Tod, Hoffnung, Leben, Angst, Sex, Geld, Rasse und Religion zählen zu den Themen, die in ihren Bildern zur Sprache gebracht werden, die fröhlich und zugleich tragisch, spannend und zugleich erschreckend, grotesk und zugleich ernst, surreal und zugleich symbolisch sind.
Seit ihrer ersten Jahresausstellung in der Londoner Saint Martin’s School of Art im Jahr 1967 stellen Gilbert (*1943 in den Dolomiten, Italien) und George (*1942 in Devon, UK) den künstlerischen Kanon in Frage. Die beiden Künstler bilden als Subjekte und zugleich auch Objekte ihrer Kunst eine künstlerische Einheit und haben sich ganz und gar der Kunst verschrieben. Sie haben sämtliche nutzlosen Bedenken beiseitegeschoben und sich voll und ganz in einer Disziplin engagiert, die ebenso streng wie auch phantasievoll ist. Seit dem Anfang der 1970er Jahre haben Gilbert & George ein Oeuvre von beeindruckenden, wenn nicht gigantischen Dimensionen geschaffen, darunter auch Arbeiten, die Bilder unserer modernen Welt und der Zukunft mit einbeziehen.
Die Intensität der Ikonografie von Gilbert & George, die furchtlos ist und direkt zur Sache kommt, mag manche Betrachter vielleicht schockieren oder beunruhigen. Aber dennoch sind diese ungewöhnlichen Künstler nicht darauf aus zu schockieren – sie wollen eher „entschockieren“. Sie versuchen, das zu fördern, was in uns allen bereits vorhanden ist, oder, besser noch, das sichtbar zu machen, was sich in dieser gefährlichen und dennoch wunderbaren modernen Welt unmittelbar vor unseren Augen abspielt. Von Punks zu Hipsters, von Polizisten zu Außenseitern, von Nachrichten-Schlagzeilen zu Rubrikanzeigen aller Art erforscht das Werk von Gilbert & George eine von aller Künstlichkeit befreite Welt, wie sie von ihren magischen Augen gesehen wird. Wie grimmige und unermüdliche Wächter erstellen sie eine freche Chronik unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Während eines Besuchs bei Gilbert & George im Atelier in Spitalfields London, hatten wir die Gelegenheit uns intensiver über deren künstlerisches Werk zu unterhalten. Es ist eine bemerkenswerte Einigkeit, die Gilbert & George, wie ein Zauber umgibt und schon beim Aufeinandertreffen an der Eingangstür hat man das Gefühl, dass die beiden tatsächlich eins sind.
Kennengelernt haben sich die beiden in der Saint Martin’s School of Art „mitten in Soho“, wie George betont. Diese war damals eine der renommiertesten Schulen weltweit. „Wir fühlten und sehr privilegiert“, fährt er fort. Es war Ende der 60iger Jahre, eine Zeit des Aufbruchs und an der Saint Martin’s School of Art konnten sich beide frei entwickeln. „Jede Form der Kunst war willkommen und wurde gefördert“, erinnert sich Gilbert zurück. „Die Ausbildung war antiakademisch, an dieser Schule lautete das Prinzip: Art could be anything.“ Gemeinsam Kunst zu machen sahen beide nie als eine Zusammenarbeit: „Wir sind zwei Menschen, aber ein Künstler. Das ist der Schlüssel“, so George. Gemeinsam gingen sie durch die Straßen Londons, sind in eine Filmkulisse von Dickens eingetaucht und haben dort deren Inspiration gefunden. Die erste Ausstellung fand nicht in der Schule statt, sondern in einem Cafè. „Auf zwei Tischen haben wir unsere Show präsentiert. Es war uns von Beginn an wichtig die Öffentlichkeit einzubeziehen. Alles was wir für unsere Kunst benötigten, fanden wir in den Straßen Londons“, so Gilbert. Nach dem Ende der Schule wollten sie Künstler sein, hatten aber kein Atelier, also machten sie die Not zur Tugend, erklärt Gilbert weiter: „Wir hatten diese brillante Idee der „Living Sculpture“. Wir waren unsere eigene Kunst, unsere Vision, unsere Sicht, unsere Worte… Die Welt eben auf eine andere Art und Weise zu sehen, das machte uns aus! Das alles wurde dann zu unserer Skulptur.“
Wir wollen, dass die Kunst das Intolerante aus dem Liberalen hervorholt. Und umgekehrt das Liberale aus dem Intoleranten hervorholt.
Keiner von beiden hatte jemals einen anderen Lebensplan: „Wir waren immer in diese Richtung motiviert. Wir haben einen sehr überzeugten Sinn für die Sache, ein starkes Gefühl für das Schicksal.“ Nach dem Abschluss der Schule waren Gilbert & George klassische Außenseiter, da sie eben nicht das bürgerliche Netzwerk hatten, wie die anderen Absolventen. „Wir mussten um das Überleben kämpfen“, erinnert sich Gilbert. Schon allein diese Tatsache machte das Künstlerdasein anders. Als Künstler mussten sie einen eigenen anderen Weg finden. Die Idee des Formalismus war nicht die ihre: „Wir kreierten die Idee des Humanismus. Ein Mensch zu sein, bedeutete für uns auch menschliche Kunst zu sein. Wir dachten nie, wie es die Formalisten tun, in Formen. Formen sind zufällig, vielmehr geht es um unser Innerstes, das Innere eines Menschen, das ist die Kunst!“
An den einen wichtigen Moment, in dem Klarheit darüber herrschte, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, erinnert sich George zurück als wäre es gestern gewesen: „Wir schlenderten durch die Straßen Londons. In einem kleinen Geschäft, in dem alles das zu finden war, was die Menschen zurücklassen, wenn sie ihre Wohnung auflassen, fanden wir einst eine alte Grammofon-Platte. Sie trug den Titel „Underneath the arches“. Wir brachten sie nachhause und spielten sie ab. Das Lied hat uns fasziniert, denn es hat exakt das ausgedrückt, was wir und die Menschen um uns herum, die Verstoßenen, hier in Spitalfields gefühlt haben.“ Und plötzlich, während des Gesprächs, stimmen sie das Lied an. Im Gesichtsausdruck der „Singing Sculpture“ kann man lesen, wie nah dieser Moment noch ist, obwohl seitdem schon über 50 Jahre vergangen sind:
„In diesem Moment“, erzählt George ohne Pause gleich weiter, „realisierten wir den Kern unserer Kunst. Wir haben seit 1969 bis heute daran festgehalten.“ Geprägt wurde der kreative Prozess von Gilbert & George vor allem durch die Nachbarschaft in Spitalfields: „Alles was hier passiert, passiert auch auf der ganzen Welt. Für uns ist Spitalfields der globale Spiegel. Eigentlich das Universum“, erklärt George. Und in der Tat ist dieses Viertel Londons seit jeher speziell. Anfangs wurden hier die Kriegsveteranen untergebracht und es wurde zum Viertel der „Verstoßenen“. Als Gilbert & George 68/69 hier her zogen, war fast die ganze Straße jüdisch. Es lebten dort Hugenotten, die mittlerweile alle nach Goldest Green gezogen sind. Davor waren die Protestanten dort, die aus Frankreich vertrieben wurden. „Heute ist es hier außergewöhnlich. Die ganze Welt ist hier. Es gibt Synagogen, eine Deutsche Kirche, eine Moschee, die davor eine Kirche der Hugenotten und dann eine Synagoge war und jetzt eben eine Moschee ist. Und was kommt als nächstes? Denken Sie nach – alles eine Entwicklung“, meint George und Gilbert ergänzt: „Wir empfinden jede Veränderung als Fortschritt. Auch wenn es manchmal im Jetzt nicht so scheint.“
George ist überzeugt davon, dass Freiheit nur dort herrschen kann, wo es Kultur gibt: „Glaubt an die Kraft der Kultur! Sie ist die beste Erfindung der westlichen Welt“, sagt er bestimmt und Gilbert geht weiter ins Detail: „Es geht um die Freiheit des Individuums! Dass man frei ist, weder unterdrückt von einem Diktator noch von einer Kirche, sondern, dass man nur sich selbst überlassen ist. Die Kunst kann genau dazu beitragen und Wege neuer Moralvorstellungen aufzeigen. Der Frieden, den wir derzeit haben, kommt vom kreativen Denken. Wir wollen keine festgefahrene Moral, sondern eben eine, die aus unterschiedlichen Perspektiven kommt und sich weiterentwickeln kann. Alle Kriege auf der Welt sind religiöser Natur.“ George fügt hinzu: „Die Kultur schafft Freiheit! Wir sind privilegiert und glücklich.“ Und Gilbert fährt fort: „Wir haben uns eben auch von der Kirche befreit.“ Die kritische Haltung der beiden zur Religion drücken sie häufig in ihrer Kunst aus. Dabei nehmen sie sich kein Blatt vor den Mund: „Wir würden Religion akzeptieren, wenn sich die Vertreter jemals entschuldigt hätten, aber das haben sie nie gemacht. Es gibt Menschen, die aufgrund der Religion Suizid begehen. Und wir waren uns da von Anfang an einig“, sagt George und Gilbert meint weiter: „Oh ja, ich habe
das Weite von der Kirche schon damals gesucht, als mich der Pfarrer schimpfte, weil ich masturbierte.“
Als „Living Sculpture“ sind Gilbert & George im Grunde ununterbrochen Kunst, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch hinter verschlossenen Türen. Während des ganzen Gesprächs mit uns, sind die beiden Kunst. „Wir bezeichnen es als eine Reise, es ist ein lebender Fortschritt. Wir gehen durch das Leben und sehen überall nur „Fake“. Wir kreieren eine Down to earth morality“, beschreibt George.
Das Paar ist eine Legende – jeder kennt die beiden, auch Menschen, die sich nicht unbedingt für Kunst interessieren. Wie funktioniert das, fragen wir und prompt kommt die Antwort: „Wir hatten von Anfang ein Prinzip „Art for all“ und das ist auch der Grund, warum uns alle kennen.“ Neben ihrer Show als „Living Sculpture“ kreierten Gilbert & George eine Sprache, um sich auszudrücken, ihre großformatigen Bilder. Es ist eine Sprache, die sehr aktuell ist und in der der Betrachter eine wesentliche Rolle spielt: „Wir könnten das, was wir machen, gar nicht machen ohne den Betrachter. Unsere Kunst ist eben erst dann fertig, wenn es einen Betrachter gibt“, stellt George klar und Gilbert geht noch weiter: „Was wir machen ist nicht provokativ, sondern es ist „thought provoking“ – ein Denkanstoß. Da liegt eben der Unterschied. Deshalb sind wir selbst der größte Sammler von Gilbert & George!“
Mit dem Thema Brexit geht es den beiden gut. Eher empfinden sie es als eine große Missinterpretation der Medien. Der Brexit hätte nichts damit zu tun, dass die Engländer Europa nicht mögen, im Gegenteil, sie lieben es: „Wir sind sehr europäisch. Wogegen wir sind ist das „Setup“ der Verwaltung in Brüssel. Die Tatsache, dass man erzielen möchte, dass jedes europäische Land sich gleich verhalten muss. Das ist nicht unbedingt eine positive Entwicklung“, erläutert Gilbert und meint weiter: „Mit dem Brexit haben wir uns auch von Rom befreit. Wissen Sie was es bedeutet: Beeing free from Rome?“
Traurig stimmt vielmehr der Abschied von Harry & Meghan aus dem Königshaus: „Wir denken, dass deren Leben außerhalb der Königsfamilie niemals besser sein kann als innerhalb.“
Aktuell arbeiten Gilbert & George an einer neuen Serie, auf deren erste Entwürfe wir auch schon einen Blick werfen dürfen. Es gibt noch keinen Titel dafür. 2019 gab es eine Ausstellung bei Sprüth Magers in Los Angeles und da ging es um das Paradies. George sagt nachdenklich: „Die ganze Welt beschäftigt sich mit dem Leben nach dem Tod. Alle Religionen beschäftigen sich damit, was passiert danach? Es ist ein Thema, das unser Interesse geweckt hat. Jeder strebt nach einem Paradies – deshalb fahren die Menschen ja auch in den Urlaub, sie suchen das Paradies.“