Kunst darf nicht bürgerlich sein!

Interview mit dem CHOREOGRAPHEN MARTIN SCHLÄPFER zu den kreativen Prozessen im Tanz

geführt von Esther Sut­ter und Bern­hard Hainz

Er woll­te eigent­lich Bio­bau­er wer­den. Mar­tin Schl­äp­fer, gebo­ren im länd­li­chen Kan­ton Appen­zell in der Schweiz, ist seit der Spiel­zeit 2020/21 Direk­tor und Chef­cho­reo­graph des Wie­ner Staats­bal­letts. Er bestellt nun die Lauf­bahn und Kar­rie­ren von 101 Tän­ze­rin­nen und Tän­zern, die des Wie­ner Staats­bal­letts. Die Brü­cken zurück zum Bio­bau­er sind Mar­tin Schl­äp­fers Aus­dau­er, sei­ne Mensch­lich­keit, sei­ne Direkt­heit, Kraft und sein Feu­er für die Kunst. Er woll­te schon immer den Din-gen auf den Grund gehen – und sei­en sie so flüch­tig wie im Tanz. Zunächst ist ihm das gelun­gen durch sei­ne inter­na­tio­na­le Kar­rie­re als vir­tuo­ser Tän­zer. Er hat das Reper­toire des klas­si­schen und neo­klas­si­schen Bal­letts wie des zeit­ge­nös­si­schen Tan­zes im Blut, es hat sich in sei­nen Kör­per ein­ge­schrie­ben. Mar­tin Schl­äp­fer ist auf höchst selbst­ver­ständ­li­che Art ein Wan­de­rer zwi­schen Schu­len und Sti­len. Mit sei­ner Hart­nä­ckig­keit, sei­nem Gespür für die Stim­mun­gen und Fra­ge­stel­lun­gen unse­rer Zeit und sei­ner eben­so sen­si­blen wie küh­nen Musi­ka­li­tät hat er einen cho­reo­gra­phi­schen Werk­ka­ta­log erar­bei­tet, der heut­zu­ta­ge sei­nes­glei­chen auf der inter­na­tio­na­len Tanz­büh­ne sucht. Da-mit hat er zuletzt das mehr­fach preis­ge­krön­te Bal­lett am Rhein Düs­sel­dorf Duis­burg zu inter­na­tio­na­lem Rang geführt. Nun also Wien. Das Wie­ner Staats­bal­lett, eine der tra­di­ti­ons­reichs­ten Tanz­in­sti­tu­tio­nen welt-weit, zeigt Mut mit sei­ner Wahl von Mar­tin Schl­äp­fer – erst recht in Zei­ten der Pandemie.

Das rie­si­ge Ensem­ble von 101 Tän­ze­rin­nen und Tän­zern – ver­teilt auf 2 Com­pa­nies – ist mitt­ler­wei­le auf sei­nen Cho­reo­gra­phen ein­ge­schwo­ren. Schl­äp­fer for­dert von allen Mit­glie­dern Offen­heit und Risi­ko­be­reit­schaft im Kör­per wie im Geist, for­dert künst­le­ri­sche Neu­gier und den Drang, neue Gefil­de, neu­es Ter­rain zu erfor­schen. Ver­traut, bereits als Tän­zer, mit den Wer­ken des Bal­lett-Erneue­rers Geor­ge Balan­chi­ne, des Bal­lett-Evo­lu­tio­närs Heinz Spoer­li, des Tanz-Ana­ly­ti­kers Hans van Manen und des Bal­lett-Revo­lu­tio­närs Wil­liam For­sy­the, geht Schl­äp­fer in sei­nen Cho­reo­gra­phien eige­ne und für die Ent­wick­lung der Tanz­büh­ne heu­te neue Wege. Far­ce und Fake, in unse­rem elek­tro­ni­schen Zeit­al­ter all­ge­gen­wär­tig, sind ihm ein Gräu­el. Mar­tin Schl­äp­fer sucht in sei­ner Kunst mit ent­waff­nen­der Offen­heit den heu­ti­gen Men­schen, sein Leid, sei­ne Freu­den, sei­ne Lust und sei­nen Frust in einer dyna­misch sich wan­deln­den Welt.

Ihre Tanz­wer­ke sind inten­si­ve Kör­per­bil­der, Bil­der, die ohne Nar­ra­ti­on aus­kom­men und sich dem Publi­kum ganz direkt ver­mit­teln, die – wie Sie sagen – »ener­ge­tisch gele­sen wer­den wol­len«. Sie sind als Cho­reo­graph wage­mu­tig, for­dernd, wol­len mit Ihren Tän­zern »in den Raum« gehen, Sie mögen die Kon­fron­ta­ti­on. Ihre Tän­ze­rin­nen und Tän­zer sol­len sich in die­sem »Raum« mit jeder Faser und Facet­te ihres Seins begeg­nen. Was ist der Ursprung Ihres cho­reo­gra­phi­schen Schaf­fens, was treibt Sie an?

MARTIN SCHLÄPFER: Ich set­ze im Bal­lett­saal bewusst auf Kon­fron­ta­ti­on. Mir geht es um ein wirk­li­ches, mög­lichst unver­stell­tes Ein­an­der-Begeg­nen, Sich-Anschau­en und Wahr­neh­men. Das ist für den Kunst­ver­such, wie ich mei­ne cho­reo­gra­phi­sche Arbeit nen­ne, not­wen­dig. Tanz und Bal­lett müs­sen sich über das äußerst kom­ple­xe, indi­vi­du­ell von Eltern­haus und Gesell­schaft erzo­ge­ne, psy­chisch und phy­sisch kon­di­tio­nier­te Gebil­de Mensch« hin­aus unver­stellt mit­tei­len. Das heißt: den Kör­per –so trai­niert und form­voll­endet er auch sein mag – im Aus­tausch mit allen Sin­nen, dem Kopf, dem Bauch und den Instink­ten, spre­chen las­sen. Ein Den­ken, das nicht los­lässt, um im Moment zu agie­ren, son­dern sich im krea­ti­ven Pro­zess aus der Ver­gan­gen­heit und Erfah­rung speist, engt ein. Es ver­hin­dert das mög­li­che Anzap­fen von etwas Mys­ti­schem, Ande­rem, Uner­klär­ba­rem – einem Geheim­nis, das jeder gro­ßen Kunst inne­wohnt. Dies gilt für allen Tanz, der sich auf einer Büh­ne prä­sen­tiert. Was mich antreibt, ist das Künst­ler-Sein und damit eine phi­lo­so­phi­sche Fra­ge­stel­lung. Es gilt im cho­reo­gra­phi­schen Pro­zess »Zustän­de« zu fin­den, die nicht ein­ge­mau­ert und sicher daste­hen wie wir das von »drau­ßen im Leben« ken­nen. Sicher braucht unse­re Psy­che die Illu­si­on der Sicher­heit ein Stück weit. Aber ich sage immer wie­der: »Kunst wie Künst­ler dür­fen nicht bür­ger­lich sein.« Das ist viel­leicht das Radi­ka­le an mir, das, was ich in jeder Pro­be, in jedem Trai­ning zu fin­den ver­su­che. Ich bin mir dabei bewusst, dass dies ange­sichts einer Bal­lett­aus­bil­dung, die auch heu­te Tän­ze­rin­nen und Tän­zer oft in falsch ver­stan­de­ne Form und Scha­blo­nen presst, eine Her­aus­for­de­rung ist, die von allen Betei­lig­ten viel fordert.

Wie wirkt sich die­se Ihre Kunst­sicht auf die Aus­wahl der Tän­ze­rin­nen und Tän­zer aus?

Musi­ka­li­tät, eine extre­me Kör­per­lich­keit und ein in sei­nem Kör­per Zu-hau­se-Sein sind Grund­vor­aus­set­zun­gen, um mei­ne Stü­cke inter­pre­tie­ren zu kön­nen. Hohe Bei­ne, Kraft, stu­pen­de Tech­nik, Schön­heit im wirk­li­chen Sin­ne des Wor­tes und eine nicht aus­tausch­ba­re Per­sön­lich­keit natür­lich auch. Ich habe spe­zi­fi­sche, sehr außer­ge­wöhn­li­che Ansprü­che an den Gebrauch der Arme und Hän­de. Hin­zu kom­men für mich – um auf Augen­hö­he mit einem Tän­zer ein Stück erar­bei­ten zu kön­nen – Ima­gi­na­ti­on, der Mut, Gren­zen im Kopf und Kör­per zu über­schrei­ten, psy­chi­sche Offen­heit, gegen­sei­ti­ges Ver­trau­en, Respekt und ein Mensch­sein, das ver­sucht, sich mit die­ser Welt aus­ein­an­der zu set­zen, ger­ne dis­ku­tiert, eine Mei­nung und etwas zu sagen hat und nicht nur aus­führt. Ich muss hören kön­nen, was gedacht wird, wie es dem Tän­zer geht.

Die Musik spielt in Ihrem cho­reo­gra­phi­schen Werk eine tra­gen­de Rol­le. Sie arbei­ten ger­ne mit gro­ßen Kom­po­si­tio­nen der Klas­sik, aber zuwei­len auch mit zeit­ge­nös­si­schen Kom­po­nis­ten. In Wien war bis­her die Sym­pho­nie Nr. 4 von Gus­tav Mahler zu sehen. Das Bal­lett ver­birgt sich hin­ter dem ein­fa­chen Titel »4«. Zum ers­ten Mal inte­griert ein Cho­reo­graph des Wie­ner Staats­bal­letts alle 101 ihm zur Ver­fü­gung ste­hen­den Tän­ze­rin­nen und Tänzer.
Wie berei­ten Sie sich vor, was geschieht, bevor Sie im Bal­lett­saal auf Ihr Ensem­ble tref­fen, mit ihm »in den Raum« gehen?

Ich höre am Anfang sehr viel und häu­fig die Musik, zu der ich einen Tanz machen will oder in die ich eine Tanz-Welt hin­ein­zu­stel­len pla­ne. Frü­her habe ich die Par­ti­tu­ren akri­bisch stu­diert und aus­ge­zählt und in vie­le mög­li­che cho­reo­gra­phi­sche oder dra­ma­tur­gi­sche Sequen­zen unter­teilt. Heu­te arbei­te ich aus­schließ­lich über das Ohr. Ich zäh­le bewusst nie – oder nur sehr sel­ten, um die musi­ka­li­sche Struk­tur den Tän­zern schnel­ler ver­mit­teln zu kön­nen. Zäh­len degra­diert Musik zum »Puls-Erleb­nis». Ein paar Wochen bevor ich mit den Pro­ben begin­ne, höre ich auf, die Musik zu hören. Ich brü­te aus, was ich recher­chiert, gesam­melt und gele­sen habe – las­se es wie in einem »Wäsche­knit­ter­schutz­pro­gramm« im Bauch lang­sam hin und her pen­deln. Nichts Kon­kre­tes pas­siert mehr. Wenn ich dann mit der ers­ten Pro­be begin­ne, wird es inten­siv. Alles, was ich weiß und bin, glau­be zu sein und eben auch nicht bin, muss nun zusam­men kom­men, eva­lu­iert, bestä­tigt oder ver­wor­fen wer­den – nicht im Sin­ne von Har­mo­nie, son­dern als ein per­ma­nen­ter Schlag­ab­tausch. Dazu kommt das dra­ma­tur­gi­sche Ziel, aber auch die gesell­schaft­li­che, poli­ti­sche Welt­la­ge. Ein Bal­lett muss immer und pri­mär auch ein Stück wer­den – so »abs­trakt« es auch daher­kom­men mag. Es muss mit dem Heu­te, dem Jetzt zu tun haben, sich aus ihm näh­ren. Das gilt übri­gens genau­so für eine »Gisel­le». Jeder, der sich anmaßt, eine klas­si­sche »Gisel­le« zu pro­ben, müss­te die Sym­bo­le der Roman­tik ken­nen, den aka­de­mi­schen Kanon stu­diert haben und beherr­schen und zugleich aber auch wis­sen, dass eine Tän­ze­rin von heu­te anders denkt, eine ande­re Mus­ku­la­tur hat. Mit ihr zusam­men müss­te er Schritt für Schritt eine inne­re Über­set­zung des Stof­fes aus­ar­bei­ten und damit die Anbin­dung einer soge­nannt »ori­gi­na­len« Gisel­le an das Heu­te hin­krie­gen. Nur so lebt Tra­di­ti­on wei­ter, sonst ist sie ein Muse­um – und nährt nur die dümm­li­che Tren­nung zwi­schen den Liebhaberlagern.

Mar­tin Schl­äp­fer, Foto: Andre­as Jakwert

Für mich sind alle Küns­te als Impuls-Geber wich­tig. Zum Spie­geln, Ler­nen, um die Mensch­heit zu ver­ste­hen, die­se zu ertra­gen. Und natür­lich weiß ich um die Ver­bin­dun­gen: ohne Matis­se und Picas­so hät­te es für Balan­chi­ne kein »Agon« gege­ben. Aber wäh­rend für Hans van Manen oder Heinz Spoer­li die Bil­den­den Küns­te essen­ti­ell sind, sind für mich eher die Lite­ra­tur, die Phi­lo­so­phie, das Poli­ti­sche, die Musik, die Natur, das Psy­chi­sche, die Archi­tek­tur und viel­leicht noch Gär­ten wichtig. 

Welche Kri­te­ri­en sind aus­schlag­ge­bend bei der Wahl einer Komposition? 

Manch­mal wäh­le ich genau die Kom­po­si­ti­on, die ich mir wün­sche. Häu­fi­ger – da ich auch Bal­lett­di­rek­tor bin – las­se ich unse­ren Gast-Cho­reo­gra­phen die Frei­heit und den Vor­tritt und »baue« mich erst dann dazu. Aus­schlag­ge­bend ist, was dra­ma­tur­gisch rich­tig und wich­tig für einen Abend und sinn­voll für das Orches­ter ist. Wählt ein Gast nur die Strei­cher, ver­su­che ich, den gesam­ten Klang­kör­per für mei­ne Krea­ti­on zu inte­grie­ren. Nur des­we­gen fin­den sich so vie­le ver­tanz­te Sym­pho­nien in mei­nem Œuvre. Frei­wil­lig ent­stan­den ist davon nur weni­ges. Aber es ist falsch zu glau­ben, dass man nur ein gutes Stück hin­kriegt, wenn man genau die Musik wäh­len kann, die einem vor­schwebt und von der man sich inspi­riert glaubt. Ganz im Gegen­teil: Etwas, das einen nicht sofort anspringt, kann Erstaun­li­ches mobi­li­sie­ren – etwas, von dem man gar nicht wuss­te, dass man es in sich hat. Du brauchst nicht die Welt, um frei zu sein. Musik ist für mich eine gleich­wer­ti­ge Part­ne­rin – aber ich unter-wer­fe mich ihr nicht. Ich ver­ste­he Cho­reo­gra­phie­ren nicht als Auf­trag, die Par­ti­tur im Raum mit dem Tän­zer sicht­bar zu machen. Die Par­ti­tur ist das eine. Das, was sie aus­zu­lö­sen ver­mag, das andere.

Und nun ist die­se ganz­heit­li­che kör­per­li­che Über­tra­gung, die Sie im Tanz ja immer suchen, plötz­lich weg. Wird zum elek­tro­ni­schen Bild. Die Pan­de­mie stand am Beginn Ihrer Ära beim Wie­ner Staats­bal­lett. Der Tanz, die kör­per­lichs­te aller Küns­te, muss­te über­setzt wer­den. Wel­che Erfah­run­gen haben Ihnen die Online-Über­tra­gun­gen Ihres Tanz­werks »Mahler, live« mit dem Bal­lett »4« für die Wie­ner Staats­oper gebracht? Sie, aber auch Ihre Tän­zer, neh­men sich im cho­reo­gra­phi­schen Pro­zess nicht mehr nur mit allen ihren Sin­nen wahr, das Auge der Kame­ra, ein Auge von Außen, tanzt ja da mit.

Wir hat­ten lan­ge gehofft, dass mei­ne ers­te Krea­ti­on für das Wie­ner Staats­bal­lett zur 4. Sym­pho­nie von Gus­tav Mahler eine ech­te Pre­mie­re erle­ben könn­te. Aber dann kam der erneu­te Lock­down und zunächst blieb unklar, ob es über­haupt einen Stream geben wird. Trotz des auf­wän­di­gen Sicher­heits­kon­zepts der Bun­des­thea­ter-Hol­ding, das zumin­dest damals welt­weit noch sei­nes­glei­chen such­te, hat­ten wir eini­ge Covid-Fäl­le im Ensem­ble. Dies mach­te den Krea­ti­ons­pro­zess lang­sam und müh­sam; stän­dig, oft stünd­lich muss­ten ande­re Wege gegan­gen wer­den. Selbst für mich, der doch eini­ges gewohnt ist, war es der blan­ke Hor­ror. Es geht ja nicht nur dar­um, etwas durch­zu­zie­hen, son­dern es muss qua­li­ta­tiv die­ser Insti­tu­ti­on auch wür­dig und so geprobt sein, dass die Tän­ze­rin­nen und Tän­zer gut aus­se­hen. Nicht, dass man am Schluss der so fra­gi­len Tanz­kunst noch scha­det – und auch ich habe einen Ruf zu verlieren.

Die Streams sind also auch eine Art der Selbstkontrolle?

Ich lieb­te Fern­seh­auf­zeich­nun­gen schon als Tän­zer. Ich lieb­te und lie­be sie auch für mei­ne Ensem­bles. Sie sind eine bewusst gelei­te­te Sicht auf ein Stück und eine wert­vol­le Addi­ti­on zu den Büh­nen­vor­stel­lun­gen. Aber sie sind für mich kein Ersatz. Ich mache die­sen Beruf wegen dem, was im Bal­lett­saal pas­siert. Im Bal­lett­saal schaf­fe ich es meis­tens, mich selbst zu ver­ges­sen. Da spielt es kei­ne Rol­le, wer da sitzt, filmt oder zu-schaut. Ich bin ganz ver­bun­den mit dem Tän­zer. Was die­ses Pan­de­mie-Jahr mit mir als Mensch und Künst­ler tut, kann ich ver­mut­lich frü­hes­tens mit mei­ner nächs­ten Krea­ti­on erkennen.

Sie arbei­ten mit den ver­schie­dens­ten For­ma­ten – vom Solo oder Pas de deux (Duett) bis hin zu Wer­ken für ein sehr gro­ßes Ensem­ble. Wie fin­den Sie zum rich­ti­gen Format?

Das rich­ti­ge For­mat ist, wie die Musik, nicht immer frei­wil­lig gewählt. Im Gegen­teil, viel­leicht noch weni­ger häu­fig. Ich bin als Cho­reo­graph lang­sam gewach­sen, war zuerst Tän­zer, dann Päd­ago­ge. Als ich schließ­lich Bal­lett­di­rek­tor wur­de, muss­te ich, weil das Ber­ner Bud­get so klein war, not­ge­drun­gen begin­nen, eige­ne Stü­cke zu machen. Ich habe aber auch Gast­cho­reo­gra­phen in mei­nen Spiel­plan inte­griert, um mich – soll­te mein cho­reo­gra­phi­scher Weg nur mit­tel­mä­ßig aus­fal­len – wenigs­tens als Direk­tor legi­ti­miert zu wis­sen, denn es sind ja immer­hin Steu­er­gel-der betei­ligt. Es dau­er­te an die zehn Jah­re, bis ich wag­te, mich selbst Cho­reo­graph zu nen­nen, dies vor mir und für mich zu den­ken. Ich hat­te sogar dann noch Zwei­fel, als die Pres­se es längst anders sah. Mei­ne Gäs­te hat­ten zunächst Car­te Blan­che – auch bei der Beset­zung. Ich blieb in der zwei­ten Rei­he und prob­te mit den Tän­ze­rin­nen und Tän­zern, die frei waren. Immer wie­der kam es aber auch vor, dass Gast­cho­reo­gra­phen nicht mit gro­ßen Beset­zun­gen arbei­ten woll­ten. Auch das muss­te ich abfan­gen, als Direk­tor schau­en, dass alle beschäf­tigt sind – unab­hän­gig davon, ob mir jeder ein­zel­ne Tän­zer lag. Aus die­sem »Üben« ent­wi­ckel­te sich eine Kom­po­nen­te, die heu­te aus mei­ner Hand­schrift kaum mehr weg­zu­den­ken ist: das Inein­an­der­schie­ben und Ver­knüp­fen von Tanz­frag­men­ten. Über­all gleich­zei­tig im Stück arbei­ten zu müs­sen, führ­te zum Erspü­ren einer Dra­ma­tur­gie, die wie im Dun­keln ver­bor­gen in einem See lag, deren Prä­senz ich aber deut­lich wahr­nahm, wuss­te, dass es sie gibt. Die weni­gen Stü­cke, die ich für klei­ne Wunsch-Beset­zun­gen kre­ieren konn­te, und die gro­ßen abend­fül­len­den, bei denen ich mir mei­ne Ensem­bles nicht mit Gäs­ten tei­len muss­te, sind wahr­schein­lich mei­ne bes­ten. Rück­bli­ckend bin ich aber dank­bar für alles, denn ich muss­te per­ma­nent ler­nen und dran­blei­ben, um den hohen Stan­dard zu errei­chen, der mir vor­schweb­te, der im Stil­len in mir drin­nen wie ein uner­bitt­li­ches Gesetz fest­ge­schrie­ben ist. Ich bin davon über­zeugt, dass es nicht der Über­fluss ist, der »Wachs­tum« initiiert.

Ihre Cho­reo­gra­phien gehen wei­ter als die klas­si­sche Dan­se d’école oder die Neo­klas­sik. Sie haben im Tanz Ihre urei­ge­ne Spra­che ent­wi­ckelt, den klas­si­schen Schritt­ko­dex dekon­stru­iert und in ein­zel­nen Bewe­gun­gen emo­tio­nal auf­ge­la­den. Ihre Bal­le­ri­nen sind star­ke Frau­en, den Män­nern eben­bür­tig. Die Frau stützt auch mal den Mann oder hebt ihn weg. Sie brau­chen den Spit­zen­schuh nicht als Zier­de oder ästhe­ti­sche Über­hö­hung. Nein, Ihre Bal­le­ri­nen ram­men ihren Spit­zen­schuh in den Boden, brau­chen ihn als Her­aus­for­de­rung wie als Waf­fe oder schaf­fen rhyth­mi­sche Seri­en damit. Ihr Spit­zen­schuh ist tech­ni­sches Feu­er­werk, ist sexy. Wie haben Sie zu die­sem aben­teu­er­li­chen, kraft­vol­len und durch­aus auch emo­tio­na­len Bewe­gungs­ka­non gefunden?

Ich konn­te tan­zen. 1983, in mei­nem Zenit, gab es für mich kaum ein tech­ni­sches Pro­blem. Dafür habe ich so hart gear­bei­tet wie nie­mand beim Bas­ler Bal­lett, es aber auch genos­sen. Ich habe geforscht, ana-lys­iert, um zu ver­ste­hen, was wie und war­um funk­tio­niert, was man tun muss, um mühe­los drei Tours links und rechts in die Luft zu sprin­gen. Ich habe mich durch die­ses Allei­ne-Arbei­ten »gemacht»: Stun­den­lang, fast täg­lich, auch sonn­tags ging ich in den Bal­lett­saal. Das Vir­tuo­se hat mich dabei nicht iso­liert inter­es­siert, son­dern die Auf­ga­be, die dar­in ver­bor­gen lag. Hoch sprin­gen woll­te ich – aber ich wuss­te: die Höhe ist ver­ti­kal, ist Sym­bol, Meta­pher für den Traum und die Sehn­sucht. Ich woll­te wis­sen, was ich tat, habe alles vier­mal umge­dreht, bevor ich es für gül­tig an-nahm. Das war auch als Päd­ago­ge spä­ter so: Der Tän­zer ist ein Mensch, kei­ne Kör­per­ma­schi­ne, also muss der Tanz­leh­rer Men­schen erfor­schen, sie beob­ach­ten und nicht nur Tän­ze leh­ren. Ein Päd­ago­ge muss ein Ma-gier sein, ein Künst­ler, ein Wis­sen­schaft­ler: alles. Dann begann ich zu cho­reo­gra­phie­ren, blieb dabei aber auch unter­rich­tend. Aus­füh­rung, Tech­nik und das Künst­le­ri­sche sind nicht zu tren­nen – all mein Wach­sen im Päd­ago­gi­schen hat auch mein Cho­reo­gra­phie­ren geprägt und vice ver­sa. Als Bal­lett­di­rek­tor konn­te ich die Ein­stu­die­rer gro­ßer Bal­let­te mit mei­nen Ensem­bles erle­ben und danach über Mona­te oder Jah­re die Wer­ke in den Vor­stel­lun­gen pro­fund stu­die­ren und begrei­fen. Was für ein Luxus! Erst auf die­se Wei­se habe ich zum Bei­spiel die Grö­ße gewis­ser Balan­chi­ne-Bal­let­te wirk­lich erkannt, sei­ne Art und Wei­se, mit dem Spit­zen­schuh umzu­ge­hen. Ich habe dann auch sel­ber begon­nen, auf Spit­ze zu kre­ieren und sehr schnell begrif­fen, dass der Spit­zen­schuh letzt­lich ein ech­ter Schuh ist: Mate­ri­al, das hart ist, Cha­rak­ter hat, Wider­stand gibt, ero­tisch ist – also auch etwas ganz ande­res in ihm drin­steckt, als das, was in der Bal­lett­welt über ihn gesagt wird. Das Häm­mern und Sto­ßen mit dem Spit­zen­schuh hat eine gro­ße Kraft, birgt eine Archa­ik, kann aber auch nur ein musi­ka­li­sches »Drum­ming« sein, mit dem ich eine Strei­cher­se­quenz im Orches­ter zer­stü­cke­le. Ich nen­ne ihn iro­nisch ger­ne den Phal­lus der Frau – sie braucht natür­lich kei­nen, trotz­dem. Ich mag star­ke Frau­en, weil sie es sind. Ich mag kei­ne lei­den­den Frau­en­bil­der. Ich mag auch die Thea­ter­büh­ne des Lei­dens nicht son­der­lich. So kam das. Man ist ja auch nicht pri­mär Frau oder Mann oder schwul oder Sozia­list oder was auch immer, son­dern man ist pri­mär das Indi­vi­du­um Mensch. Ich könn­te end­los aus­ho­len – der Spit­zen­schuh ist nur ein Beispiel.

Privat schleu­dern Sie ger­ne groß­for­ma­ti­ge Bil­der und Schlag­wör­ter auf Ihre Wän­de zu Hau­se – einem Action­pain­ter ziem­lich ver­wandt. Wie kommt das? Wel­che Bedeu­tung hat die bil­den­de Kunst in Ihrem Werk? 

Als ich Direk­tor des Bal­letts am Rhein wur­de, habe ich in Düs­sel­dorf ein Haus gekauft und muss­te mich somit nicht mehr vor einem Ver­mie­ter ver­ant­wor­ten. An einem Tag X brach das dann aus mir her­aus. Ein­fach so – eine Pha­se. Ich mag es, zu beob­ach­ten, wie viel man zen­siert, nicht zulässt – viel­leicht aus Angst, weil man nicht weiß, was da noch nach­rü­cken könn­te. Als ich den ers­ten Eimer Far­be auf mei­nen Stein­bo­den leer­te, war das schon ein Akt, etwas, das mich ver­än­der­te. Auch die Musik Hel­mut Lachen­manns hat mich ver­än­dert, libe­ra­ler und tole­ran­ter gemacht. Jetzt ist ein Eimer Far­be nicht mit der Kunst Lachen­manns zu ver­glei­chen, aber man lässt etwas Neu­es, Ande­res zu. Glau­ben Sie aber bit­te nicht, dass das ein­fach alles so ablief – in einer Wut oder im Suff. Nein, es war wie Kom­po­nie­ren, Cho­reo­gra­phie­ren, und wur­de stän­dig erwei­tert, kom­ple­xer, stim­mi­ger, tie­fer. Kel­ler, Par­terre und drei wei­te­re Stock­wer­ke sind eine gro­ße Lein­wand. Zur­zeit habe ich kein Bedürf­nis, so etwas wie­der zu tun. Ich bin aber auch wie­der Mie­ter. Für mich sind alle Küns­te als Impuls-Geber wich­tig. Zum Spie­geln, Ler­nen, um die Mensch­heit zu ver­ste­hen, die­se zu ertra­gen. Und natür­lich weiß ich um die Ver­bin­dun­gen: ohne Matis­se und Picas­so hät­te es für Balan­chi­ne kein »Agon« gege­ben. Aber wäh­rend für Hans van Manen oder Heinz Spoer­li die Bil­den­den Küns­te essen­ti­ell sind, sind für mich eher die Lite­ra­tur, die Phi­lo­so­phie, das Poli­ti­sche, die Musik, die Natur, das Psy­chi­sche, die Archi­tek­tur und viel­leicht noch Gär­ten wich­tig. Ich mag den Dschun­gel, das Was­ser, das Feuch­te, die Wäl­der, das Geheim­nis und weni­ger die Struk­tur, die Son­ne, das Kla­re, Tro­cke­ne. Um die­sen »Vul­kan« in mir wis­send, war es mir immer ein gro­ßes Anlie­gen, in mei­nem Kunst­ver­such all die­se Schla­cken und Erup­tio­nen nicht ein­fach nur raus zu schleu­dern, son­dern sie mehr­mals durch den Kopf zu schleu­sen, ihr emo­tio­na­les Drän­gen zu brem­sen, um sie durch die­se Brem­sung zu inten­si­vie­ren. Denn was nicht ren­nen darf, sam­melt nur noch mehr Renn­kraft, wenn es los­ge­las­sen wird. Man sagt oft, mei­ne Stü­cke sei­en »abs­trakt». Im Sin­ne einer feh­len­den kon­kre­ten Hand­lung, sind sie das viel­leicht. Ganz »abs­trakt« kann Tanz aber nie sein – denn Tän­zer sind Men­schen aus Fleisch und Blut. Mei­ne Stü­cke ver­har­ren ger­ne im Da-zwi­schen, in den Fra­gen. Sie geben kei­ne Antworten.

Ihre Cho­reo­gra­phien sind aber im Gegen­satz zum Action­pain­ter bis ins letz­te Detail der Bewe­gung aus­ge­ar­bei­tet, sind immer höchst fili­gran und viel­schich­tig im Auf­bau. Sie sind auch ein Kon­zep­tua­list. Wel­che Pro­zes­se ver­bin­den die­se zwei Pole?

Ich bin ein Skep­ti­ker – mir gegen­über, allem gegen­über, auch dem Leben, aber vor allem mei­nem Tun gegen­über, möch­te die­ses aber schon hin­krie­gen, zumin­dest solan­ge ich unter Ver­trag bin. In Anbe­tracht der Mas­se an soge­nann­ter Kunst, die vor der Pan­de­mie in die Städ­te, Thea­ter, Fes­ti­vals, Gale­rien und von den neu­en Medi­en in den Äther gedrückt wur­de, scheint mir die­ses Miss­trau­en eine not­wen­di­ge »Wapp­nung« zu sein, die mich davor bewahrt, nicht der Mode nach­zu­ge­ben und mich plötz­lich auch in mein eige­nes Tun zu ver­nar­ren. Künst­ler, die sich selbst toll fin­den, las­sen mich flie­hen und an mei­nem und unse­rem Tun zwei­feln. Künst­ler­sein ist ein Auf­trag. Das beant­wor­tet Ihre Fra­ge kaum, ist aber genau das, was sie in mir aus­löst. Ja, ich pend­le zwi­schen den Polen, rei­se vom Bauch in den Kopf und zurück – aller­dings bewusst. Ich bin kei­ner, der an sein Tun bedin­gungs­los glaubt, aber ich glau­be an den Tanz und sei­ne Wich­tig­keit. Also: Ja, ich bin ein Kon­zep­tua­list. Und: Nein, ich bin kein Konzeptualist.

Es gibt in Ihrem Reper­toire nur weni­ge Hand­lungs­bal­let­te (wie zum Bei-spiel Ihren »Schwa­nen­see»). Sie sind weni­ger ein Erzäh­ler als ein Poet. Sie spin­nen als Cho­reo­graph Ihren roten Faden aus dem Tanz selbst. Oft ist er nur unter­grün­dig vorhanden. 
Wie wol­len Sie Ihre Cho­reo­gra­phien gele­sen, ver­stan­den wis­sen und wel­che Hin­wei­se, Ori­en­tie­rungs­punk­te geben Sie der Zuschaue­rin dazu?

Die Zuschaue­rin muss wis­sen, dass Tanz zwar eine visu­el­le Kunst ist – man erfährt ja den Haupt­teil via Auge –, sich das visu­ell Auf­ge­nom­me­ne aber im Innern in alles hin­ein ver­stäubt, was den Men­schen aus­macht. Das kann man nicht ver­ste­hen, son­dern muss es zunächst ein­fach zulas­sen. Alle Sin­ne wer­den beim Tanz-Schau­en betei­ligt, die Haut, das Ohr usw. Der Zuschau­er tanzt mit, auch dann, wenn er noch nie zuvor einen Tanz­schritt getan hat. Wenn man Mahlers 7. Sym­pho­nie in einer Cho­reo­gra­phie erlebt, wird sie nicht das glei­che mit einem tun, wie im Kon­zert. Bal­lett ist vol­ler Sym­bo­le, Arche­ty­pen, Ech­tem, auch Pri­mi­ti­vem. Das Pri­mi­ti­ve ist nicht nied­rig, son­dern das, was zuerst war. Der Begriff ist fälsch­li­cher­wei­se nega­tiv kon­no­tiert. Er beschreibt unse­ren Urkern. Tanz ist die ers­te Prim­zahl der Küns­te. Die Zwei beinhal­tet alles, das Hel­le wie das Dunk­le, bringt Hälf­ten zusam­men, birgt Weib­li­ches – und so ist auch Balan­chi­nes »bal­let is woman« zu ver­ste­hen. Wie viel wei­ter wären wir, wenn wir nicht immer nur nach oben, son­dern auch nach unten stre­ben, uns anschau­en und das Unten nicht ver­las­sen wür­den, son­dern mit ihm ver­bun­den blie­ben? Wir wären gnä­di­ger, wür­den weni­ger Ideo­lo­gien nach­ren­nen und ande­re ver­dam­men, denn wir sähen auch unse­ren Schlamm und nicht nur das eige­ne Gold­krön­chen. Kör­per­spra­che kann sich nicht ver­stel­len, ihre Magie beruht auf Fusi­on. Der Kopf ver­liert beim Tan­zen sei­ne Königs­po­si­ti­on, er führt nicht allein, son­dern alle Sin­ne – der Geist, der Bauch – tun das abwechs­lungs­wei­se. Das ist das Hei­len­de die­ser Kunst, dar­in ist nichts Eso­te­ri­sches. In einer Welt, die dem Kopf alle nur erdenk­li­che Macht zuschreibt, den Kör­per aber immer noch als nich­tig betrach­tet, wenn auch kaum mehr aus reli­giö­sen Grün­den, hat es eine Kunst, die den Kör­per bewegt und mit ihm allein Inhal­te trans­por­tiert, schwer. Zwar ver­göt­tern vie­le ihren Kör­per, aber eigent­lich miss­brau­chen sie ihn, degra­die­ren ihn zum rei­nen Objekt, zur Flick- und Gestal­tungs­wa­re. Für einen wirk­li­chen Tanz-Künst­ler ist klar, dass der Kör­per alles und alles Kör­per ist. Tanz ist für mich Poe­sie und Tran­szen­denz, sein Alpha­bet ist aus Ener­gien gebaut. Er braucht Kan­ten, eine heu­ti­ge Mus­ku­la­tur, darf auf­zei­gen, brül­len und Wun­den rei­ßen. Für mich ist aber in jedem Bal­lett auch die Schön­heit ein The­ma. Aber was ist Schön­heit? Sie ist das, was ist und wie es ist. Nicht ein­fach ein­sei­tig schön, nicht die zuck­ri­ge Hälf­te, son­dern alles – auch das Bittere.Der Tanz ver­än­dert und packt einen, ohne dass man es kogni­tiv sofort ein­rei­hen kann – und es viel­leicht auch nicht soll­te.  Am bes­ten, man trägt den Tanz ein­fach mit ins Leben hin­aus, lässt das, was er aus­löst, nach­klin­gen. Wenn man ein Stück unbe­dingt ein­ord­nen, ana­ly­sie­ren will, soll­te man das erst nach der Vor­stel­lung tun.

Lassen Sie uns noch einen Blick auf die Pro­gram­ma­ti­on wer­fen: Ihre inter­na­tio­na­le Kar­rie­re als Tän­zer hat Sie mit den Prot­ago­nis­ten des moder­nen und des zeit­ge­nös­si­schen Büh­nen­tan­zes zusam­men­ge­bracht. Sie haben für Geor­ge Balan­chi­ne, Hans van Manen, Wil­liam For­sy­the getanzt, alle der abs­trak­ten Linie der Cho­reo­gra­phie ver­pflich­tet. Auch Sie sind sel­ber im wei­tes­ten Sin­ne des Begriffs ein abs­trak­ter Künst­ler. Die Spiel­plä­ne des Wie­ner Staats­bal­letts in der Wie­ner Staats­oper und Volks­oper Wien zei­gen deut­lich: Sie spin­nen für Ihr Publi­kum einen Leit­fa­den mit Aben­den wie »Hol­lands Meis­ter« oder auch mit Gast­cho­reo­gra­phien, die Hin­ter­grund und Ein­sich­ten zu Ihrem sti­lis­ti­schen und inhalt­li­chen Kon­zept geben. Wie wich­tig ist für Sie heu­te, dass Ihr Publi­kum den Kon­text Ihrer künst­le­ri­schen Her­kunft versteht?

Mei­ne eige­ne künst­le­ri­sche Her­kunft zu ver­mit­teln, ist mir nicht wich­tig. Dies kommt mit der Pro­gram­mie­rung für eine Spiel­zeit auto­ma­tisch. Ich ver­ste­he Tanz und Bal­lett als eine Spar­te, die eben­so reich an Meis­ter­wer­ken wie das Musik­thea­ter, das Kon­zert, die Lite­ra­tur, die Bil­den­de Kunst ist. Das heißt, dass ich als Bal­lett­di­rek­tor kei­nes­falls nur an mei­nem Geschmack oder mei­nen Über­zeu­gun­gen ent­lang pro­gram­mie­ren darf, son­dern über mei­ne Vor­lie­ben und Abnei­gun­gen erha­ben sein muss. Wich­tig ist viel­mehr, in der gesam­ten Band­brei­te zu prä­sen­tie­ren, was es Wun­der­ba­res in die­ser Kunst gibt, ohne die­se tren­nen­de Debat­te zu stüt­zen, ob ein Bal­lett klas­sisch, neo­klas­sisch oder zeit­ge­nös­sisch ist. Eine Adres­se wie das Wie­ner Staats­bal­lett muss dem Publi­kum zei­gen, was für die Tanz­kunst rele­vant ist – und auch die Tän­ze­rin­nen und Tän­zer mit all die­sen Stü­cken und Tech­ni­ken ver­traut und so zu wis­sen­den Künst­lern machen. Denn nur wer Wis­sen hat, kann etwas ver­tei­di­gen, für etwas ein­ste­hen. Im Hin­blick auf mein Werk wäre es natür­lich schön, auf Neu­gier zu sto­ßen, auch hier in Wien ein Publi­kum vor­zu­fin­den, das Inter­es­se zeigt, sich mit mei­nem Schaf­fen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Mein künst­le­ri­scher Weg ist ja bereits ein lan­ger, viel­schich­ti­ger. Jedes neue Bal­lett baut auf etwas Vor­aus­ge­gan­ge­nem auf – oder wen­det sich bewusst davon ab. Das wäre mein Wunsch an das Publikum.

Mar­tin Schl­äp­fer bei der Pro­be, Foto: Ash­ley Taylor

Sie sind in der inter­na­tio­na­len Tanz­sze­ne auch als aus­ge­klü­gel­ter, exqui­si­ter Tanz­päd­ago­ge bekannt und haben sich die­ses Renom­mee nach Ihrer Kar­rie­re als Tän­zer mit Ihrem eige­nen Tanz­stu­dio in Basel erwor­ben. Ihrer Com­pa­ny geben Sie auch heu­te regel­mä­ßig das täg­li­che Trai­ning, sind also auch ein »Hand­wer­ker», der an der Tech­nik des Tan­zes arbei­tet und genau weiß, was Tän­ze­rin­nen und Tän­zer brau­chen. Wie ver­bin­den Sie die Päd­ago­gik mit Ihren Ansprü­chen als Cho­reo­graph? (Sie haben ja auch die Lei­tung der Bal­lett­aka­de­mie der Wie­ner Staats­oper inne.)

Tech­ni­sche Aus­füh­rung und künst­le­ri­sche Inhal­te sind für mich eins. Dadurch, dass ich, was Tanz­tech­nik angeht, immer wei­ter for­sche und arbei­te, ist das Cho­reo­gra­phi­sche vom Päd­ago­gi­schen, das Künst­le­ri­sche vom Hand­werk­li­chen für mich nicht zu tren­nen. Ich bin in einer cho­reo­gra­phi­schen Pro­be über­all gleich­zei­tig tätig. Ich per­sön­lich fin­de es fatal, wie man­che Ein­stu­die­rer glau­ben, die Schrit­te eines Stü­ckes mög­lichst schnell anle­gen zu müs­sen, um spä­ter genug Zeit für das künst­le­ri­sche und inhalt­li­che Fei­len zu haben. In der Rea­li­tät fin­det die­ses dann nur sel­ten statt – kann es so auch gar nicht. Jedes Bal­lett, möge es noch so »abs­trakt« daher­kom­men, hat eine Dra­ma­tur­gie, eine Psy­che, eine mus­ku­lä­re Gang­art. Erst wenn all das von Beginn an inte­griert wird, ist es das Stück, das es sein soll­te, leben­dig und kei­ne Kopie. Ich plä­die­re immer dafür, dass bei mei­nen Pro­ben auf­ge­schrie­ben wird, was ich im Krea­ti­ons­pro­zess sage, was ich den Bewe­gun­gen an intel­lek­tu­el­lem und emo­tio­na­lem »Text« unter­le­ge. Es reicht nicht, nur ein Video vom fer­ti­gen Bal­lett zu machen und dann in 20 Jah­ren zu glau­ben, dass das, was man an Struk­tur und Anla­ge auf der DVD sieht, ohne wei­te­re Infor­ma­ti­on das Stück sei. Bei Stu­die­ren­den muss man – je nach Indi­vi­du­um – mal mehr das Tech­ni­sche, mal mehr das »Ande­re« über eine gewis­se Zeit nach vor­ne schie­ben. Immer muss man aber im Auge behal­ten, die bei­den recht­zei­tig wie­der inein­an­der zu pflan­zen, denn das eine bedingt das ande­re. Tech­nik ist nicht nur Vir­tuo­si­tät. Wie man auf einen Spit­zen­schuh steigt oder durch ihn zum Boden zurück­rollt, kann die gan­ze emo­tio­na­le Palet­te der Welt aus­drü­cken. Das ist Tech­nik. Wenn wir in der Aus­bil­dung Tech­nik und Künst­le­ri­sches tren­nen, krie­gen wir jun­ge Tän­zer, die zwar im Ide­al-fall Schrit­te gut aus­füh­ren, aber kaum zu Künst­lern wer­den kön­nen, die nichts zu unter­su­chen gelernt und kei­ne Ima­gi­na­ti­on haben, son­dern glau­ben, Tanz sei wie Sport und die Musik die Beglei­tung. Sicher­lich soll und kann nicht jeder ein Künst­ler wer­den. Man muss genau hin­schau­en, die Wesens­an­la­gen jedes ein­zel­nen Stu­die­ren­den spü­ren und die­se dann stär­ken, aus­ar­bei­ten und ent­wi­ckeln. Wir wol­len – meta­pho­risch gespro­chen – nicht den Links­hän­der zum Rechts­hän­der machen. Wir wol­len aber auch nicht die »Schwä­chen« des Ein­zel­nen ein­fach ver­ges­sen, auch wenn es päd­ago­gisch falsch ist und zu häu­fig pas­siert, dass nur auf den Schwä­chen rum­ge­drückt und das, was fließt und als natür­li­che Anla­ge da ist, negiert wird. So ver­küm­mert das natür­li­che Kön­nen, die natür­li­che Koor­di­na­ti­on, die Freu­de. Für die drin­gend not­wen­di­gen Refor­men an der Bal­lett­aka­de­mie der Wie­ner Staats­oper ist die Pan­de­mie der­zeit lei­der eine gro­ße Brem­se. Aber mit der neu­en Direk­to­rin Chris­tia­na Ste­fa­nou und ihrem gesam­ten Team inklu­si­ve exter­ner Exper­ten wie Samu­el Wuers­ten haben wir bereits eini­ges erreicht und arbei­ten inten­siv an der Neu­aus­rich­tung die­ser Institution.

Mar­tin Schl­äp­fer, wir bedan­ken uns von Her­zen für die­ses Gespräch. Sie las­sen uns sehr groß­zü­gig teil­neh­men an Ihren Recher­chen und Erfah­run­gen und geben uns mit Ihren Gedan­ken einen tie­fen Ein­blick in den Tanz.

 

Das Inter­view wur­de in der collector’s choice edi­ti­on SAMMLUNG HAINZ veröffentlich.

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Esther Sutter führte bis vor kurzem in Basel das Studio für Tanz und Tai ji. Sie war am Beginn ihrer Laufbahn Tänzerin am Theater Basel und an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und tanzte Choreographien von Erich Walter, George Balanchine und Hans van Manen. Sie studierte Modern Dance in New York bei Merce Cunningham und Martha Graham, Tai ji bei Da Lu. Die Reflexion über den Tanz und seine gesellschaftspolitisch relevanten Inhalte führte sie in den Journalismus. Esther Sutter arbeitete als Tanzkritikerin für Schweizer Printmedien und Radio. Sie war Stiftungsrätin und Expertin für Tanz und internationalen Austausch bei der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, später Präsidentin der Jury der Schweizer Tanz-preise des Bundesamtes für Kultur (BAK). Zuletzt war sie Mentorin des Buches TILT PAUSE SHIFT. Eine Recherche zur Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes in Indien im Auftrag von Pro Helvetia, Delhi. Esther Sutter ist mit Martin Schläpfer durch einen langjährigen Dialog verbunden – seit seiner Zeit als Tänzer in Basel.

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