Die gezeichnete Linie, dein Lebensnerv
The Milk of Dreams: Das diesjährige Thema der Kunstbiennale in Venedig entstammt der surrealistischen Künstlerin Leonora Carrington. 1917 in England geboren, entschwand sie dem Elternhaus auf verschiedenste Weise, 1937 ging sie nach Paris. Von dort zog sie mit ihrem Lebenspartner Max Ernst nach Südfrankreich. Nach dessen späterer Internierung floh sie nach Mexiko, wo sie bis 2011 lebte und arbeitete. Ihre Söhne erinnern sich an das Haus, dessen Wände mit Bildern von wundersamen Kreaturen, hoch aufragenden Bergen und wilder Vegetation bedeckt waren, während sie fabelhafte und lustige Geschichten erzählte. Diese auch gezeichneten Absurditäten wurden in dem kleinen Buch aufbewahrt, das Carrington »The Milk of Dreams« nannte.
Die künstlerische Leiterin der Biennale 2022, Cecilia Alemani, erhofft sich von dem Titel, dass uns die Ausstellung mitnimmt auf eine imaginäre Reise durch die Metamorphosen des Körpers und die Definitionen der Menschheit. Die 59. Ausgabe der Biennale di Venezia soll sich auf drei Themenbereiche konzentrieren: Die Repräsentation von Körpern und ihre Metamorphose, die Beziehung zwischen Individuen und Technologien sowie die Verbindung zwischen Körpern und Erde.
Dieser Ansatz führt mich unweigerlich zur außergewöhnlichen Schaffenskraft der Frankfurter Städelschülerin Martina Kügler. Hier beginnt eine Entdeckungsreise, auf die ich Sie gerne mitnehmen möchte, denn hinter der Kraft der Arbeiten von Martina Kügler knüpfte sich beispielhaft ein starkes Engagement aus Sammelleidenschaft, Nachlasssicherung, privat initiierter Forschung, erfolgreicher Galeriearbeit und großer Motivation.
The Milk of Dreams bedeutet für mich weniger Weltflucht als viel eher Grenzüberschreitung, jedoch in einem existentiellen und mutigen Sinne: sich selbst bewusst werden, träumen können und Träume leben. Künstlerinnen, die frei denken und fühlen wollten, mussten auch im zwanzigsten Jahrhundert noch gegen ein Bollwerk von Konventionen kämpfen. Wer nicht »in der Spur« lief, wurde schnell als verrückt eingestuft. Die deutsche Künstlerin Martina Kügler (1945–2017) entwickelte sich zu einer der autonomsten Positionen, deren Stärke besonders in den Siebziger- und Achtzigerjahren zu Ansehen gelang. Ihr OEuvre schenkt uns gnadenlos die Bewusstwerdung des »Ich«, die Vergegenwärtigung der Suche und der eigenen Verortung – in aller Bewegtheit des Selbst und oft ekstatischer Aufruhr. Zeichnungen mit Bunt‑, Blei‑, Filz- und Radierstiften, mit Aquarell, (Öl-)Kreide und Pastell, reichhaltig an Schrift, bestimmen neben Ölmalerei, Collage und Poesie vorrangig ihr Repertoire. Sie hat faszinierende Einlinienbilder geschaffen. In den Nullerjahren findet sie mit Farbwalzen und kräftigen Strichen einen neuen, stärkeren Duktus. In verschiedenen Serien arbeitete Martina Kügler zu existentiellen Sujets wie Leben, Traum, Eros und Tod, wobei sie hier das Gefangen- und Freisein, Zusammen- und Alleinsein – mal mit sensiblem, mal mit offensiv-provokantem Strich – umsetzt. Das sichere Farbempfinden entwickelte sie während ihrer Ausbildung zur Lithografin, bevor sie von 1966 bis 1972 Kunst bei Johann Georg Geyger und Karl Bohrmann an der renommierten Frankfurter Städelschule studierte. Martina Küglers Figuren und Narrationen setzt sie auf den Blättern zumeist ohne Hintergrund – allerdings nie im freien Fall: durch ihre perspektivische Komposition der Figuren imaginieren diese den Bildraum. Die Künstlerin offenbart in ihren Arbeiten Träume, aber auch Erfahrungen, ohne dass diese konkreter Verortungen bedürften. Selbst in den großformatigen Malereien auf Leinwand, bei denen es sehr wohl mehrere farbige Bildebenen gibt, überlässt sie die Räumlichkeit der Fantasie der Betrachter:innen.
1975 ist sie Teil von Harald Szeemanns Ausstellungsprojekt »Les Machines Celibataires« (»Junggesellenmaschinen «; vgl. übergeordnet Szeemanns »Museum der Obsessionen«), das an neun Orten gezeigt wurde, u.a. der Biennale Venedig, dem mumok in Wien, der Kunsthalle Bern und dem Stedelijk Museum in Amsterdam. Szeemanns große Kunstausstellung diskutierte die damals massiven technischen und gesellschaftlichen Umwälzungen. Die »Junggesellenmaschinen« waren – und bleiben – Synonym für den Protest des individuellen Geistes gegen das mechanische und mechanisierende Denken. Ob Sexuelles, Skurriles (»Abschiednehmender mit Penisdops« 1975; Mountains), Träume (»Der Schlaf«; a private collection), der Kampf gegen Eingesperrtsein (»melting head«; a private collection) und Verletzung, ob die Verwurzelung des auf die Erde gefallenen Mondes (»Durch Mondmann wächst ein kosmischer Baum« 1989; Strelow) oder all die klar europäischen (»Die Gebetsmühle« 1989; Strelow), aber auch lateinamerikanisch-spirituell visualisierten Wesen (»Die Höflichkeit eines Bankangestellten« 1979 oder auch »Los dios del la muerte« 1972; a private collection) mit zum Teil nach innen gerichteten Händen und Köpfen: Die Arbeiten der offenen, immer am Kunstgeschehen ihrer Zeit interessierten Künstlerin lerne ich in Frankfurt am Main und Berlin kennen.
Der Kunstsammler Tyrown Vincent entdeckte das OEuvre vor einigen Jahren, begann zu forschen, pflegt und bewahrt, zeigt und vermittelt. Von der wirklichen Wertschätzung der Kunst, vom »Zurückgewinnen des eigenen Verstehens« und vom »Essentiellen gegen die Schnelligkeit« erzählt die Frankfurter Privatsammlung (www.a‑private-collection.com). Tyrown Vincent möchte den Besucher:innen seiner Sammlung die Angst nehmen vor einem Leben mit Kunst. Nicht nur nach Vereinbarung führt er durch seine privaten Räume, sondern er empfängt auch Gruppen, beispielsweise während des von ihm gegründeten und etablierten Kunstfestivals »The Frankfurt Art Experience« (www.frankfurtexperience.art): »Die Beschäftigung mit Kunst ist das Innere einer Stadt, ihre Kultur! Wir Menschen brauchen Qualität in der Auseinandersetzung. Und das realisieren neben Museen und Galerien eben auch private Sammlungen und öffnen ihre Türen.« Positionen wie Maximilian Prüfer, Thomas Bayrle, Rudolf Nicolai, Paris Giachoustidis, Zuza Krajewska, Martina Kügler und Walter Womacka sind nur einige der Künstler:innen, die neben traditionellen afrikanischen Skulpturen sowie Zeichnungen und Altmeistergrafik aus dem 15. bis 19. Jahrhundert zu sehen sind. Unabhängig davon, so Tyrown Vincent, » wann ein Werk entstanden ist, haben sie alle etwas gemeinsam – handwerkliches Können, Inspiration und Schönheit. Sie regen uns zum Denken, zum Nachdenken oder sogar zur Freude an.« Im September 2022 wird im Kunstverein Mannheim die Sammlungsausstellung »Ohne meine Kunst bin ich nackt« präsentiert. Auf meine Frage, wie stark das Sammeln sein Leben bestimmt hat, antwortet er: »Grundsätzlich kann man am besten sammeln, wenn das Leben nicht dazwischenkommt. Es gab Zeiten, da war ich mit Küssen und Lieben beschäftigt, zu anderen Zeiten ließ mich der Job um die Welt jetten. Das alles geschieht immer im Wechsel. Im Leben jedoch erreicht man immer mal wieder Plateaus, wo man sucht, das Innere befragt, Antworten sucht und dann neue Wege geht, andere Wege geht. Bevor es diesen neuen Schwung gibt, verbringe ich sehr viel Zeit mit meiner Kunst. Das Beste ist, man sammelt nur für sich selbst. Ich habe gehört, dass es Menschen gibt, die für andere sammeln, aber ich kann mir das nicht vorstellen. Der Kern ist immer die Auseinandersetzung von Menschen miteinander – das gibt uns die Kunst. Sie ist nicht zum Protzen da, sondern bereichert, gibt Halt, ist vielfältig und gibt mir Kraft für Veränderung. Mit der Sammlungsausstellung in Mannheim möchte ich den Künstlern sagen »Ihr habt etwas, was mich durch mein Leben begleitet« . Und wie zeige ich das? Selbst das Ausstellungsplakat wird etwas ganz Besonderes – war es doch die Grundlage für den Titel »Ohne meine Kunst bin ich nackt.«! Die Arbeiten sollen entdeckt werden. Ich kenne viel mehr Künstler, die keine Arbeiten verkaufen möchten, weil sie sich nicht von ihnen trennen können, als erfolgreiche Künstler im Markt, die eigentlich mehr verkaufen wollen. Die Kunstwelt für diese nicht-sichtbare Kunst zu sensibilisieren, ist mir wichtig.
Martina Kügler hatte besonders zu Zeiten, in denen ihre Mutter weniger Einfluss auf sie hatte, sehr gut verkauft – von Paris bis München und von Frankfurt bis in die Schweiz: Die Mutter hielt das Werkkonvolut zurück, aus Sorge, dass sich die Künstlerin unter Wert verkaufe. Alle, auch der Freundeskreis der Künstlerin, haben begonnen, Arbeiten zu inventarisieren, ein umfangreiches Werkverzeichnis soll entstehen. Aufruf: Hierfür werden übrigens auch Werke im Besitz Dritter katalogisiert.
Tyrown Vincents Engagement, zu vernetzen und das ehrliche Gespräch zwischen Künstlern und Sammlern, Galerien, Museen und Nachlässen zu finden, ist beeindruckend. So hat er nicht nur die Arbeiten von Martina Kügler an die beiden Galerien in Frankfurt und Berlin vermittelt, sondern auch mich. Zeichnungen, die mir Heike Strelow (www.galerieheikestrelow.de) zeigte, wie »Mein heimliches Ohr weint Krokodilstränen« (1988) und »sternzauberzaudernd naschend am Ohrenhieb lachend in die Tasche eingeräumt« (1989) gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. In Berlin treffe ich Markus Summerer und Klaus Voss in der Galerie Mountains (https://mountains.gallery). Sie bereiten gerade die Ausstellung zu Martina Kügler während des Gallery Weekend Berlin vor, die am 29. April, 18 Uhr, eröffnet – und meine Empfehlung ist, sich »Hinter deinem Schatten« (1979) und »Ich schrubbe dir den Kopp« anzusehen (bis 11. Juni 2022 möglich)! Während sich die Frankfurter Galerie Heike Strelow vornehmlich auf die figurativen Arbeiten der Künstlerin konzentriert, zeigt Mountains daneben auch abstrakte Arbeiten.
Hans-Jürgen Döpp, der Martina Kügler beizeiten in die Tiefe gesammelt hatte und sie bis über ihren Tod hinaus fördert, hielt die Grabrede: Dein Leben selbst war ein Hochseilakt, und wenn man abstürzte, dann ganz. Doch Du wahrtest – durch Deine Begabung zur Kunst – die Balance und konntest über all die Jahre das Gleichgewicht halten. Das geben auch Deine wunderbaren Collagen zu erkennen: Du bist eine meisterhafte Jongleuse der Farben und Formen, der es gelungen ist, auch die Gegensätze immer wieder zur Einheit zu bringen.
Der Zeichenstift war Dein Lebensmittel, die gezeichnete Linie Dein Lebensnerv.