SPONTAN UND UNBERECHENBAR
Provokant, laut und wild. Er träumt von der Diktatur der Kunst und zeigt schon mal den Hitlergruß. Der deutsche Maler, Bildhauer und Aktionskünstler Jonathan Meese gilt als Enfant terrible der Kunstszene. Dabei will er doch nur spielen.
REVOLUTION IN PLÜSCH
Mit Adidas, Bart und langem Haar kennt man ihn. Jonathan Meese macht Kunst und ist Kunst. Er ist Kind und Künstler, Genie und Wahnsinn, Kult und Gesamtkunstwerk. Ein Peter Pan im Kunstzirkus. Der 51-Jährige mit Mama-Komplex hat eine klare Vision. Die totale Revolution in der Kunst. Das versucht der radikale Kunstfanatiker in Malereien, Zeichnungen, Skulpturen, Installationen, Performances, Bühnenbildern, Filmen, Fotografien und Texten auf teils groteske Art und Weise zu verwirklichen. Für Meese reine Propaganda im Kampf für die Diktatur der Kunst. Seine Themen kreisen um Mythus, Kult und Utopie. Wagner, Nietzsche, Dr. No – alles Figuren seiner wahnwitzigen Odyssee. Meese liebt die Bühne. Wenn er auftritt, weiß man nie, was passiert. Er selbst vermutlich auch nicht. Seine Kunst wirkt spontan, frei und impulsiv. Der spielerische Akt gehört zum Ritus. Selbstironie nicht ausgeschlossen. Manchmal arbeitet er an mehreren Bildern gleichzeitig. Machen statt mitmachen ist seine Devi-se. Meeses künstlerisches Universum ist ein metabolisches Kraftfeld, das sich permanent neu erfindet und antreibt. Norm und Moral, Tabus und Grenzen – für Meese Fremdwörter. Der Künstler sei dazu bestimmt, seinem Urinstinkt zu folgen. Dabei folgt er einer sprachlichen und bildnerischen Rhetorik, die mitunter martialisch klingt, obwohl er eigentlich Angst vor der Außenwelt hat. Zuflucht findet der Realitätsverweigerer in seinem Atelier im Prenzlauer Berg, wo er manisch Bücher, Plüschtiere und allerlei Kuriositäten sammelt. Sie unterstützen ihn bei seinem anarchischen Kreuzzug für die Kunst. Immer an seiner Seite, Mutter Brigitte, die für ihn Kunstfigur und Managerin ist. Ohne sie, wie Meese sagt, wäre er schon längst in der Psychiatrie.
MUTTERSPRACHE JAPANISCH
Eigentlich müsste man ihn unter Artenschutz stellen. Wie kein anderer verkörpert Meese den durchgeknallten Künstler. Beuys und Dalí hätten ihre Freude mit dem Exzentriker gehabt. Meese selbst sieht sich nur als »Ameise der Kunst«. Dabei zählt er zu den Stars der internationalen Gegenwartskunst. Längst hängen seine Arbeiten in den großen Museen und Sammlungen. Meese ist speziell, auch seine Biografie. 1970 wird er in Tokio geboren, der Vater Engländer, die Mutter Deutsche. Als er ein Kleinkind war, trennten sich die Eltern. Der Vater blieb in Japan, die Mutter kehrte mit den Kindern nach Deutschland zurück. Für Meese ein Kulturschock, er sprach nur Japanisch. Mit Kunst hatte er wenig am Hut. Zum 22. Geburtstag wünscht er sich spontan Farben und Papier. Für Meese, den selbsternannten »Spätentwickler«, die Erleuchtung. Er malt und zeichnet wie ein Besessener. Im Kinderzimmer kann er bald nicht mehr schlafen, da es nach Terpentin riecht. »Letztendlich male ich Bilder nur für meine Mama.« 1995 wird er an der Hamburger Kunstakademie aufgenommen. Für Meese Spielwiese und zweite Heimat. Schon damals füllte er ganze Wände, lässt wenig Freifläche, dafür viel Freiraum für Assoziationen. Es ist seine Art, Kunst neu zu denken. Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten. 1996 beteiligte er sich an der Gruppenausstellung Glockengeschrei nach Deutz, veranstaltet von der Künstlerin Cosima von Bonin und Daniel Buchholz von der gleichnamigen Galerie in Köln. Ein Jahr später feierte er im Kunstverein Kehdingen seine erste Einzelausstellung. Um die Jahrtausendwende avancierte er zu den Shooting Stars. So schnell kann‘s gehen. Von Leander Haußmann wird er eingeladen, ein Szenenbild für seinen Film Sonnenallee zu gestalten. Eine Rolle ist ihm auch sicher, natürlich die des schrägen Künstlers.
KUNST ALS ALLHEILMITTEL
Ob als Ritter, Indianer oder Diktator – Meeses Spieltrieb ist grenzenlos. Er selbst bezeichnet sich als »Tierbaby«. An der Akademie lässt man ihn spielen, der Drang auszubrechen wird immer größer. Das Studium wird für ihn bald Zeitverschwendung. Meese sucht nach Antworten. Der Kunst um der Kunst Willen, hätte man früher gesagt oder wie Meese es apodiktisch erklärt: »Kunst ist weder lernbar noch lehrbar. Kunst entspringt ihrem Instinkt. Die Wesen, die von der Lehrbarkeit der Kunst sprechen, sind entweder Mitläufer, Mittelmaß oder im besten Falle Diktatoren.« Über seinen Künstlerfreund Daniel Richter lernte er die damals noch junge Berliner Galerie Contemporary Fine Arts kennen. Mit frühen Ausstellungen zu Damien Hirst und Peter Doig in den 1990ern, bewiesen die Galeristen Nicole Hackert und Bruno Brunnet Weitblick für Ausnahmetalente. Während Meese dort zum Aushängeschild aufgebaut wird, erregt er internationale Aufmerksamkeit auf der Berlin Biennale 1998, kuratiert von Klaus Biesenbach, Hans-Ulrich Obrist und Nancy Spector. Meeses überbordende Rauminstallation Ahoi der Angst ist eine Hommage an den Marquis de Sade. In wilder Collage versammelte er Persönlichkeiten aus Politik und Showbusiness, darunter Bill Clinton, Claudia Schiffer und Che Guevara. Als Projektion von Meeses obsessiver Sammelwut wirkte es wie das Kinderzimmer eines spätpubertierenden Amokläufers. Schon damals wichtig für ihn, die Kombination von Bild und Text als narratives Gestaltungselement. Dabei folgte Meese intuitiv seiner skurrilen Gedankenwelt, die getrieben ist von der Kunst als Allheilmittel.
RADIKALE LIEBESERKLÄRUNG
Meese polarisiert und provoziert. Egal ob man ihn mag oder nicht, inner-halb weniger Jahre schaffte es das Wunderkind vom Kinderzimmer in die großen Museen. Im Mittelpunkt steht Meese selbst. Er ist Künstler und Kunstfigur, Realität und Inszenierung. In Ausstellungen wie Mama Johnny in den Hamburger Deichtorhallen 2006 oder Erzstaat Atlantisis im Arp Museum Bahnhof Rolandseck 2009 hatte Spielkind Meese Gelegenheit sich im großen Rahmen auszutoben. Heraus kamen raumübergreifende Installationen, die zu einem multimedialen Gesamtkunstwerk verschmolzen. Fern von Politik, Religion, Logik und Ideologie konstruiert Meese komplexe Scheinwelten, in der Realität und Fiktion vermischen. Dabei geht es ihm nach eigenen Aussagen nur um Liebe, Demut und Energie. Teils manisch, obsessiv geht er dafür an die Sache heran. Mit Hitlergruß, Hakenkreuz und Megafon brüllt und predigt er seine radikale Liebe zur Kunst. Die von ihm behauptete »Neutralisierung« oder »Entleerung« der NS-Symbolik können nicht alle als solche erkennen. Im Laufe seiner Karriere war der Provokateur immer wieder mit Anklagen und Anfeindungen konfrontiert. Eine schmale Gratwanderung zwischen Kunstfreiheit und Zensur, bei der die Ambivalenz zwischen Ironisierung und affirmativer Provokation in seiner Kunstdiktatur in Richtung Populismus weist. Bei seinen bizarren Auftritten zeigt Meese jedenfalls vollen Körpereinsatz, wie beispielsweise in der Tate Modern 2006, als er weiß geschminkt im Boxring seinem Zerstörungswahn freien Lauf ließ. Der spontane Gestus und die konzeptionelle Idee verlaufen parallel. Abseits des rasenden Diktators ist Meese ein erstaunlich sympathischer Zeitgenosse. Freundlich und zuvorkommend wirkt er, die Mutter sein Ein und Alles. Meeses egomanische Welt ist ein hermetisch abgeschirmtes Paralleluniversum, gleichzeitig sucht er den Dialog mit anderen. Wenn er nicht gerade Ausstellungen in Berlin, London und New York hat, arbeitet er mit Künstlern wie Daniel Richter, Gerhard Baselitz, Albert Oehlen und Tal R zusammen. Erst neulich hat er mit dem Münchner DJ Hell ein Album aufgenommen. Auch Mutter Brigitte wirkte an den Techno-Tracks mit. Hab keine Angst, hab keine Angst, ich bin deine Angst, hieß das Ergebnis dieser schrillen Kombo.
MACHT, WAS IHR WOLLT!
Meese ist Grenzgänger und Universalkünstler, Workaholic und Besessener, getrieben von der Allmacht der Kunst. Er experimentiert und dekonstruiert, stiftet Verwirrung und zeigt Alternativen, arbeitet im Eiltempo und produziert am Fließband. Mit seinem Faible für Richard Wagner und Friedrich Schiller war es nur eine Frage der Zeit, bis er die Theaterwelt unsicher machte. Gleich beim ersten Stück ließ er es krachen. 2004 gestaltete er die Bühne für Frank Castorfs Inszenierung Kokain an der Berliner Volksbühne. Pitigrillis Skandal-Roman übersetzte Meese in ein gewaltiges Eisernes Kreuz als Drehbühne, das eine bizarre Welt zwischen Riesenphallus und Retrofuturismus, Vergangenheit und Zukunft zeichnet. Wie in der bildenden Kunst sind auch Meeses Bühneninszenierungen von Spontanität und Zufall geprägt. Sein Leitspruch »Macht, was ihr wollt!« war Bayreuth dann aber doch zu viel, als sie Meese kurzerhand die Regie für Parsifal 2016 entzogen. Wien ist auch nicht schlecht, dachte sich der eingefleischte Wagnerianer, als er 2017 mit dem Mondparsifal Alpha 1–8 die Wiener Festwochen rockte. Mit einem kunterbunten Rausch aus Manga und Raumschiff Enterprise, katapultierte er Richard Wagner in den Pop-Olymp. Dort wartete schon Joseph Beuys auf ihn, dem Meese 2021 im Wiener Volkstheater mit 1000 Jahre Boys die Ehre erwies. Eklatanter könnte der Widerspruch nicht sein zwischen Beuys, dem politisch engagierten Guru und dem brachialen »Meessias«. Zwischen Mama und Pony wechselte der verspielte Künstler Masken und Kostüme. Über dem irren Tanz schwebte – wie sollte es auch anders sein – die Diktatur der Kunst. Meese kann es nicht lassen. Dabei will er doch nur spielen.
Der Artikel ist in der Print-Ausgabe special edition SPONTANEITY erschienen.