Wie können wir gesellschaftlicher Diversität Raum geben, und gleichberechtigte Repräsentation, Sichtbarkeit und Berufschancen für Frauen schaffen? Die Beantwortung dieser Fragen ist ein zentrales Erkenntnisinteresse der Geschlechterforschung und steht auch im Schaffen weiblicher Künstlerinnen im Fokus.
RAUM EINNEHMEN IN KUNST UND GESELLSCHAFT
In ihrem häufig rezipierten Essay von 1929 definiert Virginia Woolf die Grundvoraussetzungen für kreatives Arbeiten in der Literatur: Finanzielle Absicherung (500 Pfund pro Jahr) und »ein Zimmer für sich allein« (a room of one’s own). Insbesondere seit der Biedermeierzeit wurde der häusliche Bereich vermehrt der Frau zugewiesen. Dieser bot ihr aber keine Privatsphäre, keine Zeit für ungestörte Beschäftigung und keinen Raum für Kreativität – Voraussetzungen für literarische und künstlerische Tätigkeit. Das Streben nach eben diesem Raum charakterisiert die Geschichte der Frauenbewegungen in ihren unterschiedlichen »Wellen«, und somit auch deren Wirken in Kunst und Kultur. Gesellschaftlichen Platz (z. B. als Studentinnen an Universitäten, als Politikerinnen in Parlamenten, als Er Erwerbstätige in bezahlten Arbeitsverhältnissen) einzunehmen, war eine der zentralen Forderungen der ersten Frauenbewegung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Sich Raum zu schaffen innerhalb der Gesellschaft, innerhalb von Politik und Institutionen, war fundamentale Voraussetzung für eine Änderung der Rahmenbedingungen und eine Ausweitung der möglichen Lebensrealitäten von Frauen. Das von Virginia Woolf geforderte Zimmer ist also sowohl ein physischer Ort, eine Rückzugsmöglichkeit, ein Platz am Diskussions- und Entscheidungstisch, als auch eine Metapher für geistige Unabhängigkeit und für einen diskursiven Platz in der Geschichte, für das Einnehmen von Raum in Gesellschaft und künstlerischem Kanon.
DAS PRIVATE IST POLITISCH
»Why have there been no great women artists?«, fragt Linda Nochlin im Jahr 1971, und verweist auf die auch von Woolf thematisierten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Der Mangel an berühmten Künstlerinnen ist kein individuelles Problem, kein Mangel an Talent oder Fleiß, sondern eine Charakteristik des institutionellen Settings, in dem weibliche und männliche Kunstschaffende nicht vom gleichen Ausgangspunkt in ihr kreatives Schaffen starten können. Dies basiert auf gesellschaftlichen Zuschreibungen von Neigungen und Fähigkeiten, auf unterschiedlicher Wahrnehmung der künstlerischen Produktion von Männern und Frauen, aber auch im Zugang zu Bildung und Fähigkeitserwerb. Die strukturellen Unterschiede speisen sich aus privaten Rollenbildern und Erwartungshaltungen: Die Frau ist primär Mutter, Versorgerin, Pflegende, und somit immer mehr Unterstützerin als Gestalterin. Die zweite Frauenbewegung in den 1960er und 70er Jahren griff dieses Thema unter dem Leitmotiv »Das Private ist politisch« auf, und sah Gleichberechtigung hinsichtlich Care- und Reproduktionsarbeit als Voraussetzung für ausgeglichene Repräsentation in der öffentlichen Sphäre an. Durch die Unterscheidung zwischen Sex (biologischem Geschlecht) und Gender (sozialem Geschlecht und folgenden Rollenzuschreibungen) wurden mit Geschlechtscharakteren (Frauen seien biologisch determiniert eher häuslich, still, passiv, fürsorglich usw.) legitimierte Platzzuweisungen hinterfragt. Im künstlerischen Bereich verfasste Valie Export 1972 ein wegweisendes Manifest (Women’s Art: A Manifesto), in dem sie auf die Dominanz von Männern als Kunstschaffende und die durch eine männliche Perspektive auf Frauen geprägte gesellschaftliche Sichtweise eingeht. Ein ähnliches Konzept ist der von der Filmkritikerin Laura Mulvey (1975) thematisierte Male Gaze, der in Kunst und Film dominierende Blick eines heterosexuellen Mannes auf Frauen. Kunst kann also einerseits vorherrschende Rollenbilder verfestigen, hat aber auch ein inhärent revolutionäres Potential: Für Valie Export ist sie ein Medium für Selbst-Definition und für die Einführung neuer Werte für eine Gesellschaft, welche die Bedürfnisse von Frauen wahrnimmt und unterstützt – Kunst schafft Freiraum bzw. stellt auch selbst einen solchen Freiraum dar.
GOING GLOBAL: ERWEITERTE HANDLUNGSSPIELRÄUME
Freiraum zur Zusammenarbeit, insbesondere im internationalen Kontext, sich vernetzen, international ausrichten und Öffentlichkeit schaffen sind auch wichtige Elemente der sogenannten dritten »Welle« der Frauenbewegung, die ihren Ursprung in den 1990er Jahren hat. Intersektionale Elemente sind dabei im Fokus: Kimberlé Crenshaw prägte 1989 der Begriff einer Kreuzung (intersection), an der sich verschiedene Diversitätsdimensionen überschneiden, z. B. Gender und soziale Herkunft oder Gender und Migrationshintergrund. Intersektionalität bietet Raum für Identifikation über geschlechtszentrierte Perspektiven hinaus, und schafft gleichzeitig die Basis für mehr Internationalisierung. Die Frauenbewegung verlässt den europäischen und angloamerikanischen Referenzrahmen und wird global. Durch neue Informationstechnologien sind Austausch und Vernetzung nun leichter möglich. Digitale Räume eröffnen neue Perspektiven.
Im Kunst- und Musikbereich sorgt die Riot Grrrl-Bewegung ausgehend von den USA für frische Impulse und setzt sich zum Ziel, in unterschiedlichen Kunstformen aktive weibliche Künstlerinnen zu unterstützen. Die auf eigenen Publikationen, Aufnahmen und Ausstellungen basierende Do-It-Yourself (DIY) Kultur der Riot Grrrls ermöglicht eine Beteiligung auch außerhalb der etablierten Kunstszene – sich Raum schaffen und das »eigene Zimmer« werden breiter gestreute Elemente. Aktivistinnen wie die aus New York stammenden Guerilla Girls machen mit Billboards und Ausstellungen auf die mangelnde Repräsentation von weiblichen Künstlerinnen in großen Museen aufmerksam. Durch die Anonymisierung der beteiligten Personen soll bewusst die Aufmerksamkeit nur auf die vermittelte Botschaft gelenkt und gleichzeitig räumliche Omnipräsenz vermittelt werden: »We could be anyone and we are everywhere«.
TAKING UP SPACE IN DER DIGITALISIERTEN WELT
Präsenz und Vernetzung sind auch für die vierte Welle der Frauenbewegung, die etwa ab 2012 einsetzt, zentral. Wichtige Charakteristika sind die zunehmende Digitalisierung, eine große interne Heterogenität der Bewegung, und vor allem die Nutzung sozialer Netzwerke. Abseits des Digitalen nehmen Installationen wie jene von Katharina Cibulka mit ihrer »Solange«-Serie gezielt die öffentliche Wahrnehmung ein: Durch die Nutzung von Baugerüsten verknüpfen sich physische mit gesellschaftlichen Baustellen. Die Forderung nach Raum wird im Internet global und allgemein zugänglich und taking up space, Platz einnehmen, sich nicht klein machen, gesehen werden, bleibt im Fokus: In Aktivitäten gegen sexualisierte Gewalt, gegen Bodyshaming, gegen Hate Speech, aber auch in der weiteren Besetzung »klassischer« feministischer Themen wie der gerechten Aufteilung von Sorgearbeit (Care).
Niederschwelligere Zugänglichkeit und bessere Verbreitungsmöglichkeiten spiegeln sich auch in der Kunst wider; das Internet bietet einen großteils kostenlosen Rahmen, um Kreativität auszuleben und Werke zu präsentieren, und ermöglicht zudem einen globalen Austausch mit anderen Kunstschaffenden. Hashtags wirken als Sammlungen von Posts zu gesellschaftspolitisch relevanten Themen und ermöglichen Bewusstseinsbildung. So lässt sich auch gezielt nach künstlerischer Auseinandersetzung mit bestimmten gesellschaftlichen Ereignissen oder nach den Werken weiblicher Künstlerinnen suchen, was mehr Sichtbarkeit generiert. Neben den nicht zu leugnenden negativen Auswirkungen sozialer Medien (ständiger Vergleich mit anderen, Druck hin zu Inszenierungs- und Präsentierfähigkeit des eigenen Lebens), sind sie also auch digitale Räume, in denen losgelöst von örtlichen und zeitlichen Einschränkungen Interaktion stattfinden kann. Besonders spannend sind dabei der egalitäre Charakter (jede*r kann selbst nicht nur Beobachter*in sondern auch aktive*r Teilnehmer*in sein) und die Möglichkeit, gesellschaftliche Konventionen gezielt disruptiv aufzubrechen. Instagram, das auf das Teilen von visuellen Inhalten (Bilder, kurze Videos) ausgerichtet ist, kommt für künstlerische Repräsentation eine besondere Rolle zu: Katy Hessel vom Instagram Channel »The Great Woman Artists« sieht die Plattform als digitale Galerie, die Lebenserfahrungen und soziale Kommentare in der Form von Kunst zugänglich macht. Die Rolle künstlerischen Schaffens als Spiegel gesellschaftlicher Erfahrungswelten und als Möglichkeit zur Interaktion und Diskussion lässt sich im Online-Bereich noch unmittelbarer und intensiver erleben. Es entsteht ein allgemein zugänglicher Raum, der eine Sammlung von Inhalten bietet, sich zum Austausch eignet, eine Möglichkeit zur eigenen Positionierung und Repräsentation bietet, und gleichzeitig Platz für eigene künstlerische Tätigkeit lässt – ein digitaler »Room of One’s Own«.