Berthe Morisot – Camille Claudel – Frida Kahlo
Unabhängigkeit? Ich bin versucht, zu sagen, dass es keine Unabhängigkeit gibt. Dass es allenfalls eine begrenzte oder vorübergehende Unabhängigkeit gibt, dem kann ich zustimmen.
Vielleicht ist das erste und einzige Erleben von Unabhängigkeit das des Kleinkinds, wenn es wankend aber strahlend die ersten Schritte ohne eine haltende Hand wagt. Es weiss nichts von Unabhängigkeit und ist glücklich. Bewusst geht es diesem Begriff wohl erst viele Jahre später nach, wenn es sich jugendlich vom bisherigen zu Hause löst, um in eine Wohngemeinschaft oder gar in eine eigene Wohnung zu ziehen. Endlich Unabhängig! Vermeintlich, denn man ist immer irgendwie abhängig. Der Mensch ist von Natur aus abhängig. Unabhängigkeit ist nur ein Zweitbegriff.
Sie lesen diesen Artikel und so will ich von drei Künstlerinnen und ihrem Streben nach Unabhängigkeit erzählen.
Berthe Morisot, 1841–1895, kann aufgrund ihrer wohlhabenden und angesehenen Familie als unabhängige Malerin gesehen werden, allerdings nur, solange es die gesellschaftlichen Konventionen erlaubten. Zusammen mit ihrer Schwester Edma erhielt sie privaten Malunterricht. Erst 1897 erlaubte die Pariser Kunstakademie auch den Frauen ein Kunststudium. Aber Berthe war privilegiert. Bei den Abendgesellschaften im Elternhaus waren Künstler zu Gast, die von Einfluss auf die Geschwister waren: Camille Corot wurde einer ihrer Lehrer, Millet, der sie in der Kunst der Bildhauerei unterwies, Edouard Manet, von Fantin-Latour eingeführt, wurde zu einer wichtigen Begegnung, wie auch Degas Einfluss auf Berthes künstlerische Entwicklung nahm. Die „unabhängigen Schwestern“ durften ihre ersten Bilder im Pariser Salon ausstellen, der Beginn einer professionellen Malerkarriere. Dank ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit musste Berthe Morisot sich nie um den Verkauf ihrer Bilder bemühen. Doch die Unabhängigkeit war limitiert. Manet bat Berthe, ihm Modell zu sitzen. Der Anstand verlangte, dass die Mutter im Atelier dabei war, schliesslich waren die Modelle der Maler diesen üblicherweise auch sexuell verfügbar. Als die Schwester Edma heiratete und in die Bretagne zog, musste Berthe eine weitere Unabhängigkeit aufgeben: Die Malausflüge mit der Schwester waren nicht mehr möglich. Die Konvention erlaubte es Berthe nicht, dies alleine zu tun. In einem Brief an die Schwester beklagt sie sich darüber. Berthe Morisot gilt als eine der besten Malerinnen am Ende des 19. Jahrhunderts. Drei Jahre vor ihrem Tod fand ihre erste grosse Einzelausstellung statt. Wirtschaftlich war sie stets unabhängig, die gesellschaftlichen Konventionen machten sie zur Abhängigen.
Eine der bedeutendsten Bildhauerinnen ihrer Zeit war Camille Claudel, 1864–1943. Schon als Kind modelliert sie, im Alter von 13 Jahren erklärt sie, Bildhauerin werden zu wollen. Der Vater unterstützt sie, sorgt, dass die 16-Jährige in eine private Kunstschule aufgenommen wird, an der weibliche Studenten zugelassen sind und er richtet auf ihren Wunsch eine Wohnung am Montparnasse ein. Mit drei anderen jungen Frauen teilt sie ein eigenes Atelier. Unabhängig! 19-jährig wird Auguste Rodin ihr Lehrer. Rodin erkennt das aussergewöhnliche Talent und bietet ihr an, Mitarbeiterin seines Ateliers zu werden. Bald ist sie dem Meister ebenbürtig, ist seine Inspiration und Muse, längst wurde die Lieblingsschülerin zur Geliebten des 24 Jahre älteren Rodin. Die Beziehung wird problematisch, Camille fühlt sich ausgenutzt und als sie schwanger wird, heiratet er sie nicht. Sie trennt sich, um wieder künstlerisch unabhängig zu werden. Das gelingt der Mitt-Dreissigerin nicht mehr. Sie zerstört die meisten ihrer Kunstwerke. Nach dem Tod ihres Vaters, der sie stets unterstützte, weisen ihr Bruder Paul Claudel, Dichter und Diplomat und ihre Mutter sie in eine psychiatrische Klinik ein, in der sie 30 Jahre, bis zu ihrem Tod verbleibt, ohne je wieder eine Skulptur geschaffen zu haben.
Die dritte Dame, über deren Verlangen nach Unabhängigkeit ich berichte, ist die Mexikanerin Frida Kahlo, 1907–1954. Ich halte sie für die bedeutendste Malerin Lateinamerikas. Eine Frau mit starkem Willen, die sich trotz ihrer Behinderungen – als 6‑Jährige erkrankt sie an Kinderlähmung, mit 18 Jahren erleidet sie einen schweren Verkehrsunfall, an dessen Folgen sie zeitlebens leidet – politisch engagiert, ihr Geburtsjahr fälschlich mit 1910 angibt, dem Jahr der Revolution. Sie unterstützt den vor Stalin ins mexikanische Exil geflüchteten Trotzki und verehrt doch Stalin. Ihr Verlangen nach Unabhängigkeit lässt sie aus der kommunistischen Partei austreten. Im Krankenbett beginnt die 19-Jährige zu malen und verarbeitet in ihren Bildern ihre körperlichen Gebrechen, ihre seelischen Qualen. 22-jährig heiratet sie den 20 Jahre älteren Diego Rivera, berühmt mit seinen grossen politisch-revolutionären Wandbildern. Nach 10 Jahren Ehe lassen sie sich scheiden, um nach einem Jahr erneut zu heiraten. Beide leben ihren Drang nach Unabhängigkeit auch in zahllosen Affairen aus und hängen doch extrem aneinander. Nach dem Tod von Frida Kahlo verfügt Diego Rivera, dass ihre im Museum ihres Geburtsortes Coyoacán befindlichen Bilder Mexico niemals verlassen dürfen.
Unabhängig – abhängig? Diese Frage möge Ihnen Anreiz sein, über Geschehen aus Ihrem Umkreis nachzudenken.