Das faszinierende und polarisierende Werk von Iris Schieferstein

CHIMÄREN, HYBRIDEN, STIEFELETTEN AUS PFERDEHUFEN MIT REVOLVERABSÄTZEN: MIT IHRER EINZIGARTIGEN KUNST AUS TIERPRÄPARATEN SORGT IRIS SCHIEFERSTEIN FÜR BEGEISTERUNG UND EMPÖRUNG. IHRE OBJEKTE MUTEN WIE VANITAS-STILLLEBEN EINER WUNDERKAMMER AN, DIE ÜBERLEBENSGROSSEN FIGUREN MIT ESELSOHREN, PFERDESCHWÄNZEN, HUFEN UND KLAUEN WEISEN AUF DAS ANIMALISCHE IM MENSCHEN HIN.

Wie ande­re Künst­ler, die etwas aus dem Müll gezo­gen haben, um dar­aus Kunst zu machen, habe ich die über­fah­re­nen Tie­re von der Stra­ße auf­ge­le­sen und zu Kunst ver­ar­bei­tet“, erzählt die 1966 in der hes­si­schen Klein­stadt Lich gebo­re­ne Iris Schie­fer­stein. „Die­ser Schritt mag skur­ril anmu­ten, ist es aber nicht, denn ich habe schon immer tote Tie­re foto­gra­fiert, auch model­liert, und irgend­wann habe ich gesagt: War­um soll ich sie eigent­lich model­lie­ren, wo die Natur das so wun­der­bar pro­du­ziert hat?“ Um tote Hun­de, Kat­zen, Vögel, Eich­hörn­chen, Füch­se, Maul­wür­fe, Schlan­gen und Igel in Skulp­tu­ren zu ver­wan­deln und ihnen ein post­hu­mes Leben zu geben, brach­te sich Iris, die an den Kunst­hoch­schu­len Kas­sel und Ber­lin-Wei­ßen­see Bild­haue­rei stu­dier­te, auto­di­dak­tisch die Tier­prä­pa­ra­ti­on bei.

Ihre unge­wöhn­li­chen Objek­te, die sie in den 1990ern und Anfang 2000 schuf und in meh­re­ren Ein­zel- und Grup­pen­aus­stel­lun­gen in Ber­lin, Wien und Buda­pest zeig­te, sorg­ten für Auf­se­hen, sodass die Pres­se auf sie auf­merk­sam wur­de. Berich­te über „Iris Schie­fer­stein als eine Art Fran­ken­stein“ und „ihre bizar­ren Fleisch­skulp­tu­ren“, die unter ande­rem in der Bild ver­öf­fent­licht wur­den, brach­ten der Bild­haue­rin nicht nur Aner­ken­nung: 2002 wur­de sie anonym ange­zeigt, wor­auf die Ber­li­ner Staats­an­walt­schaft ein Ermitt­lungs­ver­fah­ren wegen Ver­sto­ßes gegen den Arten­schutz einleitete.

Das war für mich ein Rie­sen­fi­as­ko, denn ich wur­de drei Jah­re lang aufs Eis gelegt, durf­te nichts aus­stel­len und nichts ver­kau­fen“, sagt Iris. „Wegen die­ser toten Vie­cher, die nie­man­den zu inter­es­sie­ren schie­nen, woll­ten sie mich für sechs Jah­re in den Knast ste­cken! Du musst erst mal dar­auf kom­men, dass in der Bun­des­re­pu­blik nur sol­che Tie­re aus­ge­stopft wer­den dür­fen, die man schie­ßen, hal­ten und züch­ten darf. Weil ich kei­nen Jagd­schein habe, darf ich kei­ne Krä­he, kei­ne Möwe und nichts, was sonst tot umfällt, benut­zen: Sie ste­hen unter abso­lu­tem Arten­schutz, dür­fen auf der Stra­ße ver­we­sen, aber ich darf sie nicht zu Kunst verarbeiten.“

Angels Heart, 2013

Iris Schie­fer­steins Woh­nung und ihr dama­li­ges Ate­lier in Pan­kow wur­den durch­sucht. Weil ihr ein Vor­satz nicht nach­zu­wei­sen war, stell­te die Staats­an­walt­schaft schließ­lich das Ver­fah­ren ein, nach­dem „alle nicht ord­nungs­ge­mä­ßen Tie­re“ unter Auf­sicht der Ord­nungs­hü­ter ent­fernt wer­den muss­ten. In ihrem Ate­lier befand sich auch ein Glas mit einem mensch­li­chen Embryo, den ihr jemand vor die Tür gestellt hat­te. Vom Chef­pa­tho­lo­gen der Ber­li­ner Poli­zei erfuhr sie, dass er gegen die künst­le­ri­sche Ver­ar­bei­tung eines mensch­li­chen Embry­os nichts ein­zu­wen­den habe. So hat sie es 2010 ganz legal in die Instal­la­ti­on „Polish Heart“ integriert.

2005 begann Iris Schie­fer­stein, außer­ge­wöhn­li­che Schuh­ob­jek­te zu fer­ti­gen: lau­ter Uni­ka­te, dar­un­ter Stie­fe­let­ten aus Pfer­de­hu­fen und Pumps aus Schlan­gen­le­der mit Revol­ver­ab­sät­zen, Rat­ten-Flip­flops, Pla­teau­soh­len­san­da­len mit wei­ßen Täub­chen. Sie zeich­nen sich, wie alles, was die­se Künst­le­rin macht, durch gren­zen­lo­se Fan­ta­sie aus. Sie wer­den bewun­dert und ver­dammt. Zu den Fans der Schie­fer­stei­ni­schen Schuh­wer­ke gehö­ren Lady Gaga und Mari­na Abra­mo­vić, was natür­lich von den Medi­en in die Welt getra­gen wird. Tier­schüt­zer bom­bar­die­ren sie regel­mä­ßig mit bösen E‑Mails und dro­hen ihr sogar mit dem Tod. Iris Schie­fer­stein pola­ri­siert, weil sie die Heu­che­lei der Gesell­schaft ent­blößt. Auch die größ­ten Tier­freun­de tra­gen ver­mut­lich Leder­schu­he, doch sie wol­len nicht wis­sen, unter wel­chen Umstän­den und Lei­den sie pro­du­ziert wur­den. Und weil die viel­sei­ti­ge Künst­le­rin, die auch als Foto­gra­fin tätig ist, seit nun fast 30 Jah­ren immer wie­der etwas Inno­va­ti­ves macht, wird sie kopiert und pla­gi­iert was das Zeug hält.

In letz­ter Zeit wer­den die Arbei­ten von Iris Schie­fer­stein grö­ßer und volu­mi­nö­ser, doch sie blei­ben wei­ter­hin fili­gran: Skulp­tu­ren aus der Serie „Hub­by“, janus­ar­ti­ge mensch­lich-tie­ri­sche Misch­we­sen; raum­grei­fen­de Instal­la­tio­nen aus frag­men­tier­ten Tier­ske­let­ten („Der Den­ker“, „The Unicel­lu­lar“) sowie die Plas­tik „Der Tod und das Mäd­chen“, zu der sie Franz Schu­berts gleich­na­mi­ges Lied (1817) inspi­rier­te. Par­al­lel dazu ent­ste­hen ihre eigen­wil­li­gen Mode- und Wohn­ac­ce­soi­res: Hüte, Taschen, Bril­len­schlan­gen, Leuch­ter und Lam­pen aus Vögeln und Nagern. In vie­len die­ser Arbei­ten ist Iris Schie­fer­steins Wut zu spü­ren: auf die grenz­über­schrei­ten­de Unge­rech­tig­keit, Heu­che­lei, Gewalt und per­ver­tier­te Tra­di­ti­on, unter denen vor allem Frau­en lei­den. Die Skulp­tur der mär­chen­haf­ten „Cin­de­r­el­la“ besteht aus zwei blu­ten­den wei­ßen Bal­le­ri­nas auf einem wei­ßen Podest. Im wah­ren Leben hüllt sich der Papst in eine wei­ße Sou­ta­ne und mimt Got­tes Stell­ver­tre­ter auf Erden. Vie­le Frau­en aus einem ande­ren Kul­tur­kreis tra­gen Ganz­kör­per­schlei­er, um die Män­ner nicht auf sün­di­ge Gedan­ken zu brin­gen und Got­tes­furcht zu demons­trie­ren. Für die Foto­se­rie „Adam“ und „Eva“ ließ Iris Schie­fer­stein dem Papst und der Bur­ka­trä­ge­rin ganz neue, durch­sich­ti­ge Klei­der nähen. Ihre Kunst ist eine Art Memen­to Mori, denn ver­hüllt wie ent­hüllt ist jeder auch noch so pro­mi­nen­te oder bli­ck­un­wür­di­ge Kör­per endlich.

Gegen­wär­tig arbei­tet Iris Schie­fer­stein an ihrem größ­ten und auf­wän­digs­ten Werk: Es ist „Die Wel­le“, für die sie bis­her zwei Ton­nen Aus­tern­scha­len in Ber­li­ner Nobel­re­stau­rants gesam­melt hat. Die­se monu­men­ta­le Skulp­tur ist sechs Meter lang, drei­ein­halb Meter hoch und geht über drei Meter in den Raum her­ein. „Für mich ist die Aus­ter ein viel­fäl­ti­ges Sym­bol, was ja schon auf dem Bild ’Die Geburt der Venus von Bot­ti­cel­li‘ zu sehen ist. Sie ver­kör­pert die Frau, die Wie­der­ge­burt, das Meer und wie wir über­haupt mit unse­ren Res­sour­cen umge­hen. Wenn du die Aus­tern­scha­le vom Wei­ten betrach­test, hat sie etwas papier­ar­ti­ges, als ob sie beschrif­tet wäre. Das ist sehr poe­tisch, denn dar­an kannst du erken­nen: Zuerst war die Schrift und nicht das Wort! Ich glau­be, dass der Mensch Din­ge zeich­ne­te und model­lier­te, lan­ge bevor er für sie Wor­te erfand.“

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1954 in Warschau geboren, studierte Germanistik und Romanistik an der Universität Bukarest und Warschau. Sie lebt seit 1986 in Deutschland, zuletzt in Berlin. Journalistin, Übersetzerin und Kuratorin, arbeitet als freie Kunstpublizistin mit polnischen und deutschsprachigen Medien zusammen.

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