Grundlegung einer Avantgarde des Empraktischen

Denkwerk – Kunst und Philosophie

Theo­rien des Emprak­ti­schen gibt es auch in ande­ren Wis­sen­schaf­ten, in den Kul­tur- und Geis­tes­wis­sen­schaf­ten, aber vor allem auch in den Sprach­wis­sen­schaf­ten. Hier soll über das Emprak­ti­sche phi­lo­so­phiert wer­den und pro­ble­ma­ti­siert wer­den, dass das Emprak­ti­sche ein neu­es Para­dig­ma sein könn­te, um eine Phi­lo­so­phie der Pra­xis zu begrün­den. Im Augen­blick domi­nie­ren in der Phi­lo­so­phie Theo­rien des Performativen.

Wir gehen von der The­se aus, dass sich das Per­for­ma­ti­ve im Emprak­ti­schen grün­det, wes­halb das Emprak­ti­sche als das Ursprüng­li­che, Authen­ti­sche gegen­über dem Per­for­ma­ti­ven erscheint. Wir den­ken, es gibt kei­ne Per­for­mance ohne emprak­ti­sche Erin­ne­rung. Gera­de für west­eu­ro­päi­sche Kul­tu­ren ist die Höher­schät­zung des Per­for­ma­ti­ven typisch. Dem ent­spricht in unse­rer Kul­tur die Domi­nanz des Apol­li­ni­schen gegen­über dem Dio­ny­si­schen, des Künst­li­chen gegen­über dem Natür­li­chen, die Domi­nanz des tech­no­lo­gisch Insze­nier­ten gegen­über dem instink­tiv Voll­zo­ge­nen, wie auch die Domi­nanz des Seh­sinns gegen­über allen ande­ren Sin­nen, was Nietz­sche als Deka­denz­er­schei­nung und Ver­blö­dung der Sin­ne kri­ti­sier­te. Wir wol­len die Fra­ge auf­wer­fen, ob sich Kul­tu­ren des Per­for­ma­ti­ven im Emprak­ti­schen grün­den. Die Fra­ge ist, ob sich das Apol­li­ni­sche im Dio­ny­si­schen grün­det und unse­re apol­li­ni­sche Zivi­li­sa­ti­on die Kul­tur des Dio­ny­si­schen braucht, um sich zu erneu­ern, ob das logi­fi­zier­te Den­ken das wil­de Den­ken braucht, um schöp­fe­risch zu blei­ben. Braucht die kon­kre­te Form den Rausch, um nicht leer und inhalts­los zu sein? Wie­viel Afri­ka brau­chen wir, um moder­ne Euro­pä­er zu bleiben?

Der Begriff des Emprak­ti­schen wur­de von Karl Büh­ler wie­der­ge­fun­den in sei­ner Sprach­theo­rie von 1934.

Er meint, dass das ver­kürz­te Spre­chen im All­tag einen ande­ren eige­nen sinn­vol­len Namen ver­dient. Er nennt die­ses Spre­chen emprak­ti­sches Reden. Im Bil­de gespro­chen meint er, es ist mit die­sen sprach­li­chen Aus­drü­cken wie mit den Weg­wei­sern auf mensch­li­chen Pfa­den. Solan­ge es nur einen ein­deu­tig erkenn­ba­ren Weg gibt, braucht man kei­nen Weg­wei­ser, aber an Kreu­zungs­stel­len, wo die Situa­ti­on viel­deu­tig wird, sind sie stets will­kom­men, weil die Wahl­kom­ple­xi­tät redu­ziert wird. Büh­ler meint mit die­sen Weg­wei­sern Anzeig­wör­ter, die das Han­deln des Emp­fän­gers ganz ein­fach und doch hoch­kom­plex durch Reduk­ti­on steu­ern. Wenn bei­spiels­wei­se jemand um Hil­fe ruft in unse­rer Kul­tur reicht die­ses eine Wort, um hoch­kom­ple­xe Hand­lungs­wei­sen aus­zu­lö­sen. Oder oft ist nur ein Wort nötig, ein belie­bi­ges Sprach­zei­chen wie „rechts“, „gera­de­aus“ oder in der Oper: „obe­res Par­kett“. Durch die­se ver­kürz­ten Steue­run­gen ver­hält sich der Emp­fän­ger effek­tiv und treff­si­cher han­delnd. Wir sind in unse­rer Kul­tur grund­sätz­lich posi­tiv auf die­ses Emprak­ti­sche ein­ge­stellt, ohne dass wir es bemer­ken, wir wis­sen es nicht, aber wir tun es, so dass wir jeman­den zumin­dest für begriffs­stut­zig hal­ten, wenn er die Ein­re­de beim Inder „Bit­te die 218“ nicht ver­steht. Denn wir wis­sen um die sinn­vol­le Reduk­ti­on die­ser Ein­re­de, um hoch­kom­ple­xe Hand­lun­gen aus­zu­füh­ren und tole­rie­ren bei­spiels­wei­se all­zu oft nicht, wie­so man noch zusätz­lich Erklä­run­gen braucht, wo sich doch eigent­lich alles von selbst ver­ste­hen wür­de. Wenn jemand bei­spiels­wei­se beim Auto­fah­ren die Ver­kehrs­zei­chen und Ver­kehrs­lei­tungs­sys­te­me nicht ver­steht, dann hal­ten wir ihn zumin­dest für idio­tisch, also unge­bil­det und behan­deln ihn dann auch entsprechend.

Die Theo­rie des Emprak­ti­schen wur­de am Insti­tut für Phi­lo­so­phie der Uni­ver­si­tät Leip­zig in neue­rer Zeit ange­dacht. Ideen­ge­ber war da Pir­min Ste­ke­l­er-Weit­ho­fer. Aber auch Geert Lue­ke-Lue­ken spricht zwar nicht expli­zit vom Emprak­ti­schen, aber unter­schei­det zwi­schen „pri­mä­rer Pra­xis“ und „sekun­dä­rer Pra­xis“, womit etwas Ähn­li­ches gemeint ist. Die sekun­dä­re Pra­xis ist eine theo­rie­ge­lei­te­te und theo­re­ti­sche Pra­xis. Das unter­stellt, dass es eine Pra­xis gibt, die vor­theo­re­tisch ist. Damit kann man natür­lich intel­lekt­las­ti­ge Pra­xis­theo­rien, wie sie z.B. im ortho­do­xen Mar­xis­mus oder auch in har­ten sprach­ana­ly­ti­schen Hand­lungs­theo­rien vor­herr­schen, kri­ti­sie­ren bzw. man kann auch Argu­men­te des Exis­ten­tia­lis­mus damit säku­lar fas­sen, weil in ihnen immer von den Vor­gän­gig­keits­struk­tu­ren der Sub­jekt-Objekt-Ver­hält­nis­se aus­ge­gan­gen wird, wie es bei­spiels­wei­se bei Heid­eg­ger das Seyn oder bei Scho­pen­hau­er der dunk­le Lebens­wil­le ist, der vor aller Vor­stel­lung vom Leben ist. Ste­ke­l­er-Weit­ho­fer hat in sei­ner ana­ly­ti­schen Phi­lo­so­phie den Begriff des Emprak­ti­schen wie­der auf­ge­nom­men. Frei­lich gibt es vie­le ande­re mög­li­che Vari­an­ten das Emprak­ti­sche zu den­ken. Man kann das Emprak­ti­sche sprach­ana­ly­tisch den­ken, was natür­lich bei Karl Büh­ler der Fall ist. Man kann es auch sozi­al den­ken. Man könn­te fra­gen: was ist ein Sozi­al-Emprak­ti­sches? Man könn­te das Emprak­ti­sche im Zusam­men­hang mit leib­li­chen Stim­mun­gen den­ken. Man kann auch fra­gen, ob es ein leib­em­prak­ti­sches Den­ken gibt. Wesent­lich scheint uns die Fra­ge, ob die Kunst prin­zi­pi­ell emprak­tisch ver­fasst ist und eben nicht nur per­for­ma­tiv, son­dern ob die Per­for­mance nur ein apol­li­ni­sches, also ein geform­tes Resul­tat einer dio­ny­si­schen, einer rausch­haf­ten Empra­xis ist.

Das Emprak­ti­sche ist immer auch auto­ma­ti­sier­tes Kön­nen. Emprak­ti­sche Kön­ner­schaft ist nicht an Vor­stel­lun­gen gebun­den. In der Empra­xis funk­tio­nie­ren Regeln anschei­nend a prio­ri, erst- und letzt­gül­tig, akau­sal, d.h. aus sich her­aus, als ers­ter, selbst unbe­grün­de­ter Grund (von allem) obwohl sie streng genom­men exis­ten­zi­al­a­prio­risch sind, also immer schon wahr­ge­nom­me­ne, durch die Exis­tenz des Men­schen ver­mit­telt. Das emprak­ti­sche Genie, unter­schie­den vom nor­mal emprak­ti­schen, beerbt in gewis­sem Maße die roman­ti­sche Genie-Reli­gi­on – wir nen­nen nach wie vor etwas gött­lich, wenn es ori­gi­nell ist, z.B. in der Kunst. Die­ses Gött­li­che zieht uns hin­an. Wir kön­nen es auch mit Jona­than Mee­se als ver­sach­lich­te Sinn­lich­keit benen­nen oder mit Geh­len als Hand­lungs­phan­ta­sie oder ganz ein­fach als Pro­bier­er­fol­ge – als ein­ge­üb­te Beherr­schung des Mate­ri­als, sei es in Bio­lo­gie, Mathe­ma­tik, Logik. Aber dahin­ter steckt immer ein „Antriebs­über­schuß“ (Geh­len), indem der Mensch sich in die Zukunft wirft. Alles das sind ideo­mo­to­ri­sche Betä­ti­gun­gen (Geh­len). Nicht ein­fach auto­ma­ti­sier­te Pro­zes­se, son­dern wei­ter­tra­gen­de Form­ge­bun­gen von Dio­ny­si­schem. Den soge­nann­ten „Krea­ti­ven“ wer­den das unver­ständ­li­che Sät­ze sein, weil sie eben krea­tiv sind und nicht ori­gi­nell. Sie expe­ri­men­tie­ren her­um, glei­ten am tech­nisch Mach­ba­ren ent­lang, aber sie schaf­fen kei­ne Zukunft. Sie wis­sen noch nicht ein­mal, was der Begriff Zukunft bedeu­tet. Ihre „Krea­ti­vi­tät“ besteht dar­in, dass sie Den­ken ableh­nen. Alles ist über­zeu­gend, funk­tio­niert . Haupt­sa­che das Fahr­rad ist gut. Die „Krea­ti­ven“ den­ken nicht – sie tech­ni­sie­ren. Das ist kein Vor­wurf, son­dern die Fest­stel­lung ihrer Stär­ke und ihres Man­gels. Emprak­ti­ker den­ken nicht nur mit dem Kopf, son­dern mit allen fünf Sinnen.

 Den­ken heißt: das Den­ken überschreiten.

ANFÄNGE DER ENTWICKLUNG EINER THEORIE DES EMPRAKTISCHEN

Vor­le­sun­gen von Prof. Dr. Vol­ker Caysa zum Begriff des Emprak­ti­schen und der For­schung zur Ent­wick­lung einer Theo­rie des Emprak­ti­schen am Insti­tut für Phi­lo­so­phie der Uni­ver­si­tät Leip­zig (WS 2005/06 bis SS 2012) 2006 Inter­view mit Vol­ker Caysa, geführt von Kon­stan­ze Schwarz­wald für die phi­lo­so­phie­stu­den­ti­sche Zei­tung „Eigen­sinn“ der AG „Kopfschlag“1 mit dem Titel: „Vom exis­ten­zi­el­len Selbst­den­ker­tum zu einer neu­en Form des Wir“.

Kopf­schlag war der stu­den­ti­sche Arbeits­kreis der Nietz­sche-Gesell­schaft, den Kon­stan­ze Schwarz­wald (selbst von 2002 bis 2010 Vor­stands­mit­glied der Nietz­sche-Gesell­schaft) grün­de­te und geführt hat. Hier ent­stan­den eini­ge Publi­ka­tio­nen. U.a.: „Expe­ri­men­te des Lei­bes“ – Stu­di­en zur Ent­wick­lung der phi­lo­so­phi­schen Theo­rie des Emprak­ti­schen. Der Name „Kopf­schlag“ ent­stand im Kon­text des phi­lo­so­phi­schen Zieh­va­ters Fried­rich Nietz­sche, der ja bekann­ter­ma­ßen auch als der Phi­lo­soph mit dem Ham­mer bezeich­net wird. Ent­wi­ckelt und dis­ku­tiert wur­de der Begriff des Emprak­ti­schen in der „Leip­zi­ger Ana­ly­ti­schen Schu­le“ (LAS) sowohl von Sprach­ana­ly­ti­kern als auch Exis­ten­zi­al­ana­ly­ti­kern und der Hoch­schu­le für Gra­fik und Buch­kunst, u.a. von Pir­min Ste­ke­l­er-Weit­ho­fer, Sebas­ti­an Rödl, Vol­ker Caysa, Hagen Wiel, Kon­stan­ze Caysa, Katha­ri­na Liebsch, Udo Tietz Wil­helm Schmid, Jona­than Mee­se, Durs Grün­bein sowie auch an den Uni­ver­si­tä­ten Opole/Polen und Lodz/Polen inner­halb von For­schungs­stu­di­en (sie­he den Band „Den­ken des Emprak­ti­schen“), trans­dis­zi­pli­nä­ren Semi­na­ren, Kol­lo­qui­en, Dis­kus­sio­nen und Vor­trä­gen, Inter­views, Aus­stel­lungs­er­öff­nun­gen, Podi­ums­dis­kus­sio­nen (u.a.: „Der Leib des Den­kers. Über Dich­tung und Den­ken“ mit Durs Grün­bein, Pir­min Ste­ke­l­er Weit­ho­fer, Vol­ker Caysa, Kon­stan­ze Schwarz­wald bereits 20072) und inner­halb des inter­na­tio­na­len Nietz­sche-Kon­gres­ses „Nietz­sche-Macht-Grö­ße“ unter Lei­tung von Vol­ker Caysa und Kon­stan­ze Schwarz­wald und der künst­le­ri­schen Lei­tung von Hagen Wiel und Lu Potemka.

Nähe­res ist zu fin­den unter:
www.empraxis.net
www.wikipedia.de: „Empra­xis“ und „Vol­ker Caysa

Bereits vor­han­de­ne Lite­ra­tur zum Empraktischen:

  • VOLKER CAYSA: Kör­pe­rut­opien. Eine phi­lo­so­phi­sche Anthro­po­lo­gie des Sports“. Frank­furt am Main/ New York 2003
  • VOLKER CAYSA/KONSTANZE Schwarz­wald (Hg.): Expe­ri­men­te des Lei­bes. Müns­ter Berlin/Zürich 2008.
  • KONSTANZE CAYSA/HARKO BENKERT (Hg.): Den­ken des Emprak­ti­schen. Frank­furt am Main 2015.
  • KONSTANZE CAYSA: Sehn­süch­ti­ge Kör­per – Eine Met­atro­pie. Und ein Film von Hagen Wiel. Ber­lin 2011.
  • KONSTANZE CAYSA: Aske­se als Ver­hal­tens­re­vol­te. Frank­furt am Main/ Wien 2015.
  • VOLKER CAYSA: Emprak­ti­sche Ver­nunft. Frank­furt am Main/ Wien 2016.
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Künstlerphilosophin. Sie promovierte zum Thema: „Sehnsüchtige Körper – Eine Metatropie“. Lehre seit 2006 an verschiedenen Hochschulen und Universitäten. Darunter: Philosophisches Institut der Universität Leipzig, Hochschule für Grafik und Buchkunst zu Leipzig, Kulturwissenschaftliches Institut der Uni Leipzig, Germanistische Institute der Universitäten Lodz, Piliscisiaba/Budapest und Sydney/Australien. Außerdem hielt sie Vorlesungen und Seminare vom WS 2012/13 – WS 2013/14 als Juniorprofessorin (i.V.) an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Uni Leipzig. Kolumnistin der Leipziger Zeitung seit 2015. Mitglied des kulturwissenschaftlichen Beirates Klinikum Bremen Ost. Von 2002 bis 2010 war sie Vorstandsmitgleid der Nietzsche Gesellschaft e.V.. Wichtigste Publikationen: Volker Caysa/ Konstanze Schwarzwald: Nietzsche – Macht – Größe (De Gruyter), Volker Caysa/ Konstanze Schwarzwald: Experimente des Leibes (Peter-Lang-Verlag 2008), Sehnsüchtige Körper – Eine Metatropie (2011), Askese als Verhaltensrevolte (2015), Denken des Empraktischen (2016). www.empraxis.net. Foto © Hagen Wiel

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