Die Klebebande zwischen Street Art und Auftragskunst

Sie star­te­ten vor fünf­zehn Jah­ren als Pio­nie­re der Tape Art – und sind heu­te ein inter­na­tio­nal begehr­tes Künst­ler­kol­lek­tiv, das nicht nur an Aus­stel­lun­gen und Kunst­fes­ti­vals par­ti­zi­piert, son­dern auch von gro­ßen Unter­neh­men beauf­tragt wird. Ich habe die Kle­be­ban­de in ihrem Ate­lier in Ber­lin besucht, um über Mei­len­stei­ne die­ses beein­dru­cken­den Wer­de­gangs zu spre­chen. Sie ver­ra­ten die Grün­de ihres Erfolgs und wie man lang­fris­tig gemein­sam Kunst pro­du­zie­ren kann, ohne dass per­sön­li­che Visio­nen auf der Stre­cke blei­ben. Beson­ders hat mich inter­es­siert: Wie ver­än­dert sich das künst­le­ri­sche Selbst­ver­ständ­nis ange­sichts einer sol­chen Entwicklung?

Auf dem Weg zum Holz­markt, wo sich das Ate­lier der Kle­be­ban­de befin­det. Bereits am Ost­bahn­hof springt mir ihr monu­men­ta­les Wand­ge­mäl­de an der Fas­sa­de des Haupt­ge­bäu­des ins Auge. Es bil­det die farb­li­che Mar­kie­rung eines ohne­hin impo­san­ten Gelän­des: Hier, an den Ufern der Spree, haben 2003 die Initia­to­ren der Bar 25 aus Bret­tern einen Tech­no-Club zusam­men­ge­na­gelt, der für Fei­ern­de aus aller Welt zu einem Zuhau­se wur­de. Heu­te ist der Holz­markt eine jener Ber­li­ner Insti­tu­tio­nen, die für das glo­bal wirk­sa­me Image eines in der Sub- und Club­kul­tur wur­zeln­den Krea­tiv-Stand­orts ver­ant­wort­lich ist. Eine pas­sen­de Wir­kungs­stät­te für Künst­ler, die einst in der Street Art Sze­ne aktiv waren und heu­te Office Spaces und Kon­zern­ge­bäu­de bespielen.

Ange­kom­men und Stuhl bekom­men. Schräg von der Spree her schickt die Son­ne ihre Strah­len durch die brei­te Fens­ter­front des groß­zü­gi­gen Ate­liers. Die Kle­be­ban­de hat sich ver­sam­melt und sitzt ent­spannt und mit Kaf­fee­tas­sen in der Hand um den gro­ßen Arbeits­tisch her­um. An der Rück­wand befin­det sich ein rie­si­ges Regal mit Kle­be­band­rol­len unter­schied­lichs­ter Grö­ße, Far­be und Tex­tur. Die übri­gen Wän­de sind mit gekleb­ten Lein­wand-Arbei­ten und aus­ge­druck­ten Pro­jekt-Ent­wür­fen über­sät. Neben der Klimm­zug­stan­ge fal­len mir die vier Fahr­rä­der auf, die alle­samt ziem­lich sport­lich und hoch­wer­tig wir­ken. Bru­no geht zum Schreib­tisch und schnappt sich einen Zei­chen­block. Bodo setzt sich an sei­nen Com­pu­ter und öff­net Auto­CAD. Kol­ja und Huge blei­ben sit­zen und beant­wor­ten gedul­dig mei­ne Fragen.

Mich inter­es­siert das Motiv dafür, im Ber­lin der 1990er Jah­re nachts auf die Stra­ßen hin­aus zu gehen und an Häu­ser­fas­sa­den visu­el­le Spu­ren zu hin­ter­las­sen. „Damals ging es extrem um die Gestal­tung und Erobe­rung der urba­nen Lebens­wirk­lich­keit, das Mit­ein­an­der als Crew und die adre­na­lin­ge­tränk­te Action“, ant­wor­ten die bei­den. „War­um soll­ten wir den Wer­be­agen­tu­ren das künf­ti­ge Erschei­nungs­bild Ber­lins über­las­sen? Wir woll­ten die Ent­wick­lung mit­be­stim­men, dem Main­stream etwas ent­ge­gen­set­zen und für unse­re Hal­tung prä­gen­de Aus­drucks­for­men fin­den. Street Art bzw. Coun­ter­cul­tu­re eben. Und wir mit­ten drin. Irgend­wann fiel dann die Ent­schei­dung für das Klebeband.“

Tape Art, die exzes­si­ve künst­le­ri­sche Ver­wen­dung von Kle­be­band, begann mit einer Grup­pe in Pro­vi­dence, Rho­de Island – und ver­brei­te­te sich dann seit den 1990er Jah­ren glo­bal. Kol­ja dazu lachend: „Ich habe erst­mals 2005 bei mir in der Küche in der Berg­mann­stra­ße getaped. Es war rei­nes Aus­pro­bie­ren, denn es gab hier ja nie­man­den, der so etwas schon gemacht hat­te.“ So um 2010 wur­de Ber­lin dann zur „unum­strit­te­nen Haupt­stadt der Tape Art“ (so Micha­el Town­send), wobei sich neben der Kle­be­ban­de all­mäh­lich auch ande­re Crews for­mier­ten. Ich fra­ge Bru­no nach dem Grund, wes­halb sie damals von Sprüh­do­sen sehr ent­schie­den auf das Kle­be­band wech­sel­ten – und damit alles auf eine Kar­te setz­ten: „Wir began­nen inten­siv damit zu arbei­ten, nach­dem wir auf einer Werk­schau unse­rer wil­den Neun­zi­ger nicht sprü­hen konn­ten. Gera­de für den urba­nen Kon­text erschien uns das Kle­be­band mit sei­ner indus­tri­el­len Her­kunft dann sehr pas­send. Bodo schaut von sei­nem Bild­schirm auf und ergänzt: „Ästhe­tisch gese­hen begüns­tigt es eine gra­phi­sche, clea­ne Her­an­ge­hens­wei­se und har­te Kon­tras­te. Es legt einem aber auch Beschrän­kun­gen auf – bei­spiels­wei­se durch sei­ne Nei­gung zur Geradlinigkeit.“

Cre­dit: Bau­haus-Archiv x Kle­be­ban­de, Foto: Mar­cus Zumbansen

Zwi­schen 2005 und 2010 zog die Kle­be­ban­de ihre eige­nen Pro­jek­te durch. Dazu gehör­te die Gestal­tung eines Trucks für den Kar­ne­val der Kul­tu­ren sowie Raum­ge­stal­tun­gen für Tech­no­clubs. Irgend­wann wur­den sie dann zu Live-Per­for­man­ces mit Tape Art ein­ge­la­den. Und schließ­lich kamen dann Betei­li­gun­gen an Street Art Aus­stel­lun­gen dazu. Kol­ja, der gera­de an der Klimm­zug­stan­ge ein paar Chin Ups hin­ge­legt hat und daher etwas außer Pus­te ist, kom­men­tiert: „Es war schon erstaun­lich zu sehen, wie sehr sich die Sze­ne für das neue Medi­um inter­es­sier­te. Unser gro­ßer Durch­bruch kam dann 2015 mit dem Bei­trag auf Arte Tracks – denn danach frag­ten immer mehr Gale­rien, Agen­tu­ren und Unter­neh­men bei uns an.“

Mei­len­stei­ne die­ses Pro­zes­ses: 2015 wer­den sie beauf­tragt, auf dem Fes­ti­val der Online Mar­ke­ting Rock­stars als Live Per­for­mance das „A“ des Ado­be-Logos neu zu inter­pre­tie­ren. Hier zei­gen sie erst­mals das mitt­ler­wei­le iko­nisch gewor­de­ne „Ban­den­mus­ter“: Eine Art Möbi­us­schlei­fe, die dazu fähig ist, sich unend­lich fort­zu­spin­nen und die Geo­me­trie von Räu­men kom­plett zum Ein­sturz zu brin­gen. Und wie­der anders auf­zu­bau­en. Noch im sel­ben Jahr brin­gen sie dann die Tape Art nach Süd­ame­ri­ka: Für eine Moden­schau in Medel­lín rea­li­sie­ren sie eine acht Meter hohe, frei­ste­hen­de Instal­la­ti­on. 2017 wer­den sie zu dem epo­che-machen­den Kunst­pro­jekt The Haus ein­ge­la­den: Über 100 Künst­ler ver­wan­deln eine alte Bank nahe der Tau­ent­zi­en­stra­ße (Ber­lin) tem­po­rär in ein gigan­ti­sches Gesamt­kunst­werk. Und 2018 bekle­ben sie die Karos­se­rien drei­er MAN-Bus­se – und the­ma­ti­sie­ren hier­mit urba­ne Erfah­rung und Mobi­li­tät. Zum For­men­re­per­toire der Kle­be­ban­de gehö­ren neben kom­ple­xen gra­phi­schen Struk­tu­ren wie dem Ban­den­mus­ter auch gegen­ständ­li­che Moti­ve, die sich förm­lich in die Netz­haut ein­bren­nen. Vie­le von ihnen sind mitt­ler­wei­le zum Mar­ken­zei­chen gewor­den – wie bei­spiels­wei­se die Krea­tu­ren aus dem „urban jungle“. Das aus der Street Art kom­men­des Stil­be­wusst­sein, die durch­ge­plan­te Gestal­tung und sowie die tech­ni­sche Prä­zi­si­on bil­den dabei immer eine Einheit.

Letz­tes Jahr hat die Kle­be­ban­de dann den Auf­trag für drei monu­men­ta­le Fas­sa­den­ar­bei­ten und 14 Eta­gen im Münch­ner Office-Tower „Atlas“ erhal­ten. Bodo erläu­tert: „Wenn es zu so einer Koope­ra­ti­on kommt, wird uns meis­tens ein gene­rel­les The­ma vor­ge­ge­ben. Das genaue Kon­zept und den Ent­wurf erar­bei­ten wir dann in Abstim­mung mit den Auf­trag­ge­bern. Wir fan­gen dann zu recher­chie­ren und inter­pre­tie­ren an, erstel­len Mood­boards und Scribbles, erar­bei­ten Moti­ve und clus­tern sie unter Berück­sich­ti­gung des tat­säch­li­chen Maßstabes.“

Sol­che Auf­trä­ge zei­gen beson­ders deut­lich den radi­ka­len Sze­nen­wech­sel, den die Kle­be­ban­de hin­ge­legt hat: War es damals eine urba­ne Sub­kul­tur, die nach neu­en Aus­drucks­wei­sen und Dar­stel­lungs­me­di­en such­te, so sind es heu­te Archi­tek­tur­bü­ros, Start-ups und Kon­zer­ne, die auf­grund von Inno­va­ti­ons­be­dürf­nis und Wer­te­wan­del eine rie­si­ge Nach­fra­ge nach krea­ti­ven und expe­ri­men­tel­len Pro­duk­ten erzeu­gen. Denn die Ver­än­de­rung von Unter­neh­mens­kul­tu­ren, Arbeits­kon­tex­ten und Koope­ra­ti­ons­for­men muss nicht nur durch Social Desig­ning her­bei­ge­führt wer­den. Son­dern es gilt auch, für die­ses neue Selbst­ver­ständ­nis geeig­ne­te Aus­drucks­mit­tel und Reprä­sen­ta­ti­ons­for­men zu fin­den. Und genau die­sen Job scheint die Kle­be­ban­de extrem pro­fes­sio­nell und ver­läss­lich zu erle­di­gen: Im Zei­chen von New Work und Employ­er Bran­ding wer­den Büro-Flä­chen und Fir­men­zen­tra­len in visu­el­le Groß­ereig­nis­se ver­wan­delt. „Wie­viel Mar­ke unse­re Kunst ver­trägt und wie viel Kunst die Mar­ken ver­tra­gen“, so Kol­ja, „ist für uns aber immer noch eine offe­ne und viel dis­ku­tier­te Frage.“

Ich fra­ge nach den Fak­to­ren, die für den anhal­ten­den Erfolg ver­ant­wort­lich sind. Bodo, Bru­no und Kol­ja zei­gen simul­tan auf Huge, der als Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­ler die Geschi­cke der Kle­be­ban­de maß­geb­lich mit­be­stimmt. Er hat dem Team bei­gebracht, sich stän­dig zu hin­ter­fra­gen und neue Wege zu gehen. Er hat regel­mä­ßi­ge Work­shops ein­ge­führt, in denen es mit Metho­den wie Dra­gon Dre­a­ming und inte­gra­ti­ver Ent­schei­dungs­fin­dung, nicht nur um Rück­bli­cke oder um das Tages­ge­schäft geht, son­dern in denen ite­ra­tiv an einer gemein­sa­men Visi­on gebas­telt wird. Und er hat durch sein Coa­ching für kla­re Rol­len­ver­tei­lun­gen und Wei­chen­stel­lun­gen gesorgt: „Heu­te gibt es für uns bestimm­te kon­zep­tu­el­le und kon­tex­tu­el­le Vor­aus­set­zun­gen, die gege­ben sein müs­sen“, so Bru­no. „Wir machen nicht mehr alles und wir neh­men auch nicht mehr jedes Ange­bot an.“ Huge betont, dass hier­bei auch die jewei­li­gen Unter­neh­mens­wer­te eine Rol­le spie­len: „Wir haben auch schon Anfra­gen von Air­bus, Dow Che­mi­cal und Nest­lé erhal­ten – aber dan­kend abge­lehnt. Die Gren­ze zwi­schen ‚go‘ und ‚no go‘ ist aller­dings nicht immer so ein­fach zu zie­hen wie in die­sen Fällen.“

Ich sit­ze da und bin ver­blüfft, wie pro­duk­tiv und selbst­ver­ständ­lich die­ses Künst­ler­kol­lek­tiv moder­ne Metho­den der Unter­neh­mens­ent­wick­lung und Mit­ar­bei­ter­füh­rung ein­setzt, um die eige­nen Zie­le zu schär­fen. Ich stau­ne über das stark aus­ge­präg­te Team-Den­ken, das sich sehr ange­nehm vom dem in der Bil­den­den Kunst herr­schen­den Ego­zen­tris­mus unter­schei­det. Und ich über­le­ge, wie ihr Tätig­keits­feld eigent­lich zu bezeich­nen ist. Ange­wand­tes Design wie Wege­leit­sys­te­me oder Fir­men­lo­gos lehnt die Grup­pe mitt­ler­wei­le ent­schie­den ab. Statt­des­sen insze­niert sie visu­el­le Ereig­nis­se, die prak­tisch gese­hen selbst­zweck­haft sind und sehr raum­be­herr­schend aus­fal­len. Und Kate­go­rien wie Autor­schaft, Eigen­stän­dig­keit und Wie­der­erkenn­bar­keit spie­len hier­bei eine ziem­lich gro­ße Rol­le. Die Kle­be­ban­de stellt gewis­ser­ma­ßen die moder­ne Ver­si­on vor­mo­der­ner Auf­trags­künst­ler wie Tizi­an oder Rubens dar. Was ihre Auf­trag­ge­ber zu moder­nen Mäze­nen macht.

Gegen Abend gehe ich Rich­tung Ost­bahn­hof, den Holz­markt im Rücken. Es hat den Anschein, dass sich die Ent­wick­lung der Kle­be­ban­de in ihrem Umfeld wider­spie­gelt. Nicht nur der Holz­markt, son­dern die Stadt als sol­che scheint erwach­sen gewor­den zu sein – und mit ihr auch die Kle­be­ban­de. Eines ist mir klar gewor­den: Es dürf­te sich loh­nen, die Grup­pe im Blick zu behal­ten. Gera­de wur­den sie für eine Aus­stel­lung im Bau­haus-Archiv beauf­tragt. Der Anlass: Bereits eini­ge Schü­ler von Lud­wig Mies van der Rohe haben mit Kle­be­band expe­ri­men­tiert. Mal sehen, wo die Rei­se noch so hinführt.

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ist Kunsthistoriker und lebt in Berlin. Mit großer Leidenschaft verfolgt er künstlerische Phänomene, die sich außerhalb von Kunstgalerien und musealen Ausstellungen ereignen. Seine 2015 erschienene Dissertation trägt den Titel Alltägliche Wirklichkeit als (temporäre) Kunst. Zu Neugestaltung der Beziehung zwischen Kunst und Leben bei Rauschenberg, Kaprow und Oldenburg. Unter anderem ist er Mitherausgeber des Sammelbandes: Kunst und Wirklichkeit heute: Affirmation – Kritik – Transformation.

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