Die Kunst der Begehung

Alpinist Christoph Hainz

Was hat dich als lus­ti­gen Men­schen in die Ein­sam­keit der Ber­ge getrie­ben und wes­halb hast du schließ­lich den Beruf des „Extrem­berg­stei­gers“ gewählt? Ich wur­de sozu­sa­gen in die Natur hin­ein­ge­bo­ren und wuchs in einer rau­en Umge­bung, in sehr ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen auf – mit viel Frei­heit und Frei­raum und wenig Kon­trol­le. Das hat­te Vor- und Nach­tei­le. Damals war es nor­mal, dass man sich in den Jah­res­lauf ein­ord­ne­te und sich den jewei­li­gen Bedin­gun­gen anpass­te. So durch­leb­te man har­te Win­ter und arbeits­rei­che Som­mer. Nie­mand dach­te dar­über nach, weil es eben nichts Außer­ge­wöhn­li­ches war.

Als Hüt­bub war ich in steils­tem, unweg­sa­mem Gelän­de unter­wegs und trug nicht nur die Ver­ant­wor­tung für mich selbst, son­dern auch für das Wohl­erge­hen der Kühe. Wenn etwas schief ging, gab es Ärger. Damals muss­te man sich schon im Kin­des­al­ter sei­nen zuge­teil­ten Auf­ga­ben ernst­haft stel­len. Das wäre heu­te in unse­ren Brei­ten nicht mehr vor­stell­bar. Dadurch lern­te ich jedoch früh, mich mit der Natur aus­ein­an­der­zu­set­zen, sie sehr genau zu beob­ach­ten, Warn­si­gna­le wie z. B. die Vor­zei­chen her­an­na­hen­der Gewit­ter, zu erken­nen und rich­tig zu lesen. Da ich viel­fach auf mich allei­ne gestellt war, übte ich mich schon als Bub dar­in, die Lage ein­zu­schät­zen und eigen­stän­dig Ent­schei­dun­gen zu tref­fen. Die­se Erfah­run­gen und die Selbst­ver­ständ­lich­keit, sich den Gege­ben­hei­ten der Natur anzu­pas­sen, kom­men mir heu­te ein­deu­tig zugu­te. Wenn man die Natur von jeher so lebt, kann man es spü­ren, dass man ein Teil von ihr ist. Sie ist einem ver­traut und man steht mit ihr im stän­di­gen Zwie­ge­spräch. Da bleibt kein Raum für ein Gefühl von Ein­sam­keit! Obwohl ich in mei­nem Her­zen Extrem­berg­stei­ger bin, traf ich irgend­wann die Ent­schei­dung in ers­ter Linie als Berg­füh­rer mei­nen Lebens­un­ter­halt zu bestrei­ten. Mich als Pro­fi­berg­stei­ger „ver­mark­ten“ zu las­sen, wäre sehr wohl mög­lich gewe­sen und die Idee an sich war ver­füh­re­risch …! Letzt­end­lich ent­schied ich mich für den Berg­füh­rer­be­ruf und bewahr­te mir das, was mir unbe­schreib­lich wert­voll ist, mei­ne Frei­heit. Somit bin ich nach wie vor Herr mei­nes eige­nen Ter­min­ka­len­ders … und das tut gut!

Du bist welt­weit bekannt für dei­ne Erst­be­ge­hun­gen – wel­che davon hat dich am meis­ten fasziniert?

Erst­be­ge­hun­gen sind immer span­nend! Eine Idee ent­steht und wächst im Ver­bor­ge­nen bis sie aus­ge­reift ist. Die Fas­zi­na­ti­on beginnt mit dem Tüf­teln in der Vor­be­rei­tung, zieht sich wei­ter im „figh­ten“ bei der Umset­zung und hält dich in Span­nung bis zum erfolg­rei­chen Abschluss des Pro­jek­tes. Das ist ein Spiel, das sich immer wie­der und mit gro­ßer Inten­si­tät wie­der­holt. Dar­um ist jeweils das aktu­el­le Vor­ha­ben sozu­sa­gen mein liebs­tes Kind, dem mei­ne gan­ze Auf­merk­sam­keit gilt. Ist ein Pro­jekt abge­schlos­sen, freut man sich dar­an, aber es ist umge­setzt und somit erle­digt. Bald schon schwei­fen die Gedan­ken wei­ter und sind auf der Suche nach neu­en Her­aus­for­de­run­gen und so wer­den wie­der­um span­nen­de Ideen gebo­ren…! Müss­te ich mich auf eine bestimm­te Rou­te fest­le­gen, die mir beson­ders viel bedeu­tet, dann wäre es viel­leicht „das Phan­tom der Zin­ne“, ganz ein­fach dar­um, weil es mei­ne aller­ers­te Erst­be­ge­hung in den Drei Zin­nen war.

Südti­rol ist bekannt für Alpi­nis­mus und zieht vie­le Berg­stei­ger in sei­nen Bann. Wel­che Per­sön­lich­kei­ten hast du bereits zum Gip­fel geführt und wor­in siehst du als Berg­füh­rer dei­ne Stärken?

Die größ­te Her­aus­for­de­rung an mich als Berg­füh­rer ist es, jeden Tag die wech­seln­den Bedin­gun­gen am Berg und jeden Gast hin­sicht­lich sei­ner Mög­lich­kei­ten und sei­ner Ver­fas­sung rich­tig ein­zu­schät­zen, um so best­mög­lich für sei­ne Sicher­heit und den Genuss am Berg zu sor­gen! Es spielt kei­ne Rol­le, ob ich mit wich­ti­gen Per­sön­lich­kei­ten unter­wegs bin oder mit Berg­lieb­ha­bern ohne klin­gen­de Namen. Die Kunst ist es, sich auf den Ein­zel­nen ein­zu­stel­len, und ihn an sei­ne Gren­zen zu füh­ren, ohne ihn zu über­for­dern. Jeder Kun­de ist sozu­sa­gen ein VIP, wenn er an mein Seil geknüpft ist. Natür­lich füh­re ich immer wie­der auch bekann­te Men­schen in die Ber­ge, wie z.B. Frank Wal­ter Stein­mei­er. Für mei­ne Arbeit und mei­ne Auf­ga­be als Berg­füh­rer macht dies jedoch kei­nen Unterschied.

Du hast eine Fami­lie mit zwei Kin­dern und sehr vie­le Freun­de; wie gehst du mit den The­men Risi­ko, Angst und per­sön­li­che Gren­zen um?

In mei­nen wil­den Jah­ren war ich mit sehr viel Risi­ko unter­wegs – vogel­frei, ohne Zwang und ohne Furcht, da ich nur für mich allein die Ver­ant­wor­tung zu tra­gen hat­te. Ich war ohne Beden­ken bereit, mich in der Grenz­re­gi­on zwi­schen dem gera­de noch Mach­ba­ren und dem Unmög­li­chen zu bewe­gen. Heu­te ist mir bewusst, dass ich in die­ser Zeit nicht nur kör­per­lich und men­tal top­fit war, son­dern jeden Tag aufs Neue auch das not­wen­di­ge Glück auf mei­ner Sei­te hat­te! Aus die­ser Zeit stam­men die meis­ten mei­ner wil­den Tou­ren, Rou­ten, die bis heu­te kei­ne Wie­der­ho­lung haben wie z.B. der „Hexn­bei­ßer“ am Hohen Zwöl­fer in den Sext­ner Dolo­mi­ten. Mit der Geburt mei­ner Kin­der hat sich eini­ges geän­dert. Man spürt doch die Ver­ant­wor­tung und ten­diert dann zu mehr Sicher­heit. Schwie­ri­ge Tou­ren waren wei­ter­hin auf mei­ner Wunsch­lis­te, jedoch mit weit weni­ger Risi­ko­be­reit­schaft mei­ner­seits. Das Berg­stei­gen ist viel­schich­tig und das The­ma „eige­ne Gren­zen“ und der Umgang mit Angst sehr kom­plex, da vie­le Fak­to­ren eine Rol­le spie­len und der Berg stets eine zusätz­li­che Unbe­kann­te auf Lager hat. Vor­aus­set­zung für einen Pro­fi­berg­stei­ger ist es, sich selbst sehr gut zu ken­nen, in kör­per­lich opti­ma­ler Ver­fas­sung zu sein und über ein gutes Bauch­ge­fühl zu ver­fü­gen…! Ohne die Bereit­schaft die Kom­fort­zo­ne zu ver­las­sen und bis an sei­ne Gren­zen zu gehen, wird man am Berg kei­ne Erfol­ge fei­ern kön­nen. Im Grenz­gang ist natür­lich immer auch die Kom­po­nen­te Angst ein Stück weit vor­han­den. Nie­mand klet­tert im Extrem­be­reich ohne das Bewusst­sein der objek­tiv vor­han­de­nen Gefahr, in der er sich bewegt. Angst ist jedoch nicht gleich Angst! Angst kann auch die not­wen­di­ge Sti­mu­lie­rung sein, eine brenz­li­ge Situa­ti­on genau zu ana­ly­sie­ren und in Fol­ge eine Ent­schei­dung zu tref­fen. Die Kunst am Berg ist es, sich bei die­sem Grenz­gang auf dem schma­len Grat zwi­schen Erfolg und Miss­erfolg in Balan­ce zu hal­ten und im ent­schei­den­den Moment die rich­ti­ge Ent­schei­dung zu treffen.

Künst­ler sto­ßen in ihrem Schaf­fens­pro­zess immer wie­der an ihre Gren­zen und erst deren Über­schrei­tung führt sie zu neu­er Inspi­ra­ti­on und einem „fast“ voll­ende­ten Kunst­werk – ist das im Alpi­nis­mus ähnlich?

Der Berg an sich ist immer schon eine Gren­ze. Das Span­nen­de dar­an ist, in wie weit kann ich sie mit mei­nen Fähig­kei­ten und mei­nen Mög­lich­kei­ten über­win­den. Man­che Tou­ren erschlie­ßen sich fast von allei­ne und der Berg ergibt sich, wäh­rend ande­re Wän­de oder Ber­ge im wahrs­ten Sin­ne der Wor­tes „bezwun­gen“ wer­den müs­sen. Da beginnt die Kunst am Berg. Er ver­langt vom Berg­stei­ger, dass er sich inten­siv mit ihm aus­ein­an­der­setzt mit Tech­nik, Aus­dau­er und Krea­ti­vi­tät, Schritt für Schritt den Weg zum Gip­fel erobert. Somit ist das Errei­chen des Gip­fels die voll­ende­te Kunst der Bege­hung im Wech­sel­spiel zwi­schen Anpas­sung und Unterwerfung.

Die Fas­zi­na­ti­on „Berg“ zieht sich durch vie­le Epo­chen der Mensch­heit – du bist dem Berg wesent­lich näher gekom­men als vie­le ande­re Men­schen. War­um denkst du haben Ber­ge auf uns eine magi­sche Wirkung?

Als Jun­ge im Alter von 12 Jah­ren erleb­te ich die umlie­gen­den Ber­ge als Ein­engung, als Ein­schrän­kung mei­nes Blick­fel­des. Die Neu­gier, was wohl hin­ter die­sen Ber­gen lie­gen moch­te, war damals die Trieb­fe­der für vie­le mei­ner spon­ta­nen und teils wag­hal­si­gen Klet­ter­ak­tio­nen. Der Berg an sich ist eine natür­li­che Gren­ze. Gren­zen zu über­schrei­ten übt auf die Men­schen von jeher eine Fas­zi­na­ti­on aus. Als Extrem­berg­stei­ger geht es mir dar­um, räum­li­che und per­sön­li­che, damit mei­ne ich sowohl phy­si­sche als auch psy­chi­sche Gren­zen, zu bege­hen und die­se, auf geho­be­nem Niveau, zu ver­schie­ben. Denn jeder Gip­fel, jede neue Her­aus­for­de­rung am Berg eröff­net wie­der­um neue Wei­ten, neue Dimen­sio­nen und neue Per­spek­ti­ven. Ich den­ke, dass dies für den ein­fa­chen Wan­de­rer glei­cher­ma­ßen gilt, wie für den Pro­fi­berg­stei­ger. Für den uner­fah­re­nen Stadt­men­schen ist eine Wan­de­rung im Mit­tel­ge­bir­ge genau­so ein Erschlie­ßen der eige­nen Gren­zen und der Gren­zen des Ber­ges, wie für den Klet­te­rer das Erklim­men einer stei­len Wand, oder das Bezwin­gen eines Acht­tau­sen­ders für den Höhen­berg­stei­ger. Die über­wäl­ti­gen­de Ästhe­tik der Natur in ihrem facet­ten­rei­chen, jah­res­zei­ten­be­ding­tem Erschei­nungs­bild beglei­tet den Grenz­gang des Men­schen in den Ber­gen haut­nah. Aus Ein­drü­cken, Emo­tio­nen, Far­ben, Gerü­chen, Tem­pe­ra­tu­ren, …, ent­ste­hen Stim­mungs­bil­der, sozu­sa­gen Kunst­wer­ke des Augen­bli­ckes, die in ihrer Ganz­heit­lich­keit und Inten­si­tät vom Berg­stei­ger nur für kur­ze Zeit gelebt wer­den, aber nie­mals voll­stän­dig fest­ge­hal­ten wer­den kön­nen. In Zusam­men­spiel die­ser bei­den Momen­te wird ver­mut­lich die magi­sche Wir­kung der Ber­ge auf uns Men­schen zu fin­den sein.

Archiv Chris­toph Hainz; Film­auf­nah­men an der Rot­wand im Rosengarten
Rou­te „Wave up X-“ Süd­afri­ka; Foto: Frank Kretschmann

Du hast in dei­nem Leben als Alpi­nist schon sehr viel erreicht. Gibt es kon­kre­te Plä­ne für neue Aben­teu­er bzw. auf wel­che Schla­ge­zei­le dür­fen wir uns freuen?

Wie oben bereits erwähnt, wach­sen die bes­ten Ideen im Ver­bor­ge­nen, bis sie für die Umset­zung reif sind. Ich hal­te es damit ger­ne wie ein Künst­ler. Mei­ne Wer­ke prä­sen­tie­re ich erst wenn sie voll­endet sind…!

Chris­toph Hainz

Hainz ist seit 1990 staat­lich geprüf­ter Berg- und Ski­füh­rer, seit 1998 im Aus­bil­dungs­team der Süd­ti­ro­ler Berg- und Ski­füh­rer und seit 1999 Sport­klet­ter- und Can­yo­ning-Leh­rer. Er leb­te von 1995 bis 2011 mit sei­ner dama­li­gen Frau Clau­dia in Rei­schach, Süd­ti­rol. Seit 2011 lebt er in Nasen, eben­falls Süd­ti­rol. Er hat einen Sohn und eine Toch­ter. Obwohl er sich erst mit 20 Jah­ren ernst­haft für die Ber­ge zu inter­es­sie­ren begann, führ­te Chris­toph Hainz bis­her über 2000 Berg­tou­ren durch, klet­ter­te Rou­ten bis zum Grad X/X+, Mixed­rou­ten bis zum Grad M13 und bewäl­tig­te auch zahl­rei­che alpi­ne Rou­ten bis zum 10. Schwie­rig­keits­grad sowie die Eiger-Nord­wand free solo in 4,5 Stun­den. Zu sei­nen beson­de­ren Leis­tun­gen zäh­len auch die schnells­te Solo-Bege­hung des Fitz Roy in Pata­go­ni­en in 9 Stun­den und die Erst­be­ge­hung des Shiv­ling-Nord­pfei­lers zusam­men mit Hans Kam­mer­lan­der in Indien.

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