Einfangen von Fragmenten eines Anderswo

Sohail Karmani

In die­sen Foto­gra­fien offen­bart sich ein Gefühl der Welt. Es spricht von dem Licht, das in den Gesich­tern der Men­schen hän­gen geblie­ben ist. Von Tagen in leuch­ten­den Far­ben, die an einem Him­mel aus trans­pa­ren­ter Luft hän­gen. Von Kin­dern ohne Dra­chen, ohne Schnur und ohne Wind. Von Augen, die im Gegen­licht reflek­tie­ren. Von ver­fal­le­nen Mau­ern, wie die Über­res­te einer ent­setz­li­chen Schlacht. Eine Zusam­men­stel­lung von Bil­dern mit ihren Bedeu­tun­gen, die mensch­li­che Bege­ben­hei­ten ver­fol­gen, Emo­tio­nen aus­drü­cken. Sohail Kar­ma­nis Arbeit ist eine Mischung aus bewe­gungs­lo­sem Stau­nen und einem Wun­der der Vitalität.

Der in Eng­land gebo­re­ne und auf­ge­wach­se­ne Lon­do­ner Kar­ma­ni stammt aus einer Fami­lie paki­sta­ni­scher Her­kunft, doch erst 2010 ging er zum ers­ten Mal nach Paki­stan. Er ist der Sohn eines Lon­do­ner Bus­fah­rers, der die Stadt Sahi­wal Anfang der 1960er Jah­re ver­las­sen hat­te, und lebt heu­te in Abu Dha­bi, wo er ordent­li­cher Pro­fes­sor an der New York Uni­ver­si­ty ist. Er hat einen aka­de­mi­schen Hin­ter­grund in ange­wand­ter Lin­gu­is­tik und lei­tet der­zeit einen Stu­di­en­gang in „Power and Ethics in Photography“.

Seit ich den­ken kann, hat die Foto­gra­fie immer star­kes Inter­es­se in mir geweckt. Aber ich glau­be, es war 2010, als ich zum ers­ten Mal nach Paki­stan reis­te, dass sich die­ses Inter­es­se irgend­wie kon­kre­ti­siert hat. Es mag selbst­ver­ständ­lich erschei­nen, aber die­se Rei­se erwies sich unter ande­rem als unglaub­li­ches visu­el­les Erleb­nis. Ich war buch­stäb­lich über­wäl­tigt von den Far­ben, den Vibra­tio­nen und den Geschich­ten, die jede Stra­ßen­ecke durch­drin­gen. Plötz­lich erkann­te ich die Grün­de, war­um der Osten schon immer eine so star­ke Fas­zi­na­ti­on auf Groß­bri­tan­ni­en ausübte.“

Men­schen, Rei­sen, die Stra­ße, die Doku­men­tar­fo­to­gra­fie, das sind die The­men sei­ner Wahl. Die leb­haf­ten Far­ben, die chro­ma­ti­schen Kon­tras­te, das manch­mal blen­den­de Licht, sind auf die Vita­li­tät einer frucht­ba­ren mensch­li­chen Natur auf­ge­pfropft, die aus Gesich­tern und Kör­pern besteht und die in der Sei­te ihrer Authen­ti­zi­tät ein­ge­schlos­sen sind. Sie sind in der Lage, eine star­ke emo­tio­na­le Betei­li­gung des Betrach­ters zu erzeu­gen, weil sie in der Lage sind, einen dyna­mi­schen Dia­log zwi­schen dem Sub­jekt und dem Objekt, zwi­schen Betrach­ter und Betrach­te­tem ent­ste­hen zu las­sen. Sie sind kon­kre­te Poe­sie, die gera­de in der Rea­li­tät und in der Bezie­hung zur Rea­li­tät ihren gan­zen Magne­tis­mus ent­fes­selt und sei­ne anzie­hen­de Kraft ver­strö­men lässt. Die Magie der Atmo­sphä­ren, kom­bi­niert mit der fast schon fleisch­li­chen Ener­gie, die aus die­ser Myria­de mensch­li­cher Frag­men­te ent­springt, erzählt uns von einem äußerst sen­si­blen Foto­gra­fen, der die Kraft des Bil­des in ein der Öffent­lich­keit zugäng­li­ches Gebil­de zu über­set­zen weiß. Von einem Foto­gra­fen, der Foto­gra­fie als Gram­ma­tik zum Schrei­ben ver­wen­det und in der Foto­gra­fie sei­ne eige­ne Erzähl­spra­che ent­wi­ckelt hat. Und sei­ne Visi­on von der Welt, sei­ne Kul­tur, sei­ne Gefüh­le sind dar­in enthalten.

Sohail Kar­ma­ni, 2017

Der Mensch und der Foto­graf sind nicht zwei ver­schie­de­ne Figuren. 

Mei­ne Ein­stel­lung zur Foto­gra­fie wird wahr­schein­lich von mei­ner ande­ren gro­ßen Lei­den­schaft beein­flusst: der Spra­che. Ich war schon immer fas­zi­niert von der Natur der Spra­che, der Art und Wei­se, wie wir sie erwer­ben, ihren Nuan­cen und der Rol­le, die sie bei der Gestal­tung unse­rer Iden­ti­tät spie­len kann. Ich inter­es­sie­re mich für die Erfor­schung des Pro­zes­ses, der zur Aus­ar­bei­tung und Inter­pre­ta­ti­on sowohl von Wor­ten als auch von Bil­dern führt. Und bei die­ser Erfor­schung fra­ge ich mich: Wel­che Ele­men­te einer Foto­gra­fie sind es, die unse­re Auf­merk­sam­keit erre­gen? Hat das etwas mit der Har­mo­nie der Kom­po­si­ti­on zu tun? Inwie­weit spie­len Far­ben eine wich­ti­ge Rol­le bei der Gestal­tung der emo­tio­na­len Reak­ti­on auf ein Bild? Und wie ver­än­dert das Licht die visu­el­le Wir­kung? Was ver­birgt sich hin­ter die­sem unver­wech­sel­ba­ren Aus­druck eines Gesichts, der uns begeis­tert? Dies sind nur eini­ge der Fra­gen, die mich immer wie­der faszinieren.

Eine erzäh­len­de Spra­che, die trotz flüch­ti­ger und rascher Gleich­zei­tig­keit, in der sich alles sehr schnell auf­löst, auch der Lang­sam­keit Tri­but zol­len will. „Ich schie­ße nie­mals Bil­der in schnel­ler Fol­ge, son­dern war­te gedul­dig auf den flüch­ti­gen Moment, in dem etwas Beson­de­res oder Unge­wöhn­li­ches pas­sie­ren könn­te, den Moment, in dem sich das Bild ent­fal­ten könn­te. Es kommt vor, dass ich sogar einen gan­zen Tag damit ver­brin­ge, die­sen flüch­ti­gen Moment zu ver­fol­gen, ohne ihn zu fin­den, und dann gehe ich ent­täuscht und mit lee­ren Hän­den nach Hau­se. Aber es könn­te gar nicht anders sein. Denn dies ist mei­ne Art zu fotografieren.“

In jüngs­ter Zeit hat Kar­ma­ni an einer Por­trät­se­rie gear­bei­tet, die in der Stadt Sahi­wal im zen­tra­len öst­li­chen Bezirk von Pun­jab auf­ge­nom­men wur­de, bes­ser bekannt als die Stät­te der anti­ken Zivi­li­sa­ti­on des Indus-Tals (auch Har­ap­pa-Zivi­li­sa­ti­on genannt), die aus dem 3. Jahr­tau­send v. Chr. stammt. Die pro­du­zier­ten Bil­der bie­ten eine Nahan­sicht und in vie­len Fäl­len einen inti­men Ein­blick in den All­tag. Die Gesich­ter sind mit Ritua­len, Zere­mo­nien und Ges­ten ver­bun­den, die typisch für eine Gegend sind, in dem die Natür­lich­keit des mensch­li­chen Zustands noch teil­wei­se intakt ist. Dadurch wird einer leb­haf­ten Meta­phy­sik Raum gege­ben, die sich durch eine doku­men­ta­ri­sche Ein­stel­lung offen­bart und uns eine anthro­po­lo­gi­sche Tex­tur des Lan­des wie­der­gibt. Ohne den illu­so­ri­schen Anspruch auf­zu­ge­ben, erschöp­fend zu sein, den Geist und das Wesen einer gan­zen kul­tu­rel­len oder geo­gra­phi­schen Enti­tät ein­fan­gen zu kön­nen, sind die­se Bil­der statt­des­sen und unaus­weich­lich das Pro­dukt des Blick­win­kels des Foto­gra­fen, die Kris­tal­li­sa­ti­on sei­ner visu­el­len Erin­ne­run­gen. Aber noch wich­ti­ger ist die Frucht der Inter­ak­ti­on mit Sub­jek­ten, Orten und Situa­tio­nen, von denen er sich geru­fen fühlte.

Es kann leicht pas­sie­ren, vor allem, wenn man noch nie in Paki­stan war, im Ste­reo­typ eines kul­tu­rel­len Mono­li­then zu ver­wei­len, der von Extre­mis­ten und Mili­tan­ten ver­sklavt wird und gegen­über Aus­län­dern, ins­be­son­de­re West­lern, into­le­rant ist. In Wirk­lich­keit ist Paki­stan ein Land von außer­or­dent­li­cher Viel­falt, sicher­lich vol­ler Wider­sprü­che, aber auch einer unglaub­li­chen Mensch­lich­keit. Im Her­zen der Stadt Sahi­wal zum Bei­spiel befin­det sich eine angli­ka­ni­sche Kir­che, die sich in kei­ner Wei­se von denen unter­schei­det, die in den Dör­fern der eng­li­schen Land­schaft zu sehen sind. Und nicht weit ent­fernt liegt „Heera Mun­di“, das leb­haf­te Rot­licht­vier­tel. In der Stadt gibt es auch einer gro­ße christ­li­che Gemein­schaft, die aus zwölf ver­schie­de­nen Kon­fes­sio­nen besteht und von denen jede in engem Kon­takt mit den sun­ni­ti­schen und schii­ti­schen Nach­bar­schaf­ten lebt. Trotz des kon­ser­va­ti­ven Kul­tur­hin­ter­grunds ist es in die­ser Stadt nicht unge­wöhn­lich, ver­klei­de­te Män­ner („Kus­reh“) anzu­tref­fen, etwa auf einem über­füll­ten Basar, die sich unter Män­ner mit lan­gen Bär­ten und Frau­en in Bur­kas mischen.

Nichts von all­dem kann uns zur Annah­me ver­an­las­sen, dass Paki­stan eine Art libe­ra­les Para­dies im skan­di­na­vi­schen Stil sei. Die äußerst wich­ti­gen Sicher­heits­fra­gen des Lan­des dür­fen nicht über­se­hen wer­den. Es han­delt sich viel­mehr dar­um, zu beto­nen, dass die paki­sta­ni­sche Gesell­schaft über Vor­ur­tei­le und Ver­all­ge­mei­ne­run­gen hin­aus eine sehr kom­ple­xe Gesell­schaft ist, in der noch alte und archai­sche For­men exis­tie­ren, die nicht von der Indus­trie­kul­tur kon­ta­mi­niert wur­den und in der man die herz­lichs­ten, mensch­lichs­ten und gast­freund­lichs­ten Men­schen der Welt tref­fen kann. Sei­ne Arbeit hat nicht das Ziel, die gesam­te Sahi­wal-Gesell­schaft voll­stän­dig und erschöp­fend zu ver­mit­teln, son­dern sie will der Schön­heit, Wär­me und Wür­de der Men­schen in Sahi­wal und ihrem außer­ge­wöhn­li­chen Geist der Resi­li­enz Tri­but zollen.

Mit vor­ur­teils­lo­sen und unbe­fan­ge­nen Augen betrach­tet, ist der Raum die­ser foto­gra­fi­schen Aner­ken­nung eine Land­schaft, die die Fra­ge nach Ter­ri­to­ri­a­li­tät und Extra­ter­ri­to­ri­a­li­tät, dem Hier und Jetzt, dem Wes­ten und dem Osten, grund­le­gend über­win­det und dem Betrach­ter das Gefühl gibt, in einem hypo­the­ti­schen Mit­tel­punkt, einem Anders­wo, das allen gehört und in dem wir uns alle wie­der­erken­nen kön­nen, auf­ge­ho­ben zu sein. „Das Anders­wo ist ein Spie­gel im Nega­tiv“, schrieb Italo Cal­vi­no in sei­nem Roman „Die unsicht­ba­ren Städ­te“. „Der Rei­sen­de erkennt das weni­ge, was sein ist, wäh­rend­des­sen er das vie­le ent­deckt, das er nicht gehabt hat und nicht haben wird.“

Viel­leicht wür­de es sich in einer Gegen­wart loh­nen, wie­der in Bil­dern zu den­ken, in einer Gegen­wart, in der wir mit so vie­len Bil­dern bom­bar­diert wer­den, dass wir die direk­te Erfah­rung nicht mehr von dem unter­schei­den kön­nen, was vor unse­ren Augen abläuft, wenn auch nur für einen Moment, wo selbst die Erin­ne­rung mit Schich­ten von Frag­men­ten von Dar­stel­lun­gen ver­schüt­tet ist. Und damit der Foto­gra­fie eine klar defi­nier­te und ein­präg­sa­me Form zurück­zu­ge­ben. Der Foto­gra­fie eine Foto­gra­fie zurück­zu­ge­ben, die die Exis­tenz des Ande­ren, des Men­schen und sei­ner Bedürf­nis­se, die ver­schie­de­nen Kul­tu­ren und ihre All­täg­lich­keit unter­sucht. Eine Foto­gra­fie, die es mög­lich macht, das wie­der­her­zu­stel­len, was für unse­ren Geist von grund­le­gen­der Bedeu­tung ist: die Würde.

Kar­ma­ni, der eher ein Foto­graf des Lebens als der Sze­ne ist, nimmt die Her­aus­for­de­rung an und meis­tert sie, dass es aus ethi­scher Sicht erfor­der­lich ist, auf dem schma­len Grat im Gleich­ge­wicht zu blei­ben, der die Wür­de des Men­schen von der Instru­men­ta­li­sie­rung und der thea­tra­li­schen Dar­stel­lung sei­nes Lei­dens trennt. Dabei ist es ganz beson­ders wich­tig, dass man weiß, wie man die Men­schen mit Sen­si­bi­li­tät por­trä­tiert und dass man sich ihnen mit Fein­ge­fühl nähert, vor allem wenn sie ver­wund­bar sind, wenn sie an den Rand der Gesell­schaft gedrängt wer­den. Man muss sich – wenn nötig – auch vom foto­gra­fi­schen Medi­um lösen kön­nen und sich des­sen bewusst sein, wie wich­tig es ist, das Leid nicht in ein Objekt der Neu­gier und des Kon­sums der Rei­chen und Pri­vi­le­gier­ten zu verwandeln.

Außer­dem muss man sich auch dar­über im Kla­ren sein, dass das Nicht-Doku­men­tie­ren des Lebens der mar­gi­na­li­sier­ten Völ­ker das Aus­maß ihrer Mar­gi­na­li­sie­rung auf gewis­se Wei­se erweitert. 

Beitrag teilen
geschrieben von

ist Autorin, unabhängige Kuratorin und Performerin. Sie schreibt für verschiedene Zeitschriften über zeitgenössische Kunst, kuratiert Kunstbücher, Ausstellungskataloge, Ausstellungen der Fotografie und der zeitgenössischen Kunst und verfasst Videokunstkritiken. Seit 2016 ist sie als Performerin tätig. Sie hat an mehreren Videoperformances teilgenommen und öffentliche Performances realisiert, an Kurzfilmen und Filmen mit experimentellem Charakter mitgewirkt, die auf internationalen Festivals präsentiert wurden.

Consent Management Platform von Real Cookie Banner

Sie befinden sich im Archiv.
Hier geht's zum aktuellen stayinart Online Magazin.

This is default text for notification bar