Scheinbar unvereinbar haben Kunst und Ökonomie doch einige gemeinsame Nenner. Etwa den Faktor der Unsicherheit, der in beiden Bereichen eine durchaus relevante Rolle spielt – nicht nur angesichts der gegenwärtigen weltumspannenden Situation, die zahlreiche Kunstschaffende vor neue ökonomische Herausforderungen stellt. Kunst kann Ausdruck für Unsicherheit sein, Unsicherheit gleichzeitig Motor oder Blockade der Kunst. Ein ständiger Zustand der Ambivalenz, der sich eindrücklich anhand des Gemäldes „Le Tricheur à l’as de carreau” des französischen Barockkünstlers Georges de La Tour veranschaulichen lässt. Das Gemälde zeigt auf den ersten Blick ein Kartenspiel, also ein Spiel mit unsicherem Ausgang.
Bei genauerer Betrachtung erkennen wir jedoch den Tricheur, den Betrüger, der weitere Karten hinter dem Rücken hält und damit die Spielregeln entscheidend verändert. La Tour verdeutlicht, dass wir uns selbst über die Regeln und Wahrscheinlichkeiten, welches ein Spiel beinhaltet, nie ganz sicher sein können. Ganz ähnlich verhält es sich mit ökonomischen Modellen – auch sie sind eine Kunst für sich. Neben den modellinhärenten Unsicherheiten sind sich Ökonomen auch stets darüber unsicher, ob ein gewähltes Modell die Regeln und Wahrscheinlichkeiten einer Ökonomie richtig abbildet.
Müsste man den gegenwärtigen Zustand der Welt mit einem einzelnen Wort beschreiben, wäre „Unsicherheit“ vermutlich einer der adäquatesten Begriffe dafür. Unsicherheit bleibt ein obskurer Begriff, den die Literatur und auch die Kunst bis heute nicht in Einklang bringen und in einer einzigen Definition zusammenfassen kann.
Volksentscheide wie der Brexit, die Kriegswirren im Nahen Osten, der Ausbruch des Coronavirus oder der Wahlkampf in den USA sorgen für unsichere Zeiten, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Während Unsicherheit im deutschen Sprachgebrauch negativ konnotiert ist – wir verbinden den Anstieg von Unsicherheit mit einem Anstieg der Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis negativere Konsequenzen für uns haben wird als bis dahin erwartet – definieren Ökonomen Unsicherheit als die Streuung unserer Erwartungen. Anders erklärt: In der Volkswirtschaftslehre bedeutet ein Anstieg der Unsicherheit nicht nur einen Anstieg der Wahrscheinlichkeit, dass es schlechter kommt als erwartet, sondern auch einen Anstieg der Wahrscheinlichkeit, dass es besser kommt als erwartet. Volkswirtschaftlich betrachtet impliziert ein Anstieg von Unsicherheit somit auch neue Chancen.
DIE WIRKUNGSWEISE VON UNSICHERHEIT
Obgleich vorher genannter Symmetrie hat ein Anstieg von Unsicherheit negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Für die negativen Effekte der Unsicherheit sind vordergründig zwei Mechanismen verantwortlich. Der erste Mechanismus fußt auf dem Prinzip des abnehmenden Grenznutzens. Dieses Prinzip beschreibt die Gegebenheit, dass eine zusätzliche Einheit einen kleineren Nutzen stiftet, als die Reduktion derselben Einheit, Nutzen verringert. So ist eine Gehaltskürzung von monatlich 200 Euro üblicherweise schmerzhafter, als uns eine Gehaltserhöhung im selben Umfang lieb ist. Zwar erhöht ein Anstieg der Unsicherheit Chancen und Risiken im gleichen Umfang, da die Risiken jedoch negativer, als die Chancen positiv bewertet werden, führt dies zu einem Zögern bei Wirtschaftsakteuren: Konsumenten verschieben Konsumentscheidungen, Firmen schieben Investitionen und Personalentscheidungen auf und Banken zögern die Vergabe von Krediten hinaus. Das zögerliche Verhalten resultiert in einer geringeren Gesamtnachfrage, was eine Verlangsamung der konjunkturellen Entwicklung mit sich zieht.
Der zweite Mechanismus, weshalb Unsicherheit zu einer Abschwächung der Wirtschaftsdynamik führt, liegt in den realen Anpassungskosten. Bau- und Ausrüstungsinvestitionen sind stets mit Kosten verbunden, welche über die reinen Anschaffungskosten hinausgehen. Diese Kosten umfassen unter anderem Produktionsunterbrechungen während der Bau- oder Installationsphase oder aber zusätzliche Schulungen, um Mitarbeiter mit neuen Produktionsanlagen oder neuer Software vertraut zu machen. Zudem sind Kapitalinvestitionen teilweise irreversibel. Dies bedeutet, dass ein Unternehmen getätigte Investitionen meist nur mit einem Abschlag wieder veräußern kann. Aufgrund dieser Anpassungskosten und der Irreversibilität kann es für Unternehmen profitabel sein, bei einer Erhöhung der Unsicherheit bestimmte Investitionsprojekte aufzuschieben. Ähnlich verhält es sich mit den Beschäftigten. Auch Anpassungen bei der Anzahl der Mitarbeiter wie etwa Neueinstellungen und Entlassungen führen üblicherweise zu Zusatzkosten. So kann sich die Suche nach einem geeigneten Mitarbeiter oft als kostenintensiv erweisen. Kündigungen können hingegen beachtliche Abfindungen und Rechtskosten mit sich ziehen. Tatsächlich belegen wissenschaftliche Studien, dass in Zeiten erhöhter Unsicherheit Unternehmen darauf verzichten, offene Stellen zu besetzen, um nicht zusätzliche Suchkosten stemmen zu müssen. Anpassungskosten führen somit dazu, dass Unternehmen bei einem Anstieg der Unsicherheit mit einem Aufschub von Investitionen und Personalentscheidungen reagieren. Das geringere Investitionsvolumen und die sinkende Beschäftigung reduziert wiederum die Gesamtnachfrage, was sich, wie bereits erwähnt, negativ auf die Ökonomie auswirkt. Kurzum: Empirische Studien zeigen, dass sich steigende Unsicherheit negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung einer Ökonomie auswirkt. Ein unerwarteter Anstieg von Unsicherheit reduziert Investitionen und Beschäftigung und führt zu einem Rückgang des Konsums und der Produktion.
Wirtschaftliche Hochzeiten haben genauso wie Krankheit und Unsicherheit seit jeher ihren Ausdruck in der Kunst gefunden.
SUBJEKTIVITÄT UND ERWARTUNGEN SPIELEN EINE GROSSE ROLLE
Unsicherheit bezieht sich stets auf unsere Erwartungen. Wirtschaftliche Akteure wie Konsumenten und Unternehmen treffen ständig Entscheidungen und passen ihre Gewohnheiten und Tätigkeiten laufend an sich ändernde Bedingungen an. Auf der einen Seite reagieren Firmen und Haushalte auf bereits eingetroffene Ereignisse: Geht eine Bestellung bei einem Unternehmen ein, wird das bestellte Produkt produziert. Wird einem Beschäftigten das Gehalt gekürzt, hat das Auswirkungen auf sein Konsumverhalten. Zusätzlich zu realisierten Ereignissen, reagieren wirtschaftliche Akteure aber auch aufgrund noch nicht eingetretener Ereignisse. Ein Unternehmen, dessen Hauptkonkurrent vom Markt verschwindet, wird vermutlich seine eigene Produktion erhöhen, um einen eventuellen Anstieg der Nachfrage bedienen zu können. Obwohl sich die zusätzliche Nachfrage beim Unternehmen selbst noch nicht eingestellt hat, bereitet sich das Unternehmen bereits auf den erwarteten Anstieg vor. Das bedeutet, dass ökonomische Akteure auf sich verändernde Erwartungen reagieren. Neben der Reaktion auf sich verändernde Erwartungen, reagieren Haushalte und Unternehmen aber auch auf Veränderungen der Unsicherheit bezüglich ihrer Erwartungen.
DIE URSACHEN DER UNSICHERHEIT UND IHRE WIRTSCHAFTSPOLITISCHE RELEVANZ
Die Ursachen der Unsicherheit sind oft in politischen Entscheidungen zu finden. Zwar erhöhen auch Faktoren wie Naturkatastrophen, Terroranschläge oder der Ausbruch von Epidemien die allgemeine Unsicherheit, ein beachtlicher Teil resultiert jedoch aus politischen Entscheidungen. Der Brexit, die drohende Wiedereinführung hoher Importzölle unter Donald Trump oder die Präventionsmaßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus sind Beispiele politischer Entscheide, die zu erhöhter Unsicherheit führten. Politische Entscheide sind nicht nur für einen Großteil der Unsicherheit verantwortlich, wirtschaftspolitische Maßnahmen und Unsicherheit stehen auch in einer andauernden Wechselbeziehung. Zum einen können politische Entscheidungen selbst, die Unsicherheit in einer Ökonomie erhöhen. Das Level der Unsicherheit beeinflusst wiederum die Wirksamkeit von wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Da Unsicherheit das Zögern von Unternehmen und Haushalten erhöht, nimmt auch die Reaktion dieser wirtschaftlichen Akteure auf fiskal- oder geldpolitische Anreize ab. Ein und dieselbe fiskaloder geldpolitische Maßnahme wirkt daher in Zeiten mit geringer Unsicherheit stärker als in Zeiten hoher Unsicherheit. Mit anderen Worten: Um denselben Effekt zu erzielen, muss ein fiskal- oder geldpolitischer Impuls bei hoher Unsicherheit deutlich stärker ausfallen als bei geringer Unsicherheit.
WIE LÄSST SICH UNSICHERHEIT NUN MESSEN?
Ergebnisse wissenschaftlicher Studien deuten darauf hin, dass Unsicherheit für eine Volkswirtschaft tendenziell schädlich ist. Doch wie kann man sich darauf vorbereiten und bei einem plötzlichen Unsicherheitsschock entsprechend reagieren? Ist Unsicherheit überhaupt messbar? Klar ist: Um die schwer greifbare Unsicherheit zu erfassen, braucht es geeignete Maße. Eine geläufige Methode ist die regelmäßige, über Jahre hinweg laufende Befragung von Unternehmen bezüglich ihrer Erwartungen. Je stärker die Erwartungen der befragten Unternehmen variieren, desto eher kann auf eine erhöhte Unsicherheit innerhalb einer Zeitspanne geschlossen werden. Weitere Beispiele für Unsicherheitsindikatoren sind Finanzmarktvolatilitätsmaße (z.B. der VIX oder VDAX) oder die Streuung von Prognosefehlern von Unternehmen. Gehen außerdem die Prognosen professioneller Prognostiker weit auseinander, ist auch das ein Zeichen erhöhter Unsicherheit. Aktuell wird in mehreren Ländern damit begonnen, Unternehmen nicht nur nach ihren Erwartungen, sondern auch nach der Unsicherheit bezüglich dieser Erwartungen zu befragen. Dass die Europäische Kommission diese Frage in den Hauptteil der Unternehmensbefragungen sämtlicher Mitgliedstaaten integrieren möchte, zeugt von der Wichtigkeit, welche die politische Ebene der Unsicherheit mittlerweile beimisst.
DIE MEDIALE UNSICHERHEIT
Einer der bedeutendsten Unsicherheitsindikatoren ist der auf Zeitungsartikeln basierende Economic Policy Uncertainty Index. Dieser Indikator basiert auf der Idee, Zeitungsartikel zu zählen, welche eine Kombination der Wörter Unsicherheit und Wirtschaft sowie wirtschaftspolitischer Wörter wie etwa Steuern, Regulierung oder Haushalt beinhalten. Der Indikator versucht die gefühlte Unsicherheit einer Volkswirtschaft abzubilden und beruht auf der Annahme, dass Zeitungen die allgemeine Stimmung, das Sentiment der Bevölkerung spiegeln. Der intuitive Ansatz, die zeitnahe Verfügbarkeit sowie die langen historischen Zeitreihen machen diesen Indikator aus wissenschaftlicher und wirtschaftspolitischer Sicht besonders attraktiv.
WAS UNS DAS NUN BRINGT?
Die aktuellen Fortschritte in der Messung von Unsicherheit erlauben den politischen Entscheidungsträgern eine zielgerichtetere und effizientere Gestaltung von Politikmaßnahmen. Ist das Level der vorherrschenden Unsicherheit bekannt, so kann der mit einer Maßnahme einhergehende Fiskalimpuls besser dosiert werden. Sprich, möchte die öffentliche Hand private Investitionen in den Wohnbau mittels Steuersubventionen fördern, müssen die Steuererleichterungen in einer Phase hoher Unsicherheit deutlich höher ausfallen als in einer Phase geringer Unsicherheit. Eine präzise und zeitnahe Messung von Unsicherheit erlaubt somit eine effiziente Gestaltung wirtschaftspolitischer Maßnahmen.
Die Messbarkeit verleiht der Unsicherheit etwas Planbares und vermittelt uns die Sicherheit, dass wir uns über den tatsächlichen Zustand der Welt im Klaren sind. Leider ist diese Sicherheit oft trügerisch. Vom eingangs beschriebenen Gemälde etwa existieren zwei Versionen: eine im Louvre und eine in Fort Worth, Texas. Gerüchten zufolge ist nur eines der beiden Gemälde ein echter La Tour.