Ist das, was wir sehen, nur (Ir)Real?
Die Realität darstellen, heißt vor allem, sie zu verstehen. Mit der Realität kann man nicht lügen. Die Realität ist streng und dennoch komplex. Um sie darstellen zu können, muss man erst begreifen, wie man mit ihr kommunizieren kann, und das nachdem man die ebenso komplexe und artikulierte Sprache mit äußerster Hartnäckigkeit und Strenge erlernt hat. Wenn man erst einmal die Fähigkeit erlangt hat, die Realität zu durchdringen, dann hat man eine gute Chance, sie zu beschreiben, denn die Realität wird von innen erzählt. Nur von dort aus kann man versuchen, auch nur einen Augenblick des Lebens zu stehlen und dessen Poesie unter der Verwendung kongenialster Sprachkunst denen zu erzählen, die sich außerhalb davon befinden.
Was ist Realität wirklich? Und wie kann deren Beschreibung ohne Fiktion dargestellt werden? Die Wirklichkeit ist das Gegebene der Natur, sie ist die Macht, die den ursprünglichen und noch nicht vom Menschen manipulierten Dingen zugewiesen ist. Was aber, wenn der Mensch, der Künstler, in das von der Natur erzeugte Phänomen eingreift? Das Irreparable kann passieren, aber auch das Unvorstellbare. Ist Natural Power in Frage zu stellen? Dieses Konzept, die Macht der Natur, wird in der Ausgabe Stayinart 2.22 unter die Lupe genommen und so entschied ich mich in diesem Zusammenhang, die Arbeit des italienischen Künstlers Marco Alberti (Zeichner, Maler) zu untersuchen, der, nachdem er Jahre im Beruf des Designers und Entwerfers verbracht hatte, sich dazu entschloss, die Kunst wieder in den Mittelpunkt seines Lebens zu stellen. Eine Kunst, die sich dem Dialog mit der Realität anvertraut und im Endziel Realität ihren Höhepunkt findet. Dieser entwickelt sich im Diskurs, den er der überraschenden Beziehung zwischen der Macht der Natur und digitaler Einbindung gewährt hat, und in einem Gespräch, das immer aktueller wird und die Dinge umformt. Digitale Malerei und Zeichnung tragen in der Erforschung von Marco Alberti dazu bei, »wahrer als die Wahrheit« zu werden, die imaginären Strukturen der Beobachtung, des Gedächtnisses und des Tuns zu verklären und wieder aufzubauen. In der Natur ist der Status jedes Wesens einer vorbestimmten Form unterworfen; einer angestammten, symbolischen und wahrnehmbaren Form, die in den Falten der Seele erkennbar ist und dazu dient, den eigenen identitätsstiftenden Impuls zu wiederholen, der die Zeit und den Menschen überschreitet.
Man könnte sagen, dass der Status der Natur das überwindet, was durch sie hindurchgeht. In diesem ewigen Motus spielt die Kunst eine doppelte Rolle, indem sie in der Dimension des Künstlichen die höchste – manchmal auch paradoxe – Verbindung mit der Natur und ihrer ursprünglichen Bedeutung bestimmen kann. Marco Alberti stellt seine Kunstfertigkeit in eine Spannung, die in ständiger Beziehung zur Realität steht, eine privilegierte und grundlegende Beziehung, die durch eine wertvolle Verbindung des Künstlers mit dem Andersartigen und mit der durch die Vision erzeugten Emotion, auch deren des entfernten Freudianers, begründet wird. Die Lektüre der natürlichen Macht, seiner generativen Kraft, bringt Marco Alberti durch ein Kontinuum voran: »Ich lasse die Subjekte, die ich darstelle, erzählen. Manchmal werden sie über sich selbst sprechen, manchmal könnten sie etwas über mich erzählen. Vielleicht hat jemand im Publikum manchmal das Gefühl, dass dieses oder jenes Bild mit ihm spricht, um ihn für einen Moment dazu zu bringen, vergessene Gefühle zu erleben.« Grammatiken und Praktiken der Kunst in einem bereits erforschten Gebiet voranzutreiben, ist nie einfach; die künstlerischen Sprachen und Regelungen sind entscheidend für die Erforschung der Welt und des menschlichen Lebens, und der sogenannte »Moment der Dauer«, also das, was für das Geschehen entscheidend ist, dominiert die Schöpfung selbst. In der künstlerischen Projektion von Alberti gibt es eine Übertragung, die ihren ästhetischen Weg innerhalb der Grafik als eine Art unbewusste Geographie definiert, die Erinnerung und Vision zugleich ist und jedem Werk eine Geschichte, eine Zeit, einen Ort, einen meditativen philosophischen Rhythmus anvertraut. Verliert man also durch Malen, Zeichnen und Kreieren mit Hilfe des digitalen Mediums den Blick dafür, was in der Natur vor sich geht? Bei der Erforschung des Künstlers Marco Alberti überschneiden sich die beiden Dimensionen, sie verbinden und kreuzen einander, da siegleichzeitig aufeinandertreffen. Es kommt vor, dass sich die Zeichnung, die seit jeher als Hauptsprache beim kreativen Schaffen von Alberti dient, verdoppelt – jedoch ohne jemals zu verzerren –, indem sie zwei binären Richtungen folgt, die sich manchmal berühren.
Es wird oft angenommen, dass das Digitale das, was es überträgt und zeigt, der Realität beraubt; das ist vollkommen falsch. Nietzsche sagte: »Was den wahrhaft originellen Geist auszeichnet, ist nicht, als erster etwas Neues zu sehen, sondern etwas Neues in dem zu sehen, das alt und seit jeher bekannt ist und von allen gesehen und vernachlässigt wird.« Marco Alberti ist in diesem komplexen kulturellen ontologischen Gegensatz tätig. Im ultramodernen Wettlauf der Kunst hin zur Synthese, zur Symbolik des Objekts als ein Abdruck des Sinnes, aber auch der abstrakten Beziehung zur Umwelt oder in der Sprache der Erfassung der Tatsachen der Natur durch die Fotografie. Hier haben die Malerei und Bildhauerei, die als »traditionell«, wenn nicht uralt gelten, einen nicht figurativen Richtungswechsel erfahren. Die Gründe waren, seit den 2000er Jahren, vielfältig, aber vor allem das große Elend der künstlerischen Autodidaktik, die Improvisation, die zu viele vermeintliche oder selbsternannte Künstler davon überzeugt hat, etwas auf der Leinwand oder auf verschiedenen Materialien inszenieren zu können, ohne sich des Sachgebiets bewusst zu sein oder es zu kennen, hat dazu beigetragen. Genau das ist auch der Fall beim Digitalen, dessen vermeintliche Einfachheit uns der Versuchung erliegen lässt, sie zu verstehen und gut nutzen zu können. Über die Polemik hinausgehend und im Rahmen dessen, was in den letzten Jahren immer mehr als eine Rückkehr zur Malerei – und zu deren Erforschung – erscheint, lehrt die Kunst von Marco Alberti vor allem die Begründetheit des Mythos der Weisheit, des meisterhaften Wissens, um sich die Instrumente anzueignen, die geeignet sind, den Beginn eines Weges zu stützen, und das auch innerhalb des »ernsthaften Spiels der Kunst«. Die Verwendung des, oder besser gesagt, das Ankommen im Digitalen, stellt für den Künstler aus Bologna einen echten Aufstieg des Kunstmachens dar.
Er selbst sagt: Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es in diesem Gebiet absolut notwendig ist, dass sich das Bewusste und das Unbewusste der gegenseitigen Durchdringung hingeben. Der Beobachter wird durch das Bewusstsein die Technik wahrnehmen, während das Unbewusste versucht, ihm die Emotion zurückzugeben. Das Bewusste und das Unbewusste; ist es nicht so, dass sie für einen Künstler im Grunde der Qual des einen und der Ekstase des anderen entsprechen? In der Thematik, die Alberti beschreibt, ist eine Reihe umfassenderer und tieferer Fragen enthalten, die sich auf die Mäeutik der Kunst und die Rolle des Künstlers gegenüber sich selbst und seiner Arbeit beziehen. An welchem unbestimmten Punkt reiht sich seine Beobachtung in Bezug auf die Tatsache der Natur ein? Wird Natural Power in Frage gestellt, wenn es mit dem Artifex des menschlichen Geistes in Dialog tritt? Die Werke von Marco Alberti stellen diese Frage in ihrer Dynamik der Beziehung zum Digitalen ständig an sich selbst, an das Thema, an das – digitale – Medium und an den gesamten epiphanischen Prozess. Von den Skizzen über die Zeichnungen bis hin zu den Gemälden nehmen die Schaffung dessen, was wir zu kennen glaubten, und die Wirklichkeit eine weitere Schattierung der Übertragung von der Wahrheit zur Schöpfung an. Der grundlegende Ansatz ist der, der auf die menschliche Darstellung gerichtet ist; die Faszination für den Menschen hat es dem Künstler insbesondere ermöglicht, eine subjektive Grammatik zu erforschen und zu schaffen, in der eine klassische und moderne Mischung entsteht – die Vereinfachung oder Stilisierung vermeidet – und die zur Gegenwart gelangt, indem sie sich einer Betonung der Realität hingibt, dem Dialog mit dem, was die Gestalt selbst dem Betrachter in ihrer Beziehung zur Wahrheit in einer universellen Erzählung zurückzugeben weiß. Eine Erzählung pro Bild, die nach drei sich aufteilenden Gleisen entsteht und sie umgibt: Skizzen, Zeichnungen und Gemälde. Mit absoluter »Natürlichkeit« bewegen und verwurzeln sie sich sowohl in der »traditionellen« als auch in der »nativen digitalen« Technik. In diesem ununterbrochenen Fluss arbeitet Marco Alberti mit wissenschaftlicher Strenge, ohne jemals das vorgestellte Ergebnis aus den Augen zu verlieren, das, wenn es nicht auf der Suche nach einem reinen sterilen und stilistischen Hyperrealismus ist, der Übersetzung aus der Realität die Nähe zu einer evokativen, emotionalen und sensiblen Realität zuweist, welche wahrnehmbar ist durch die Sinne und die Facetten einer Synästhesie, und die nicht mehr zwischen natürlich und digital unterscheidet – und dies auch nicht mehr tun muss.
Ist das, was wir sehen, nur (ir)real? Eine berechtigte Frage, die die Kunst nicht wirklich beantworten kann, da sie – und die Künstler – sich an der Grenze dessen bewegen, was halb real ist, also in diesem Durchgang, der das natürliche Gegebene durchquert, um es eines universellen und emotiven Symbolismus zufolge zu betonen. Marco Alberti hat in der Vergangenheit als Designer und daher als Transformator der Idee hin zum Objekt gearbeitet, das durch Design, Verarbeitung und Modellierung des Materials ein Design-Artefakt wurde. Heute bringt er diesen Prozess mit einer erneuerten Dynamik zurück, die wiederum mit der Skizze auf ein digitales Notizbuch beginnt, das als Element des kontinuierlichen Experimentierens dient und in der Lage ist, seine persönliche, durch unterschiedliche Prinzipien gekennzeichnete Gestaltung der Geburt einer Idee darzustellen, welches das deutlichste Zeichen der emotionalen und vorausschauenden Intelligenz ist. Aus Entwürfen und Skizzen spaltet sich dann die Suche in Richtung Malerei oder Zeichnung ab. Traditionelles Zeichnen und digitales Zeichnen sind die Sprachlehren, die er verwendet, um seine Werke umzusetzen, grafische Erzählungen, die von »Charakteren auf der Suche nach Autoren« erzählen, von Faszinationen, in denen der grafische Prozess in Form von Technik auf die Materie wirkt und darauf reagiert, was sowohl in der Wurzel des Designs als auch in den kreativen Möglichkeiten, die das Digitale bietet, zu einer brisanten und poetischen konzeptionellen Kraft führt. In den Gemälden hingegen vertraut Marco Alberti, nach hartnäckigem Studium, dem Pastell und der Ölmalerei die Erzählung des Wahren an. Das Leben der Menschen, das Gefühl, das aus den verborgenen Tiefen kommt, entsteht durch die Malkunst nach einem sehr alten Prozess, der die Malerei zur uralten Kommunikation des Menschen macht. Heute, da die digitale Malerei fast vollständig Fuß gefasst hat, findet für den Künstler aus Bologna eine Übertragung von einer Sprache in die andere, von einer Materie in die andere statt, und es kommt vor, dass manchmal die Umwandlung des grafischen Zeichens in ein malerisches Zeichen, Gemälde von der gleichen Intensität hervorbringt, die in Kohlezeichnungen oder digitalen Zeichnungen zu finden sind. »Das Digitale« , so Marco Alberti, »ist nichts anderes als der Behälter, in den ich meinen traditionellen kreativen Weg übertrage, um die konzeptionelle Phase enorm zu erweitern.« Wie für die Zeichnung, so auch für die Malerei, ist die digitale Dimension »auch der Ort, an dem fertige Werke mit Techniken konzipiert und umgesetzt werden, die sich absolut mit den traditionellen Techniken überschneiden«. Was Marco Alberti als Kunstfertigkeit mitbringt, ist die Fähigkeit, die digitale Wahrnehmung in eine verstörende und illusorische Sicht der Realität zu verwandeln. Es erscheint daher un_natürlich, eine klare Trennung zwischen dem, was der Mensch schafft, und der Macht der Natur, das heißt dem, was dem menschlichen Geist und Handeln innewohnt, ziehen zu wollen. Ist das Digitale nicht eine Folge der menschlichen Kraft, sich innerhalb der Natur und ihrer uralten Prozesse zu entwickeln?
Ist das, was wir sehen, nur (ir)real?
Sollten wir wieder anfangen, das Reale durch die Linse der Kunst und das essentielle Auge des Künstlers zu beobachten, zu lesen und zu interpretieren?