­mer, Zie­le und Zweck gewech­selt, sind im Zeit­al­ter der Flug­rei­sen zu selt­sa­men Ana­chro­nis­men gewor­den. Die Rei­sen­den selbst sind jung, modern geklei­det, Teil einer ande­ren Welt. Trotz­dem freu­en sie sich nicht auf das, was sie erwar­tet, sie sind zu allein, zu sehr damit beschäf­tigt, um ihr eige­nes Über­le­ben zu kämpfen.

Rechts im letz­ten Bild, nur zur Hälf­te Teil der Sze­ne, steht eine schwarz geklei­de­te, weib­li­che Figur und hebt die offe­ne Hand. Sie gebie­tet Ein­halt, sieht mich an, deu­tet nir­gends hin. Ihre Ges­te ist halb War­nung und halb Ora­kel. Wovor warnt sie?

EXILES 3, 2017, Öl auf Papier auf Dibond, 240 x 326 cm
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1970 in Hamburg geboren, studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Der promovierte Historiker lebte und arbeitete in London und Paris als Autor und Journalist, seit 2006 in Wien. International bekannt wurde er mit seinen ausgezeichneten Sachbüchern über die Aufklärung, den Ersten Weltkrieg und die Zwischenkriegszeit. Daneben verfasste er mehrere Romane. Radiohörern ist Blom als Moderator der Ö1-Diskussionssendung „Von Tag zu Tag“ bekannt. Publikationen u.a.: Bei Sturm am Meer, Wien 2016; Die zerrissenen Jahre. 1918–1938, München 2014; Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, München 2011; Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914, München 2009; Die Welt aus den Angeln, München 2017

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