Eine Künstlerin des vermeintlich Unscheinbaren

Martina von Meyenburg

Jede Kunst − die Dich­tung, die Musik, auch die der Bil­der und räum­li­chen Objek­te − möch­te etwas sagen, was nicht mehr zu sagen ist. Nicht zufäl­lig fin­det Ador­no im unles­ba­ren Jetzt des Feu­er­werks, was Kunst ins­ge­samt cha­rak­te­ri­siert: „Pro­to­ty­pisch für die Kunst­wer­ke ist das Phä­no­men des Feu­er­werks, das um sei­ner Flüch­tig­keit wil­len und als lee­re Unter­hal­tung kaum des theo­re­ti­schen Blicks gewür­digt wur­de.“ Am Feu­er­werk zei­ge sich, was Kunst von allem exakt Bere­chen­ba­ren unter­schei­det: „Empi­risch Erschei­nen­des (aber zugleich) befreit von der Last der Empi­rie (zu sein), Him­mels­zei­chen und her­ge­stellt in eins, Mene­te­kel, auf­blit­zen­de und ver­ge­hen­de Schrift, die doch nicht ihrer Bedeu­tung nach sich lesen lässt.“

Mar­ti­na von Mey­en­burg ist eine Künst­le­rin des ver­meint­lich Unscheinbaren. 

Kunst – wenn sie Kunst und nicht bloß Plau­dern ist – erzeugt auf viel­fäl­ti­ge und stets über­ra­schen­de Wei­se einen plötz­li­chen Über­schuss von Ein­sicht und Gefühl, der uns dar­an erin­nert, dass Men­schen mehr sind als eine kom­pli­zier­te Maschi­ne­rie win­zi­ger Din­ge, beherrscht vom stren­gen Gesetz phy­si­ka­li­scher Grund­kräf­te. Nur dar­um, weil wir kei­ne Hirn­com­pu­ter sind, kann uns im Kunst­werk ein Wis­sen und Emp­fin­den ent­ste­hen, das eben­so zur Spra­che kom­men möch­te, wie es auf all­zu genaue Sät­ze nicht zu brin­gen ist. „Wovon man nicht spre­chen kann, dar­über muss man schwei­gen“, lau­tet der berühm­te Schluss­satz von Witt­gen­steins „Trac­tat“. Das stimmt, wenn es dar­um geht, die Welt im Kor­sett ein­deu­tig über­prüf­ba­rer Fest­stel­lun­gen zu erfas­sen. Es stimmt nicht, wenn wir zu sagen haben, wes­halb etwas ästhe­tisch Erfahr­ba­res unse­ren Geist berührt und wir zu begrei­fen suchen, was uns ergrif­fen hat. Soviel als Ein­lei­tung zum beson­de­ren Werk einer Künst­le­rin, das bewusst auf ver­ba­le Aneig­nung drängt − und das ohne Scheu einem wohl­be­kann­ten Nor­mal­ges­tus der moder­nen Kunst­kri­tik wider­spricht. Es ist doch so: Je mehr nar­ra­ti­ve Ener­gie von einem Kunst­ob­jekt ent­fes­selt wird, umso ver­däch­ti­ger wird es für vie­le Zeit­ge­nos­sen. Denn die wesent­li­che Erfah­rung der Kunst [zumal der bil­den­den] habe unzwei­fel­haft jen­seits sprach­li­cher Erläu­te­rung zu lie­gen, als wort­los-kine­ti­sche Erschüt­te­rung und Betrof­fen­heit durch den Impuls unmit­tel­bar sinn­li­cher Formate.

Denn „was man sieht, lässt sich zwar in Wor­te umset­zen, [aber] das, was emp­fun­den wird, [kann doch nur] auf einer Stu­fe ein­tre­ten, die der Spra­che vor­aus­geht oder gar außer­halb von ihr liegt.“ Im Voka­bu­lar der Kri­tik ist gute Kunst dann allein dies, was ein­fach da ist: sach­lich prä­zis beschreib­bar, doch von wort­lo­ser Trans­pa­renz und so pur wie ein Qua­drat. − Viel­leicht über­trei­be ich. Unstrit­tig ist aber, dass asso­zia­ti­ver Reich­tum und Inter­pre­tier­bar­keit in der heu­ti­gen Kunst­welt nicht unbe­dingt als Kri­te­ri­en wün­schens­wer­ter Kunst­ur­tei­le kur­sie­ren. Den­noch sind es die­se Qua­li­tä­ten, die das Werk der Künst­le­rin Mar­ti­na von Mey­en­burg bemer­kens­wert eigen­stän­dig und aus­strah­lungs­stark machen.

Wich­tig sind die Titel. Nicht nur beim Werk „Pale­ness and Bloom. Plea­su­re and Gloom“. Denn Titel sind das deut­lichs­te Zei­chen Mey­en­burgs für ihre intel­lek­tu­el­le Aus­ein­an­der­set­zung mit dem The­ma, aus und in der die Arbeit ent­stan­den ist. Frei­lich: Kein Kunst­werk gelingt, wenn es nur Aus­druck von Refle­xi­on und ratio­na­ler Absicht wäre. Des­halb ein Blick auf die Sache selbst: Schup­pen­haut über­spannt eine Mau­er, will alle Wän­de den gan­zen Raum über­zie­hen. Vom Boden aus wuchert die Rin­de aus einst wei­ßen, in sich geschlos­se­nen tex­ti­len Orna­men­ten; scheint sich – all­mäh­lich gelb­lich wer­dend – über das Inne­re des eige­nen Gehäu­ses aus­zu­deh­nen, lang­sam, ste­tig, uner­bitt­lich. So sieht es aus, denn obwohl das Gewe­be erstarrt ist und steif, ver­brei­tet es die merk­wür­di­ge Emp­fin­dung unto­ter Vita­li­tät. Vom Grund her ent­wächst sie den noch nicht ver­bli­che­nen fili­gra­nen Mus­tern, den gestick­ten Spit­zen­dekos, Klöp­pe­lei­en, unzäh­li­gen Häkel­deck­chen, aus denen die heim­lich unheim­li­che Instal­la­ti­on zusam­men­ge­setzt ist: gran­dio­se Ver­geb­lich­keit nutz­los gewor­de­ner Lebens­in­ten­si­tä­ten, die noch ein­mal Dasein gewinnt. Zur Erklä­rung des Titels ver­weist Mey­en­burg auf eine Stro­phe des Gedichts „A Cha­rac­ter“ des eng­li­schen Roman­ti­kers Wil­liam Words­worth. Es evo­ziert die Ambi­va­lenz alles Mensch­li­chen am Bei­spiel des Gesichts: „I mar­vel how natu­re could ever find space / For so many stran­ge con­trasts in one human face:/There’s thought and no thought, and there’s pale­ness and bloom/And bust­le and slug­gish­ness, plea­su­re and gloom.“ Bläs­se und Blü­te, Freu­de und Trüb­sinn, erstick­te Hoff­nung und beharr­li­che Tat­kraft, Ein­sper­rung in Mus­ter unver­sieg­ter Varia­ti­ons­lust, erblin­den­der Lebens­mut und trot­zi­ge Wie­der­ho­lung nicht erschöpf­ter Erneue­rungs­kraft, Beschei­dung und die­ses Immer­wei­ter- über-jede-Gren­ze-hin­aus… − die Gegen­satz­paa­re und Wider­sprü­che mensch­li­cher, nicht nur weib­li­cher Exis­tenz­voll­zü­ge und Daseins­last asso­zi­ie­ren sich wie von selbst der Wahr­neh­mung und dem ästhe­tisch nach­spü­ren­den Erfah­ren, das Mey­en­burgs Instal­la­ti­on der betrach­ten­den Auf­merk­sam­keit erweckt. Je mehr man ein­geht auf die Détails des­sen, was man sieht, des­to mehr Sinn­mög­lich­kei­ten wer­den wach: eine ver­bor­ge­ne Gegen­wart und die ver­trau­te Dis­so­nanz ver­gilb­ter Mühen, die den­noch nie ganz sinn­los waren.

Sie erneu­ern sich in den schein­bar ganz und gar wert­lo­sen Doku­men­ten einer All­tags­ar­chäo­lo­gie, die uns unse­re eige­ne Wahr­heit ins Gedächt­nis ruft – und das gro­ße Ver­spre­chen der Kunst, in den Her­zen der Men­schen das Gefühl einer unaus­weich­li­chen Soli­da­ri­tät wach­zu­ru­fen, das Gefühl „unse­rer dun­keln Her­kunft, in Pla­cke­rei, Freu­de und Hoff­nung, in der Unge­wiss­heit des Schick­sals, wel­che die Men­schen mit­ein­an­der und die gan­ze Mensch­heit mit der sicht­ba­ren Welt verbindet.“

Den Werk­stoff für ihre Instal­la­tio­nen fin­det sie in abge­leg­ten Gebrauchs­din­gen, auf Floh­märk­ten, in Pfand­häu­sern und Bro­cken­stu­ben. Mit dem Gespür der sen­si­blen See­len­le­se­rin ver­nimmt sie im Schwei­gen weg­ge­wor­fe­ner Sachen ein viel­stim­mi­ges Mur­meln, Hüs­teln und Pochen, das – wie die Signa­le eines ver­dräng­ten Unbe­wuss­ten – den Lärm und die Auf­ge­regt­heit der gewöhn­li­chen Wach­welt durch­dringt. „I am drawn to the idea of objects having a sort of soul – one that can be tra­ced by exami­ning the usa­ge, con­text and mere pre­sence of an object in time and space.“ Was das heißt oder bes­ser: auf wel­che Wei­se von Mey­en­burg Din­ge − so anre­gend wie schmerz­haft genau − ihre Wahr­hei­ten aus­sa­gen lässt, zei­gen Arbei­ten wie „Zwie­tracht“, „In Reih und Glied“, „Many a Bla­de“ oder „For all I know“, um vier beson­ders kla­re Bei­spie­le zu nen­nen. Jede die­ser drei­di­men­sio­na­len Kon­fi­gu­ra­tio­nen beweist die kom­po­si­to­ri­sche Kraft einer treff­si­che­ren künst­le­ri­schen Idee, die aus Tau­en, Spitz­ha­cken und Bei­len, Reclam­bänd­chen, Gewicht­plat­ten, Säge­blät­tern und einem ver­grif­fe­nen Band von Tex­ten C.G. Jungs unver­wech­sel­ba­re Bild­wer­ke zu schaf­fen ver­mag, die „viel zu den­ken geben“ − so Imma­nu­el Kant über ein Kenn­zei­chen gelin­gen­der ästhe­ti­scher Pro­duk­ti­on −, doch auf einen ein­zi­gen Gedan­ken nie­mals zu redu­zie­ren sind.Neben den Objekt­in­stal­la­tio­nen gehö­ren Zeich­nun­gen − und eben­so Foto­gra­fien – zu Mey­en­burgs OEu­vre. Wäh­rend sich die drei­di­men­sio­na­len Arbei­ten nar­ra­ti­ver Rezep­ti­on nicht ver­wei­gern, sind die Zeich­nun­gen näher an Stim­mun­gen, die eher musi­ka­lisch als mit Begrif­fen zu cha­rak­te­ri­sie­ren sind. Sie ent­zie­hen sich mit gelas­se­ner Selbst­ver­ständ­lich­keit der aus­führ­li­chen Inter­pre­ta­ti­on und blei­ben einem doch so nah wie eine Traum­ge­stalt, die man am Mor­gen nicht mehr aus dem Kopf bringt, rät­sel­haft und nach­hal­tig zugleich. „Caught in a bal­loon“ zum Bei­spiel besitzt die glei­che sur­rea­le Insis­tenz, die die kaum ent­schlüs­sel­ba­ren, aber unver­gess­li­chen Bil­der­fin­dun­gen René Magrit­tes haben, die uns wecken, nicht ein­schlä­fern wollen.

Die Kraft und inne­re Span­nung, aber eben­so die Ele­ganz und huma­ne Nach­denk­lich­keit, die Mar­ti­na von Mey­en­burgs Arbei­ten aus­zeich­nen, bezeu­gen eine Künst­ler­schaft, die jede Auf­merk­sam­keit ver­dient. Ihre Bio­gra­phie gibt wie jede Lebens­ge­schich­te Hin­wei­se zu den Impul­sen, die das Werk inspi­rie­ren: Zürich, woher die Fami­lie stammt und wo von Mey­en­burg die Hälf­te ihrer Kind­heit ver­brach­te, ist nicht bloß die Stadt des Kon­struk­ti­vis­mus und der uner­bitt­li­chen Ordent­lich­keit, son­dern eben­so der his­to­ri­sche Aus­gangs­punkt dada­is­ti­scher Tran­szen­denz, der Jung’schen Psy­cho­ana­ly­se und der hin­ter­grün­di­gen Fisch­li/­Weiß-Wie­der­ho­lun­gen all­täg­li­cher An- und Über­sich­ten. Und nicht zuletzt stammt Johann Hein­rich Füss­li − einer der ver­blüf­fends­ten Maler des 18. Jhs. und nach Aus­kunft Mar­ti­nas wich­tig für ihre eige­ne Ent­wick­lung – aus die­ser Stadt. Sei­ne Bil­der, the­ma­tisch visio­när und for­mal wir­kungs­voll kal­ku­liert, waren in ganz Euro­pa und beson­ders in Lon­don erfolg­reich, wo von Mey­en­burg heu­te lebt und arbei­tet, nach­dem sie am renom­mier­ten „Cen­tral Saint Mar­tins Col­lege of Art and Design“ stu­diert und dis­ser­tiert hat. „Slee­p­less“ ist die Zeich­nung, die ich wäh­len wür­de, wenn ich mit einem ein­zi­gen Werk das Gesag­te beglau­bi­gen müsste…

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Prof. em. Dr. phil. Lic. iur., *1945, von 1994 bis 2010 auf dem Lehrstuhl für Philosophie, mit besonderer Berücksichtigung der Politischen Philosophie an der Universität Zürich. Studium der Philosophie, der Literatur- und der Rechtswissenschaft in Zürich und Basel. Von 1984 bis 1991 in der Leitung einer Familienfirma in Wien, sowie als Publizist tätig, 1992-1994 Lehrstuhlvertretung der Professur für politische Philosophie und Theorie am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig Maximilian Universität München. Schreibt regelmässig über Kunst und die Philosophie der Kunst. Buchpublikationen (u.a.) als Mitherausgeber und Autor: Expansion der Moderne, Zürich 2010; Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhundert, Weilerswist 2008. Die schöne Kunst der Verschwendung. Fest und Feuerwerk in der europäischen Geschichte, Zürich und München 1988.Georg Kohler / Prof. em. Dr. phil. Lic. iur., *1945, von 1994 bis 2010 auf dem Lehrstuhl für Philosophie, mit besonderer Berücksichtigung der Politischen Philosophie an der Universität Zürich. Studium der Philosophie, der Literatur- und der Rechtswissenschaft in Zürich und Basel. Von 1984 bis 1991 in der Leitung einer Familienfirma in Wien, sowie als Publizist tätig, 1992-1994 Lehrstuhlvertretung der Professur für politische Philosophie und Theorie am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig Maximilian Universität München. Schreibt regelmässig über Kunst und die Philosophie der Kunst. Buchpublikationen (u.a.) als Mitherausgeber und Autor: Expansion der Moderne, Zürich 2010; Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhundert, Weilerswist 2008. Die schöne Kunst der Verschwendung. Fest und Feuerwerk in der europäischen Geschichte, Zürich und München 1988.

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