Claudia Biehne
Abheben. Mit weit ausgebreiteten Schwingen über die Welt schweben. Durch Licht, Luft und Cirruswolken. Über schroffe Gebirge, Sedimentgesteine, weite Ebenen, von Flechten, Moosen und Gräsern bewachsene Tundren. Die Künstlerin setzt zur Landung an. Sie entfaltet und bewahrt den Schatz ihrer Eindrücke in ihrer Kunst.
Ich beschäftige mich mit einem Naturbegriff, den ich aus der Perspektive der Städterin entwickle, sagt Claudia Biehne, getrieben von der Sehnsucht nach Natürlichkeit in einer Umgebung, die keine Ursprünglichkeit hat, die durch und durch künstlich ist. Dieser Naturbegriff hat nichts damit zu tun, was Natur tatsächlich ist. Sie ist weder romantisch noch sentimental. Sie ist Tsunami! Sie trägt unbeherrschbare Gewalten in sich, unberechenbare Ästhetiken, die nicht unbedingt schön sind.
Es gibt nur wenige Künstler, die sich einschränken wie ich, indem sie nur solch ein spezielles Material nutzen, erklärt Claudia Biehne, »Porzellan!« Es setzt ihr den Rahmen an gestalterischen Möglichkeiten, an Herausforderungen, die sie durch eine profunde technische Ausbildung wirklich beherrscht. Einem Praktikum nach dem Abitur ließ die Leipzigerin eine klassische Keramiklehre folgen. Das Studium führte sie 1996 an die renommierte Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle sowie an die Akademie der schönen Künste in Prag und die University of Arts and Design Helsinki. 2001 legte sie in Halle ihr Diplom mit Auszeichnung ab und schloss direkt noch ein zweijähriges Aufbaustudium dort an. Seit 2004 befindet sich ihr Atelier auf dem Areal der Leipziger Baumwollspinnerei. Schon sehr früh erkannte sie für sich, ich wollte es k ö n n e n, ich wollte nicht Töpferin sein! Das macht einen eklatanten Unterschied zu den meisten ihrer KollegInnen. Es stellt auch die Vielfalt ihres Oeuvres in ein anderes Licht, das der allfällig aufkommenden Frage, ob Kunst oder Handwerk, keine große Relevanz beimisst.
Natürlich kann Claudia Biehne Porzellan, wie wir es normalerweise in unsere Schränke stellen oder in das wir unsere Blumen arrangieren. Sie macht praktisch orientierten Menschen damit eine große Freude. Natürlich beherrscht sie auch die kleinen Dimensionen, in denen sie Details ihrer umfassenderen Objekt- oder Bildkonzepte zitiert, um auch dem kleinen Sammlerbudget die Freude der Erinnerung zu bereiten. Das ist ein pragmatisches Vorgehen. Doch es sichert ihr auf eine sehr ehrliche Weise die ökonomische Basis für gleichermaßen einfühlsame wie kraftvolle künstlerische Statements, die ihren Weg weltweit in Ausstellungen, Galerien, Sammlungen und Museen finden. Und, um die es hier gehen soll.
Der Weg ist das Ziel, ist einer der Leitsätze Claudia Biehnes. Dieses Motto beschreibt ihre ausdauernde Begeisterung und Ernsthaftigkeit in der Suche nach den Offerten und Grenzen ihres Materials, um ihrer Faszination an den Inspirationen der Natur überzeugend Ausdruck zu verleihen. Das Porzellan bietet sich ihr als ideales Medium für extreme Ausdrucksformen an; präzise, transluzent und leicht genauso wie vage, massiv und schwer. Es ist total beglückend eine Methode zu entwickeln, die es erlaubt eine ganze Welt zu erschaffen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, aber die uns an etwas erinnert, das wir schon gesehen zu haben glauben. Jeder Betrachter empfängt dadurch eine andere, individuelle Inspiration.
Between the Tides nennt Claudia Biehne eine ganze Werkgruppe die, nun auch durch ihren Titel, vordergründig ihre Verwandtschaft zu einer unbestimmten Meeresflora nahelegt. Amorphe, fantastische Porzellangewächse baut sie aus hunderten von kleinen, gerollten Segmenten auf – aus alabasterhaft durchscheinenden Röhrchen – und brennt diese mehrfach. Als wuchernde Gebilde wecken sie große Neugierde beim Betrachten, evozieren zuerst Unklarheit über ihren natürlichen oder künstlichen Ursprung. Aus der Ferne vielleicht noch als flauschige Struktur wahrzunehmen, entpuppen sie sich aus der Nähe als scharfkantiges, wehrhaftes Gebilde. Jedes einzelne Röhrchen, in der Summe aller rissigen, spitzigen Kanten erst recht, verwahrt sich gegen taktiles Begehren. Das Licht streicht durch die transparenten Porzellankrusten in die geheimnisvolle Tiefe der Objekte, von denen einige sich mehrarmig nach dem Licht räkeln. Die Künstlerin erkennt in diesen Werken durchaus eine Allegorie zu unserem aktuellen Leben, hier mitten in Europa. Es zeigt sich aus Abstand betrachtet so komfortabel, aus der Nähe jedoch keineswegs ungefährlich und herausfordernd. Man muss wissen, wie man es anfasst, damit man sich nicht schneidet.
Die Familie der Lumos Objekte versammelt hochtransluzente Porzellane zur Aufbewahrung von Licht. Ihre dünnwandige Zartheit lässt ein faszinierendes Schattenspiel zu. Claudia Biehne gießt die Porzellanformen und versieht sie mit einzigartigen Floral Lithophanien, indem sie Blüten und Gräser auflegt, die im Brand vergehen und deren fotografisch präzise Abdrücke das Porzellan hier noch durchscheinender werden lassen. Jahrmillionen alte Fossilien bewahren faszinierend detailreiche Abdrücke vergangenen Lebens in den Schieferschichten der Erde, in tiefster Dunkelheit, tief unten. Für den Betrachter ist es unmöglich, diese Assoziation nicht zu haben und dadurch umso mehr von Claudia Biehnes ästhetisch hinreißender Transformation des Prozesses beeindruckt zu sein. Ihre fragilen Porzellangefäße sind Unikate. Sie fangen das Licht und setzen dramatische Faltenwürfe sowie artifizielle Naturdokumentationen in Szene.
Claudia Biehne beschreibt sich selbst als eine intuitive Künstlerin, die ihre technischen Inspirationen aus dem Umgang mit ihrem Material gewinnt. Es gibt einen Plan und in einer Ursache-Folge-Reaktion versuche ich etwas zu forcieren. Ein Scheitern, ein Zufall mag am Anfang stehen, doch wenn sein Ergebnis vielversprechend erscheint, wird er schnell zum Teil des Plans, in seinem Effekt gesteuert, verfeinert und auf den Punkt gebracht. Die Bereitschaft zum unorthodoxen Experiment auf der Suche nach dem richtigen Ausdruck, der gelungenen Manifestation einer Idee, trägt zu Claudia Biehnes facettenreichem Oeuvre bei, das sie durch die Zuweisung in Werkgruppen zu ordnen sucht. Neben den die Transparenz und Feinheit des Werkstoffes Porzellan bis zum Äußersten auslotenden Objektfamilien »Between the Tides« und »Lumos«, beschäftigt sie sich aktuell vor allem mit drei Themen, die einen artifiziellen, imaginierten Naturbegriff als Narrativ inszenieren.
Die Gruppe der Vulkanoide – massive, dickwandige Objekte – folgt der Idee hypothetischer Asteroide, die in einem schwach besetzten »dritten Asteroidengürtel« innerhalb der Bahn des Planeten Merkur existieren könnten. Claudia Biehne fantasiert und realisiert sie als amorphe Gefäßobjekte aus geschmolzenem Stein. Schwergewichtig, überzogen mit rauen, groben Oberflächen von trister Farbigkeit machen sie ein Geheimnis um Herkunft und Material. Sie sind Lichtjahre entfernt von der landläufigen Vorstellung reinweißen, transluziden, eleganten Porzellans. Und doch sind die Vulkanoide aus Porzellan, mehrfach bei höchsten Temperaturen gebrannt. Mit gebannter Energie, Vehemenz und Wucht stehen sie dem Betrachter gegenüber und dominieren die Atmosphäre mit einer physischen Präsenz, die glutflüssiger Gesteinsschmelze entsprungen zu sein scheint.
In den voluminösen Objekten der Serie Memory Traces scheint Claudia Biehne der Konfrontation von menschlicher Kultur und Gewalt Ausdruck zu verleihen. Scherben mit Prägemustern, die wir von kostbaren Brokatstoffen oder opulenten Spitzen kennen, fügen sich organisch wachsend zu beschwingten, hohen Gefäßformen – oder sind sie doch eher durch große Gewalt zerschmetterte, durch große Hitze zusammengeschmolzene Zitate? Auch hier verleugnet sich das Material, jubelt nicht in fesselnder Ästhetik und subtilem Glanz, sondern folgt einer dystopischen Choreographie in der Inszenierung beschädigter, fragmentarischer Artefakte menschlicher Hochkultur. Patiniert, verletzt, durchdrungen, wie die Fundstücke auf einem Schiffswrack am Meeresgrund.
Ihre aktuellen Arbeiten zu Landscapes in the Mind dokumentieren einen geradezu leidenschaftlichen Umgang mit dem Material: Porzellan erweitert um ein ganzes Universum an farbigen und transparenten Glasuren. In diesen malerischen Wandarbeiten, die in bis zu sieben Bränden aus Porzellan und Glasur ihre endgültige Erscheinung erlangen, erweist sich Claudia Biehne nicht nur als Malerin, sondern doch auch als Spurenlegerin, Mineralogin, Archäologin, Gärtnerin, Architektin, Dokumentarin, Märchenerzählerin. Ihre Assoziationen imaginärer Landschaften und Strukturen bannt sie auf kreisrunde Tondi und Quadrate. Diese lassen sich durch die Erweiterung der Flächen auf zwei, vier, oder demnächst auch auf neun, quadratische Trägerplatten vergrößern, die dann durch das übergreifende Gesamtbild zusammengefasst werden.
Die Landscapes in her Mind lassen sie in ihrem Material schwelgen, ihre Fantasie und Vorstellungskraft geradezu überschwappen. Die Freiheit der Fläche verleiht ihr Flügel, lässt sie über goldene Ruinenstädte, tiefe Wasser, leuchtende Gärten, Sedimente, zarte Schleiernebel und wahre Traumlandschaften schweben. Von flüchtigen Phänomenen der Natur, gebrochener Erde und organischen Strukturen inspiriert. Sie malt, gießt, streut, brennt und beginnt erneut, wissend, suchend, findend und manchmal überrascht. Die Euphorie der Künstlerin zeigt sich in diesen mehrdimensionalen Farb- und Strukturkompositionen, der Flow des kreativen Geschehens, ihre Kompromisslosigkeit im mutigen Einsatz der Mittel, die sie genau kennen muss, da sie vor dem Brand zumeist völlig anders aussehen als danach.
Die Entscheidung, wann es fertig ist, wann der Zusammenhang stimmt, wann der Moment erreicht ist, wo der Funke überspringt – der ist intuitiv erreicht, davon ist Claudia Biehne überzeugt, ich denke immer nach vorne, nie rückwärts!
Ihr Atelier in der Leipziger Spinnerei ist gleichzeitig Werkstatt und Galerie. In professioneller Gemeinschaft arbeitet sie mit ihrem Partner Stefan Passig zusammen, der seit 2007 als ihr umtriebiger Manager, kundiger Fotograf und künstlerischer Weggefährte großen Anteil an ihrem Werk und ihrem Erfolg hat. Besuch ist ausdrücklich erwünscht und dessen vielfältige Reaktionen sind in gewisser Weise omnipräsent. Indem die Künstlerin sich immer wieder erklärt, klären sich auch ihre künstlerischen Ansätze. So kann auch das Publikum an ihren Entwicklungen und ihren in Objekten offenbar gewordenen Auseinandersetzungen von Idee und Materie teilhaben.
Auch auf internationaler Ebene erfahren Claudia Biehnes Arbeiten große Aufmerksamkeit und Resonanz. Ihre bisherige Ausstellungs-Historie ist wirklich beeindruckend und erlaubte ihr die Teilnahme an wichtigen Präsentationen auf dem gesamten Globus. Europa, USA und Asien, verbunden mit vielen Reisen, die ihrer Fantasie wiederum Nahrung gaben und die sie in Zeiten von Corona schmerzlich vermisste. 2013 erhielten Claudia Biehne und Stefan Passig den Sonderpreis des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst beim Fünften Internationalen Marianne Brandt Wettbewerb. Auf der 10. Internationalen Ceramics Competition im japanischen Mino errangen sie 2014 den Jurypreis. 2015 wurden sie in die International Academy of Ceramics aufgenommen. Ihre Arbeiten befinden sich heute weltweit in renommierten Museen und internationalen Privatsammlungen. Aus dem Prinzip »weniger ist mehr« ist Claudia Biehne von jeher herausgefallen. Ich nutze meine Erfahrungen und Fähigkeiten, sagt sie, ich biege an einer Kreuzung ab und sehe die Variationsmöglichkeiten explodieren. Konzentriert auf das Material Porzellan, und die damit kombinierbaren Glasuren, fordert sie ihre Vorstellungskraft und Experimentierlust zum Äußersten heraus – um sich als Künstlerin mit ihrem Werk vor den inspirierenden Phänomenen der Natur zu verneigen.