Juan Carlos Verdial
Kubanische Kunst zeichnet sich durch ihre Vielfalt aus. Dieses Statement ist nichts Neues für all jene, die auf die eine oder andere Art ein Vorliebe für die Kunstproduktion der Karibikinsel entwickelt haben. Galerien und Einrichtungen präsentieren besondere Trends, aber es ist nur eine Handvoll von Künstlern, die immer wieder die Kunstszene aufmischt und durch Originalität und technisches Können besticht.
Carlos Verdial Soltura gehört zweifellos zu ihnen. Der Maler aus Havanna wurde 1957 geboren. Etwa zwanzig Jahre lang arbeitete er an einem riesengroßen Werk, mit dem er sich voll und ganz identifiziert – wer es einmal gesehen hat, vergisst dieses Gemälde wohl nie. In den 1970er Jahren besuchte Verdial Soltura die renommierte Akademie der schönen Künste in Havanna, Academia de Artes Plásticas San Alejandra de La Habana, und dozierte anschließend an verschiedenen Einrichtungen, darunter die Kunstschulen Oscar Fernández Morera, Trinidad und José Antonio Díaz Peláez in der kubanischen Hauptstadt. Sein Können und sein origineller Stil verhalfen ihm zu Bekanntheit: Er stellte seine Werke in nationalen und internationalen Ausstellungen zur Schau und beteiligte sich an einer Reihe von Projekten.
Wer seine Gemälde studiert, ist angesichts der darin offenbarten Welten nicht selten sprachlos.
Verdials Art, die Produkte seiner nie versiegenden Vorstellungskraft auf Leinwand zu bannen, macht den unermüdlichen Schöpfer zu einem hervorragenden Künstler, der sich von der wachsenden Anzahl kubanischer Maler abhebt. Verdial schafft in einem surrealen Kontext, der fast immer von Elementen aus den Tiefen der Meere bevölkert ist, einzigartige Umgebungen mit leuchtenden Figuren, die zusammen eine Vielzahl von Wegen und traumhaft unwirkliche Spuren in sein verstörendes Universum eröffnen. Es ist, als wiegten wir uns in leichtem Schlummer in einer Welt, wo Realität und Fantasie in herrlicher Symbiose verschmelzen. Dieser Demiurg seines ganz eigenen Kosmos, den er immer wieder offenbart,ist seit seinen frühen Werken deutlich gewachsen, ohne jemals jene Elemente zu verlieren, die ihn nicht nur auszeichnen, sondern auch unabdingbar sind für d ie fließende Beziehung des Künstlers mit seinen Umgebungen: Die Gegenwart von Frauen, die Fauna mit Kreaturen der See, typische Pflanzen der kreolischen Insel… all diese verschiedenen Facetten bieten dank ihrer deutlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten eine Unzahl von Kombinationsmöglichkeiten. Die Werke haben zudem einen subtilen Bezug zur kubanischen Tradition der Drucke für Tabakmarken, die Welt der Verpackungen, die gewissermaßen Teil unserer Identität sind. Dies ist an den Texturen der Hintergründe, Reliefs, Farben, Figuren und der Atmosphäre der Werke klar erkennbar.
Weise Betrachterinnen und Betrachter sehen in Verdials Gemälden vielleicht eine Art der Poesie, die ihre Wurzeln tief in der visuellen Kultur der Renaissance hat: Die Allegorie. Seine Werke sind mehr als nur reine Konzeptbilder. Vielmehr sind sie eine flüchtige Inanspruchnahme einer Erscheinungsform, die letztlich eine Äußerung des Interesses des Künstlers für ein Thema ist. Wenn ich von surrealen Elementen spreche, meine ich nicht die Welt Dalís und den europäischen Surrealismus, an dem man sich immer wieder bedient. Carlos Verdial erfindet neue, vielseitige Figuren, die er in seine Werke einbaut. Er hat ein Universum erschaffen, und jede Umgebung, jeder Raum ist ein Fragment oder eine Momentaufnahme aus dem Verdialschen Universum, unbereisten zeitlosen Grenzbereichen, in denen mythische Kreaturen wohnen, die zuweilen aussehen, als stammten sie aus Karten der Antike. In seiner Welt trifft man nicht selten auf verschiedene Darstellungen von Meeresmonstern, furchterregenden Bewohnern der See, bei deren Anblick Seemänner und Piraten gleichermaßen vor Angst erstarren. Zu sehen sind unerforschte Gebiete im Ozean, in denen grauenvolle, tödliche Kreaturen hausen, die mit einem Schlag ihrer Flossen oder anderen, ihrer Anatomie entspringenden Bewegungen Furchtbares anrichten können. Oder Passagen aus unterschiedlichen Legenden, Geschichten und Märchen aus fantastischen Ländern, die auf wahren Begebenheiten beruhen, wie jene von Skylla und Charybdis aus Homers Odyssee.
Fast allen Werken ist eines gemeinsam: Das Meer. Die Figuren leben unbesorgt im oder auf dem Wasser. Es gibt keine Gewalt oder unkontrolliertes Anschwellen, vielmehr wirkt das Wasser trügerisch ruhig und vermittelt ein Gefühl des Unbehagens. Kommen wir nun zu einem Gemälde aus dem Jahr 2009. Die zentrale Figur von Vuelta tras la huella de sal ist, wie so oft bei Verdial, eine Frau. Sie fährt auf einem kleinen Boot durch die senffarbene See. Allerdings ist die Frau ein Teil des Bootes, das seinerseits wunderschöne Seitenflossen hat, mit denen es sich wie mit Rudern fortbewegen kann. Auf dem Kopf trägt die Figur statt menschlichem Haar eine Form, die an einen Vogelkopf mit schillerndem Gefieder und einem sehr langen Schnabel erinnert. Am Bordrand wachsen winzige Palmen. Ein weiteres Hauptelement ist die kubanische Flagge: Ein Teil davon bedeckt den Rumpf der Frau, die mit entblößter Brust am Bug sitzt, der Rest fließt bis ans Heck des Bootes. All diese Elemente – echte Palmen, die kubanische Flagge, das intensive tropische Licht, die zusammen eine unwirkliche, verführerische Szene bilden – unterstreichen die Identität der Figur.
Typisch für Verdials Werk ist die Gegenwart einer oder mehrerer weiblicher Figuren, Mischwesen aus Frauen und Meeresgeschöpfen, Ungeheuer aus der fruchtbaren Fantasie des Malers. Die weiblichen Torsos sind attraktiv. Die Figuren werden meist mit entblößter Brust dargestellt oder sind in nichts weiter als ein dünnes Tuch gehüllt. Es handelt sich wohl um Verdials Interpretation der Meerjungfrau, halb Frau, halb Fisch, ähnlich den Wesen aus der Chilote-Mythologie oder anderen Sagen. In anderen Bildern verschmelzen die stets von Wasser umgebenen Figuren zu sonderbaren Maschinen, zweiköpfigen Fischen, Bergfrauen, Käfigfrauen, die allesamt mit dem Chilote-Seepferd, den schottischen Wassergeistern oder anderen Geschöpfen aus der Mythologie verschiedener Länder verwandt sind. Sie sind für das neugierige Auge des Betrachters stets schön, und ihre Nacktheit ist keine Ergebung, sondern Trotz und Herausforderung. Der Künstler überrascht durch seine sorgfältige, detaillierte Umsetzung jedes einzelnen Elements und jeder Figur. Er erzählt keine Geschichten – denn es gibt nichts zu erzählen. Er präsentiert uns schlicht ein Stück seiner Welt und zeigt den Bezug zu Kuba durch Flaggen, Sterne, tropische Pflanzen und Vögel, als formte die Verbindung all dieser Elemente einzelne Inseln oder Bewohner von Parallelwelten.
In einem seiner jüngeren Werke, Malabares de vida y muerte, bilden architektonische Elemente – ein Steinbogen – den Rahmen für Frauen, die sich aus einer Quelle erheben. Die allgegenwärtigen Fische fehlen auch hier nicht, allerdings legt sich diesmal ein riesiger Schmetterling über die zentrale Figur, die mit durchsichtigen Kugeln voller nostalgischer Visionen jongliert. Auch hier fällt das Licht von oben her auf ein rotes Dreieck mit Stern. Verdial betont den entspannten Ausdruck im arglosen Gesicht der Frau. Der Künstler ist besessen von der Abgeschiedenheit und der circunstancia delagua und präsentiert uns seine Welt mit Elementen der Wälder und wunderbaren Wesen aus der Vorstellungswelt verschiedener Breiten, die er in neue, tropische und weibliche Versionen ihrer selbst verwandelt. Kurz gesagt: Verdials Kunst verführt, provoziert und bereitet beim ersten Anblick Entzücken. Doch damit nicht genug. Seine Verführung ist viel mehr als eine bloße oberflächliche Verbindung, sondern bietet etwas viel Absoluteres.