Gabriele Stötzer befragt in ihrer Arbeit gesellschaftliche Systeme und menschliche Strategien, Räume, Egos, Symbole, Archetypen und Mythen. Und findet den kleinsten gemeinsamen Nenner.
Performative Fotografie, Soziale Performance, Super-8-Filme, Fotografie, Malerei, Zeichnung, Grafik, Textilarbeiten, Prosa und Lyrik: ein lebendiges, vielschichtiges Werkkonvolute hat Gabriele Stötzer geschaffen und erweitert es kontinuierlich. Es sind aktivistische Arbeiten, bewegt und bewegend, partizipativ und performativ, schmerzvoll mutig und optimistisch politisch, weiblich, oft ungerahmt, berührbar, zugänglich. In der pandemischen Isolation der Wintermonate 2020 erinnert, wie viele Menschen, auch Gabriele Stötzer (*1953 in Thüringen), die Einschränkungen und die damit verbundene Sehnsucht nach Reise- und Versammlungsfreiheit in der damaligen DDR. Diese Bürgerrechtseinschränkungen waren damals Ursprung der – relativ – friedlichen Revolution mit dem Ergebnis der Vereinigung beider deutschen Staaten. Bis heute hat sich das Zusammenwachsen nicht selbstverständig harmonisiert, sieht Stötzer und fragt sich, was passiert ist zwischen damals und heute? Welche ist die Brücke zwischen den einstigen Sehnsüchten und der realen Marktwirtschaft? Und am wichtigsten: Wo stehen wir heute, in welch einer Form von Gesellschaft leben wir? Mit ihrem aktuellen Werk „test the west: 1989, 1999, 2009, 2019, 2020“ gleicht sie die Bedürfnisse der Bürger der ehe-maligen DDR vor dem Mauerfall mit der heutigen Situation ab. Befragt mit kritischem Blick die konsumgesteuerte Demokratie – und findet zu einer generellen Zustandsbeschreibung jeglicher kapitalistischer Gesellschaftsformen. Ihr Resümee bei der Betrachtung der Welt mündet in die Frage: „Was kommt nach der Bedürfniserfüllung, nach der unbeschwerten Ausbeutung aller Ressourcen?“
AUSGEHÖHLT
Mit „test the west: 1989, 1999, 2009, 2019, 2020“ ist Stötzers jüngste Serie betitelt, fünf mal vier foto- und grafische Blätter, die jeweils ein Paar Bananen zeigen, langsam entlang den Konturen aufgeschnitten und sukzessive entleert. Die Banane war in der DDR absolute Mangelware und deutliches Sinnbild für den angestrebten frei-en Konsum. Als 1989 die Mauer zwischen beiden deutschen Staaten fiel, wurde „Test the West“ zum Slogan der Nachwendejahre: Die ehemaligen DDR-Bürger lernten einen Markt ohne Mangel kennen und die Prinzipien der Marktwirtschaft. Was bei den Westdeutschen zu Schmunzeln oder Kopfschütteln führte, war für Ostdeutsche eine ehrliche Freude: Bananen. Gabriele Stötzer unterzieht die Vorstellungen von Kapitalismus einer Bilanz in den Schritten 1989, 1999, 2009, 2019, 2020. Ihre Galerie des Konsums, des Objekts der Begierde, beginnt mit den geöffneten Grenzen, und entleert sich mit jeder Dekade zusehends. In den Augen der Künstlerin hat sich der Kapitalismus im Jahr 2020 erschöpft, die Ba-nane ist leergegessen. Innerhalb des ersten und des letzten Jahres ging alles besonders schnell.
Die Covid-19-Pandemie mit der Reduzierung der äußerlichen Reize hat uns gezeigt, was wirklich wichtig ist: der Zusammenhalt untereinander, das Netzwerken, gegenseitige Solidarität. Darauf sind wir Menschen letztlich zurück-geworfen, wenn Konsum und Entertainment als Befriedigung nicht mehr funktionieren. Während das Paar, das Zusammen, für Gabriele Stötzer ein persönlich bedeutsames Symbol ist und auch eines ihrer künstlerischen Markenzeichen, visualisiert sie mit dem Bananenpaar sowohl beide deutschen Völker als auch das zwischenmenschliche Miteinander generell. Durch Dekolorierung und Kolorierung verstärkt sie den Bezug zum Velvet-Underground-Plattencover von 1967, für das Andy Warhol den Siebdruck der Banane lieferte. „Velvet Underground war für uns damals eine Band, die uns als frei, unkonventionell und nicht kommerzverfallen erschien“, erzählt Gabi Stötzer. Dass hinter dem Deal der Factory und dem Warhol-Siebdruck kommerziell orientierte Daumenschrauben angesetzt wurden, um im Gegenzug für Warhols Bildwerk und die gesamte Platten-Promotion das Model Nico in die Band Velvet Underground aufzunehmen, konnten Fans in der DDR erst Jahrzehnte später in Erfahrung bringen. Andy Warhol steht künstlerisch für Reproduzierbarkeit und eine gute Portion Zynismus, Stötzers Praxis liegt diametral davon: Jedes Blatt ist ein Unikat.
Ich kann während der Beschäftigung mit Gabis Œuvre nicht umhin, philosophische Parallelen zu Jean Baudrillard zu sehen. Der medien-kritische Soziologe konstatierte bereits 1981 in „Simulacres et Simulation“ die Unwirklichkeit der von Massenmedien inszenierten Welt, erkannte und benannte das Simulationsprinzip mit seinen überbordenden, gleichschaltenden Bildern, das das Prinzip der Realität, die Trennung zwischen Imaginärem und Realem, ablöse.
KONFORMISMUS-ALLERGIE
In ihrem Werk wie auch in ihrem Leben sind sowohl Eigenständigkeit und Individualität als auch eine kontinuierliche Weiterentwicklung in der Gemeinschaft von größter Bedeutung. Innerhalb der DDR war es überlebenswichtig, die Grenzverwischungen zwischen Integrität und Vertrauensmissbrauch öffentlich zur Disposition zu stellen – immer im Visier des Staatssicherheitsdienstes, dessen Aufgabe die „Zersetzung“ und „Liquidierung“ kritischer Künstlerinnen und Künstler war. Das System akzeptierte ausschließlich angepassten Konformismus, nicht Individualismus. Die Künstlerin jedoch fragte mutig: „Was ist mein Raum? Was macht mich individuell aus? Wer bin ich?“ an-statt: „Wer soll ich sein? Wer darf ich sein?“. Das brachte sie gefährlich nahe ans „Weggeschlossenwerden“, denn selbst als Künstler, erst recht als weibliche Künstlerin, war philosophisches, politisches oder gar feministisches Denken und Arbeiten ein Dorn im Auge der Staatssicherheit. Man forderte von den Kunstschaffenden den konformen „Sozialistischen Realismus“. Gabriele Stötzer schaffte es, trotz Observierungen inklusive verwanzten Wohnungen und Bespitzelungen auch im engsten künstlerischen Umfeld, das Künstlerdasein wie einen Schutzmantel zu lancieren. Diese Lebensumstände führten zwangsläufig zum Verlust von wirklich privaten Räumen bzw. mussten immer wieder neu gefunden werden – und umso relevanter wurden für Gabi Stötzer die existentiellen Erfahrungen durch ihre Arbeit: sich selbst gewahr zu wer-den und sich authentisch nonkonform zu verhalten.
PARTIZIPATION
Gezeichnet hat sie immer, intensiver dann im Studium ab 1973, und füllt bis heute Blätter und Kunstbücher. Doch im künstlerischen Prozess reizte sie das Soziale stärker, wofür sie immer wieder neue Ausdrucksformen in der Gruppe initialisierte: In ein partizipatives Ganzes verwoben sich hier die komplexen Gefühle aus allen Lebensbereichen und Erfahrungswelten. Mit der Fotografie und den Filmen experimentierte sie mehr, als dass sie einer Story folgte: ‚Was fühlst du genau jetzt? – Bring es zum Ausdruck!‘ Sie forderte ihre Models während der Sessions und brachte sie zuweilen an den Rand der Bewusstlosigkeit. Kostüme, Klänge, Tanz, Nacktheit visualisieren archaische Frauenrollen (Super‑8 „Austreibung aus dem Para-dies“, 1984); naturgegebene Requisiten wie Eier, Filz, Haare werden auf dem nackten Frauenkör-per relevant in „Trisal“ (Super‑8, 1986). Bedeutsam war diese Auseinandersetzung mit der Frau, mythologisch versus real, weil draußen in der sozialistischen Gesellschaft die linientreue Dialektik fortfuhr, eine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu propagieren; der Begriff „Feminismus“ war ein westlich-kapitalistischer und somit diskursunwürdig. Der weibliche Körper wurde zu ihrem Gegenstand und Ausdrucksmittel für alles Verschwiegene, Verletzende, auch Aufregendes und das eigentlich Nicht-Darstellbare. Mit der aufs Existenzielle reduzierten Selbsterfahrung und dieser Form von Kreativität und Präsentation konnte sie ihre Inhaftierung (Frauengefängnis von Hoheneck 1977) verarbeiten und sich ihres autonomen, individuellen Selbst vergewissern. Ende der 70er-Jahre organisierten sich exmatrikulierte Studenten und junge mit dem System Unzufriedene in Erfurt, besetzten zwei Häuser und richteten bauhausorientierte Werkstätten ein, wo auch Gabriele Stötzers Webstuhl stand, mit dem sie textile Schlangen- und Feuerfrauen fertigte. Arbeiten wurden gezeigt und teilweise verkauft, bei privaten Wohnungsfeten und Gartenmodenschauen. Es gab zwei Sphären: die Untergrundkünstler und die Bestrebungen, mit anderen – auch in anderen Städten – in den Austausch zu kommen. Die Idee war, dass alle mitmachen, Kunst machen können. In der Erfurter Pergamentergasse entwickelte sich ein Aktzeichnen-Zirkel, bei dem die Künstlerinnen selbst Modell standen. Sie zeichneten sich zunächst einmal pro Woche, dann häufiger, ein gewisser magischer Suchtfaktor zog die Künstlerinnen immer wieder hierher (und aus!). 1981 wurde die „Galerie im Flur“ von der Stasi liquidiert, ebenso die Pleinairs verboten, viele Freunde reisten in den Westen aus oder zogen nach Berlin.
1984 war Gabi Stötzer Mitbegründerin der ersten und einzigen Künstlerinnengruppe der DDR, die sich später „Exterra XX“ nannte. Sie hat sich das Leben nicht nehmen lassen, und wollte trotz aller Pein das Land nicht verlassen. Aber Gabriele Stötzer war gegen das Mundhalten und Verstummen. Als wichtige Arbeiten sind hier unbedingt die „Lippen“-Serie zu nennen sowie die von Stötzer fotografierten Performances mit Drähten, Farben, Stoffen von Cornelia Schleime. Dass die Fotografin verstärkt selbst vor die Kamera trat, lag auch daran, dass nicht alle Beteiligten gewillt waren, öffentlich auf den Stötzer’schen Bildwerken gezeigt zu werden. Oder sie waren ausgereist oder es war schlicht zu gefährlich, da sie, wie C. Schleime, bereits mit einem Ausstellungsverbot belegt worden waren. In Gabriele Stötzers „Abwicklung“ aus dem Jahr 1983, eine Serie mit 12 Schwarz-Weiß-Fotografien (Fotos: Heike Stephan), inszeniert sie sich selbst, wickelt ihren bloßen Körper mittels Tomatenketchup an der Wand ab und erfährt eine tranceartige Objekt-Subjekt-Relation, wie sie eigentlich nur im künstlerischen Jetzt erlebbar wird (Flow). Indem sie das Innere nach außen bringt, statuiert sie: „Ich bin hier, bleibe hier – und ihr müsst mit mir rechnen.“
PIONEER
Initiativ entwickelte Gabriele Stötzer fort-während Freiräume und Kooperationen. Neben allen gängigen Genres wie Malerei und Zeichnung wurde ihre Arbeitsweise zunehmend inter-medial, was zu ihrer experimentierfreudigen Haltung gehörte, einer gewissen „Unangepasstheit“ entsprach und letztlich den Umständen, Bedingungen und verfügbaren Materialien in der ehemali-gen DDR geschuldet war: Was steht uns zur Verfügung? Wo ist unser Raum? Wie viel Zeit haben wir? Doch ihr ging – und geht – es vornehmlich um das Wesentliche, das Existentielle im Leben (einer Frau). Darum, ihren Wahrnehmungen von Emotionen, Klischees, gesellschaftlichen Schub-laden, Strategien und ihrer Vision vom Leben ungezügelt Ausdruck zu verleihen. Was ist die tatsächliche Wirklichkeit jeder Einzelnen, jedes Einzelnen, wenn sich die Strategien des Konsums entleert haben? Und wer hat den Mut, dem auf den Grund zu gehen?
„KAPITALISTISCHER REALISMUS“ UND MAINSTREAM
Mit Bezug auf unsere Always-On-Gesellschaft, der Akzeptanz des Fernsehprogramms, der Schönheitsideale oder Modetrends ist es er-schreckend, wie angetan die Menschen vom gleichmachenden Mainstream sind. Nur wenige sind willens, dem mit der subjektiven Geschichte verwobenen Jetzt zu begegnen und in ein Gespräch mit den Widersprüchlichkeiten des eigenen Seins zu gehen. Folgten nicht auf die Doktrin des ‚Sozialistischen Realismus‘, die eines „Kapitalistischen Realismus‘“? – Wenn der Begriff nicht durch die Kunstaktionen von Richter, Polke und Fischer/Lueg bereits 1963 zur „Enttarnung des konsumorientierten und oberflächlichen kapitalistischen Gesellschaftssystems“ ins Leben gerufen worden wäre, wäre er heute auch für die Kunst und Fragestellungen von Gabriele Stötzer passend. Ich kann während der Beschäftigung mit Gabis Œuvre nicht umhin, philosophische Parallelen zu Jean Baudrillard zu sehen. Der medien-kritische Soziologe konstatierte bereits 1981 in „Simulacres et Simulation“ die Unwirklichkeit der von Massenmedien inszenierten Welt, erkannte und benannte das Simulationsprinzip mit seinen überbordenden, gleichschaltenden Bildern, das das Prinzip der Realität, die Trennung zwischen Imaginärem und Realem, ablöse. Jean Baudrillard nannte die auf Formeln, Algorithmen und industrieller Verbreitung basierende Welt ‚integrale Realität‘ („Die Intelligenz des Bösen“, 2004). Der willenlose Konsum der Bilder und Medi-en, unsere ständigen Commitments zur Datenerfassung und Abhängigkeit von Werbestrategien sind doch erschütternd. Nicht nur der Film „Matrix“ hat ein Szenario aufgemacht, für mich ist es jeder Museumsshop: Niemand muss sich heute vermeintlich in das Werk eines van Goghs einarbeiten. Van Gogh wird einfach wegkonsumiert (und hunderte andere) – und im Museumsshop gibt es die Kaffeetasse dazu. Um die selbstorganisierten Bilder- und Informationsfluten zu überleben, hinterfragen wir sie nicht mehr kritisch, sondern haken Vieles unreflektiert ab.
„KUNST ERWEITERT BEWUSSTSEIN UND SCHAFFT VISIONEN, DIE WIR ALLE BRAUCHEN!“
Auf der Suche nach dem höheren, alle Menschen einigenden Kulturwert benutzt sie als Ausgangs-punkt das Ur-Gefühl von Frauen. Ein begehbares Archiv in drei Teilen zum Werk von Gabriele Stötzer wurde unlängst in der Leipziger gfzk realisiert. Und 2019 befasste sich in San Francisco „The Body Electric“, ein Ausstellungsformat mit Talks und Walks, mit der Körperlichkeit des Gedächtnisses (mit den Arbeiten „Aber“ (1982), „Lippen“ (1983), „Verschmelzung“ (1982) von Gabriele Stötzer). Das Altern im Prozess, die Schönheit des Vergänglichen (vgl. auch Fußnote 10) beschäftigen Gabriele Stötzer schon lange. Ein Komplex, der in der herrschenden „Höher-Schneller-Weiter-Schöner“- Gesellschaft leider nur selten thematisiert wird (ähnlich wie Trauer, Tod u.a.). Im Sommer 2020 verwirklichte Gabi Stötzer während eines Artist-in-Residency-Stipendiums u.a. ein Reenactment ihrer „Abwicklung“, bearbeitete alte Arbeiten neu, überzeichnete Farbfotografien, wobei ihre Linienführung Alterungs- und Verjüngungsprozesse in den Gesichtsausdrücken von Porträtierten steuern konnte. Die Reihen wurden im Oktober in der Galerie Eigenheim in Berlin gezeigt („Werk und Fortsetzung“, EMOP). Ihre seriellen Arbeiten aus den Bereichen Fotografie und Fotoperformance, Super-8-Film und Performance sind heute in internationalen Sammlungen und Ausstellungen vertreten.