Interview mit Extrem-Bergsteiger Hans Kammerlander für die Ausgabe HIGHSPEED
Der Südtiroler Hans Kammerlander gehört zu den erfolgreichsten Extrem-Bergsteiger*innen unserer Zeit. In seiner Biografie stehen mehr als 2500 Klettertouren, rund 50 Erstbegehungen und 60 Alleinbegehungen großer Alpenwände. Er bestieg zwölf der vierzehn Achttausender. Er fuhr mit Skiern vom Gipfel des Everests ab und durch die steilen Flanken des Nanga Parbats. Als erstem Bergsteiger der Welt gelang Kammerlander eine der beiden Versionen der Seven Second Summits. Er hat auch einige Rekorde in Sachen Speed aufgestellt, wobei Zeit am Berg für ihn ein wesentlicher Sicherheitsfaktor ist. Wir treffen die lebende Legende in Ahornach im Tauferer Ahrntal. Hier ist Kammerlander aufgewachsen und heute noch zuhause. Vor über 40 Jahren ist er aufgebrochen, um die Welt der Berge zu erkunden und schließlich auf die höchsten Gipfel zu steigen. Schritt für Schritt bahnte sich der Südtiroler den Weg aus einer eher engen Umgebung und entdeckte hinter jedem Berg immer neue Erhebungen, Gipfel und Ziele. Zweifelsfrei ist er einer der erfolgreichsten Alpinist*innen. Kammerlander ist es beispielsweise gelungen, die sieben zweithöchsten Gipfel aller Kontinente zu besteigen.
Die meisten der Zweithöchsten sind umständlicher zu erreichen und schwerer zu besteigen, als ihre oft nur unwesentlich höheren Nachbarn. Diese sieben Gipfel waren wohl sein aufwendigstes und vielseitigstes aller Abenteuer. Er blickt jedoch nicht nur auf Erfolge zurück, sondern auch auf Tiefschläge, die ihn persönlich sehr geprägt haben. Seine Ära des Wettlaufs ist definitiv vorbei. Nicht, dass Hans Kammerlander müde geworden und es leid wäre, sich seiner Leidenschaft zu widmen. Er geht die Dinge inzwischen einfach anders an. Er widmet sein Leben nach wie vor den Bergen, stellt jedoch die Schönheit der Berge in den Vordergrund und entdeckt vieles, was ihm bisher verborgen blieb. In gewohnt offener Art, unkompliziert und unterhaltsam stellt sich Hans Kammerlander unseren Fragen.
Hans, du stellst die Schönheit der Berge in den Vordergrund, nicht deren Höhe. Welche Eigenschaften hat ein schöner Berg für dich?
HANS KAMMERLANDER: Die Schönheit hat sich für mich vor allem in den letzten Jahren herauskristallisiert. Eine Zeit lang, wo ich mittendrin war in diesem Wettlauf um Gipfel, Zeit und Rekorde, da habe ich die Schönheit gar nicht erkannt, weil ich zu sehr auf die Wand fixiert war. Deshalb war eines meiner letzten Projekte „Die Matterhörner dieser Welt“. Das Matterhorn erinnert mich an einen Bergkristall oder einen Obelisken, und es hat viele Zwillinge. In verschiedenen Ländern, dominante Berge, wunderschön, eingebettet in unterschiedlichste Kulturen: der Shivling in Nordindien, die Ama Dablam unweit des Mount Everests in Nepal, der Mount Assiniboin in den kanadischen Rocky Mountains, der Stetind in Norwegen, der Mount Belalakaja in Russland. Vom Fuße bis zum Gipfel konnte ich diese Berge ohne Wettlauf wahrnehmen, und das ist für mich pure Begeisterung. Es geht nur noch um schön, schön, schön und noch mal schön. Ich brauche das Schulterklopfen nicht mehr und es fehlt mir inzwischen an Motivation, dem nachzujagen.
12 der 14 Achttausender Gipfel hast du bezwungen. Unter Kunstschaffenden spricht man oft davon, dass ein Kunstwerk eben von der Imperfektion lebt und die besten Werke in den Augen des Künstlers* der Künstlerin oft noch gar nicht fertig sind. Ist das hier ähnlich?
HANS KAMMERLANDER: Ja natürlich, weil es geht ja überhaupt nicht um die Anzahl der Berge, sondern mich hat immer nur die Linie der Berge interessiert. Der Berg gibt eine Linie vor. Die wahre Kunst beim Bergsteigen ist es, in der Lage zu sein, den Berg zu lesen. Wenn jemand den Berg nicht lesen kann, kann er*sie auch keine Höchstleistung erbringen. Du schaust dir die Wand an und weißt eigentlich schon, wo du etwas verloren hast und wo nicht. Das ist so faszinierend. Manchmal siehst du es gar nicht und dann musst du nochmals hin und dann ist ein anderer Lichteinfall, der gibt dir die Möglichkeit, die Linie zu erkennen.
Ganz ehrlich: Wie wesentlich war damals dein Beitrag, dass Reinhold Messner alle Achttausender geschafft hat? Du bist doch, zumindest hört man das in Fachkreisen immer wieder, der wesentlich bessere Kletterer?
HANS KAMMERLANDER: Ich glaube, wir waren eine super Seilschaft. Reinhold Messner war der Profi im Expeditionsbereich und ich war ein guter Kletterer mit wahnsinnig viel Risikofreude. Reinhold war also der Taktiker, der Denker und das hat gut gepasst. Die Ergänzung war gut. Wäre er nicht dabei gewesen, hätte ich unter Umständen viel mehr riskiert. Wir haben bis zu seinem Ausstieg alles gemeinsam gemacht. Die letzten beiden Touren waren mir dann zu trocken, denn da ging es nur mehr darum, die einfachste Route zu machen, damit er als erster alle 14 Achttausender hatte. Für mich war das dann eher ein Schritt zurück.
Ihre Salzkristalltechnik ist ein Ausdruck ihres unglaublich kreativen Einsatzes von Textur, Farbe, Form und Fluss des Elements Salz.
Am Berg geht es auch um Kultur, um Respekt. Welche Werte haben dich die Berge gelehrt?
HANS KAMMERLANDER: Ganz viel konnte ich von den Bergvölkern im Himalaya lernen. Was mich an diesem Volk, das ich wahnsinnig respektiere, fasziniert? Wenn die irgendwo anstoßen und das Schicksal zuschlägt, sind diese Menschen imstande, das Schicksal anzunehmen. Diese Begabung ist bei uns nicht so ausgeprägt. Wir stecken eher den Kopf in den Sand. Im Himalaya gehen die Menschen immer nach vorne. Der*Die Buddhist*in hat zudem eine saubere Einstellung zur Natur. Ich war über 45 Mal in Nepal und ich muss sagen, da zieht es mich immer wieder hin.
Naturvölker, wie jene in Nepal, werden mittlerweile auch vom westlichen Geld und vom touristischen Boom am Mount Everest vereinnahmt. Wie sehr spürt man diese Veränderung in deren Kultur?
HANS KAMMERLANDER: Man spürt es immer mehr – vor allem die Tatsache, dass der digitale Netzanschluss schon in so vielen Tälern vorhanden ist. Auch die Leute dort sehen nun die ganze Welt. Das macht die Menschen sicherlich nicht zufriedener. Der*Die Tourist*in, der*die kommt, kommt in deren Augen aus der Glitzerwelt, und klar steigt die Gefahr, dass man dann in die ein oder andere Falle tappt. Das ging eigentlich sehr schnell, diese Veränderung, und das wird sich langfristig nicht unbedingt positiv auswirken.
Du engagierst dich stark für Nepal. Was liegt dir hier besonders am Herzen?
HANS KAMMERLANDER: Wenn ich zurückdenke, wie viel Unterstützung ich bei meinen Touren von diesen Menschen dort bekommen habe, seien es die Träger*innen oder Helfer*innen, in jeder Hütte war ich willkommen. Ich habe mir dort mit deren Hilfe meine Basis aufgebaut für mein weiteres Leben, für meine Erfolge. Du musst dich anschließend bedanken, das gehört sich einfach. Ich dachte dann darüber nach, wie ich das am besten machen kann, und habe mich für die Unterstützung der Schulen entschlossen. Insgesamt haben wir mit dem Projekt 26 Schulen gebaut und 3 Waisenhäuser. So können die Kinder lernen, bekommen eine Chance und können später auch mit dem Tourismus besser umgehen. Wenn ich vor Ort diese Schulen besuche und die Freude der Kinder erlebe, dann ist das noch schöner als alle Achttausender.
Das Umdrehen vor dem Gipfel ist eine deiner Stärken, die leider nicht viele Extrembergsteiger*innen besitzen. Welche Emotionen, welchen inneren
Schweinehund gilt es da zu überwinden?
HANS KAMMERLANDER: Ja natürlich, wenn du knapp vor einem Gipfel bist, auf einem Berg, auf den du dich monatelang vorbereitet hast, und wenn es wirklich nur ums Riskieren geht, also man nicht mehr sicher ist, dann fällt diese Entscheidung alles andere als leicht. Ich denke, dass man das erlernen muss im Laufe des Lebens. Man muss dazu stehen können. Wenn jemand so extrem ist und nicht umdrehen kann, dann wird er auch nicht lange leben. Solange es nur um die Schwierigkeit geht, ist es eines, aber wenn du merkst, dass sich die Natur gegen dich stellt, dann musst du diesen Respekt einfach haben, denn die Natur ist immer stärker.
Welche Rolle spielt eigentlich die Zeit? Du hast als erster Bergsteiger in Rekordzeit alle Seven Summits geschafft. Du hast dich einigen 24-Stunden-Projekten, beginnend mit dem Matterhorn, gewidmet. Warum auf Zeit? Ist das Erlebnis dadurch intensiver?
HANS KAMMERLANDER: Ich glaube eher, dass diese Speed-Aktionen für mich nur aus dem Extremsport heraus entstanden sind, also dieser extremen Sportlichkeit. Das Erlebnis ist eigentlich nicht so intensiv, weil du gar keine Zeit hast irgendetwas zu sehen. Du schaust nur ab und zu auf die Uhr. Also ständig so etwas machen – dann würde sich der Alpinismus nicht lohnen. Zwischendurch einmal zu versuchen, die Belastbarkeit austesten, ist interessant. Für mich ist die Schnelligkeit am Berg auch einfach eine Form der Sicherheit. Je schneller du bist, umso besser. Schnell kann man nur sein, wenn man leicht unterwegs ist. Das bedeutet auch, dass du keine Reserven mit dir hast und gerade da ist es wichtig, dass man umdrehen kann.
Ein Leben als Extrembergsteiger*in ist von Verlusten geprägt. Wie schafft man es nach einem Verlust wieder mit Zielen nach vorne zu blicken?
HANS KAMMERLANDER: Das ist ganz schwer. Es gab schon Momente, wo ich nach dem Abstieg dachte, dass das mein letztes Mal war und ich nichts mehr mit dem Berg zu tun haben möchte. Wenn man danach das Gefühl hat, dass das ein Feindbild geworden ist, dann ist das alles andere als gut. Irgendwie, auch mit Motivation von außen, ist es mir gelungen, in einigen kritischen Momenten weiter zu gehen. Wenn du am Berg gute Freund*innen verlierst, dann gibt es ganz klar nur eines, du musst wieder dorthin, aufstehen, nach vorne blicken – das ist viel besser, so kann man es besser verarbeiten. Am Jasemba, westlich des Everests, verunglückte bei unserem zweiten Versuch, den Gipfel zu erreichen, mein Kollege Alois Brugger tödlich. Und erst als ich und Karl Unterkircher noch einmal dorthin zurückkehrten, haben wir es im Gedenken an unseren abgestürzten Freund bis auf den Gipfel geschafft. Aber auch da gab es dann noch einen Schicksalsschlag: ein Jahr später kommt am Nanga Parbat auch Karl Unterkircher ums Leben. Mein Weg hatte viele Schlaglöcher und hätte ich gewusst, wie viele Verluste und Strapazen da auf mich zukommen, hätte ich ihn vielleicht nie beschritten.
Berge machen süchtig. Warum?
HANS KAMMERLANDER: Ich habe es selbst gespürt, dass man süchtig wird. Vielfach wurde ich für diesen Ausdruck als einen meiner Buchtitel kritisiert. Aber wenn du nicht süchtig wärst, dann bleibst du nicht bei Sturm auf 8000m Höhe in einem Biwak. Du plagst dich nicht Richtung Gipfel. Wenn ich selbst eine Zeit lang nicht auf den Berg gehen kann, dann spüre ich diese Unruhe und diese Unzufriedenheit in mir.
Kommen wir zu einer anderen „Sucht“: Du sammelst Oldtimer. Was hat dich zu dieser Sammlerleidenschaft geführt?
HANS KAMMERLANDER: In meiner Jugendzeit hatte ich keine Mittel und habe mir damals einen alten Fiat500 gekauft. Der hat mich immer überall hingebracht. Jahre danach habe ich dann wieder einen gekauft und habe dadurch auch Oldtimer-Freund*innen kennengelernt und die Lust darauf entdeckt. Das gemütliche Dahinrollen, Oldtimer Fahren verlangsamt alles, das hat auch seinen Reiz. Ich habe immer wieder mal so ein gutes altes Stück gesehen und es gekauft. Wenn das Wetter schön ist, fahre ich in die Dolomiten, gehe eine Bergtour und freue mich dann schon auf die Heimfahrt.
Deine Autobiografie ist in Gesprächen mit Verena Duregger und Mario Vigl entstanden. Wie und vor allem zu welchem Zeitpunkt entscheidet man sich, eine Autobiographie zu verfassen? Gibt einem das nicht das Gefühl, dass danach nichts Spannendes mehr kommt oder schließt man einfach ein Kapitel und beginnt ein nächstes?
HANS KAMMERLANDER: Wenn du dich entscheidest, ein Kapitel abzuschließen, gibt dir das die Möglichkeit, danach wieder etwas Neues zu beginnen. Du musst bereit sein, alles von dir frei zu geben. Du musst auch die Rückschläge und die Fehlentscheidungen platzieren und reflektieren, das ist gar nicht so einfach. Du lässt dein Leben Revue passieren und erlebst plötzlich auch deine Jugendzeit wieder ganz intensiv.
Als Vortragender bist du für deine kleinen Geschichten hinter den Geschichten beliebt. Wie begeisterst du die Menschen?
HANS KAMMERLANDER: Schön ist es, wenn es mir gelingt, auch Menschen für den Berg zu begeistern, die unter Umständen noch nicht so viel damit zu tun haben. Das ist mir schon einige Male gelungen! Da erzähle ich natürlich nicht von den Erfolgen und stelle mich in den Mittelpunkt – nein: Im Vordergrund stehen die Berge und die Geschichten, die ich dazu erzählen kann, weil ich eben dort war.
Deine Begegnung mit dem Schicksalsberg Manaslu wurde erfolgreich verfilmt, für deine Ski- Abfahrt vom Mount Everest bist du weltweit bekannt. Woher nimmst du den Mut dafür und welches Verhältnis hast du zum Tod?
HANS KAMMERLANDER: Schon in der Zeit, als ich mit Messner unterwegs war, habe ich die Linien gesehen, die mich inspiriert haben, mit den Skiern runter zu fahren. Damals war das aber kein Thema, weil Messner nicht unbedingt der Skifahrer war. Als ich dann alleine unterwegs war und mir auch wieder überlegen musste, wie schreibe ich die Erfolgsgeschichte weiter, wurde mir bewusst, dass die besten Extrembergsteiger*innen nicht unbedingt gute Skifahrer*innen sind. Also habe ich diese Fähigkeit des Bergsteigens und des Skifahrens kombiniert. Da habe ich die intensivste Zeit am Berg erlebt. Der Tod selbst macht mir keine Sorgen, davor habe ich keine Angst. Vielleicht, weil ich auch so oft so nahe dran war, beispielsweise bei einer Lawine am K2. Das Geheimnisvolle ist, dass du in dem Moment eigentlich gar keine Angst hast. Du schließt ab und merkst wie leicht es ist, das nimmt dir die Angst. Den wirklichen Wert des Lebens spüre ich erst, wenn das Leben selbst exponiert ist. Ich gehe immer davon aus, dass nichts passiert. Wenn du den letzten Rest deiner Kindheit verloren hast, bist du viel zu blockiert.
Verlässt einen der Mut beim Gedanken an die Familie?
HANS KAMMERLANDER: Rückblickend weiß ich,dass ich egoistisch war. Das macht auch der Wettlauf. Du musst am Limit sein – ständig. Meine damalige Frau hat damals beispielsweise aus der Zeitung erfahren müssen, dass ich den nächsten Achttausender plane. Als dann Jahre später meine Tochter geboren wurde, hatte ich das Gefühl der Verantwortung zum ersten Mal. Meine Tochter hat mir geholfen, diesen Ausstieg leichter zu verkraften, und das war auch gut so, denn meine Top-Form war zu diesem Zeitpunkt schon überschritten.
Das Wort „Unmöglich“ existiert in deinem Wortschatznicht. Welches Projekt steht für dich alsnächstes an?
HANS KAMMERLANDER: Ja, ich sage immer „man muss das Unmögliche versuchen, damit das Mögliche möglich wird“. Mein Ziel ist es, soweit ich es kann, quer durch die Welt zu reisen und immer wieder Matterhörner zu suchen und die Kulturen drum herum zu erleben. Nicht auf die Uhr schauen zu müssen, keinen Leistungsdruck zu verspüren.
Das klingt nach einem Vorhaben authentischer Entschleunigung. Wir wünschen dir dafür alles Gute!