Die »tomba della Quadriga Infernale« bei Sarteano
Sarteano, mitten in der Toskana gelegen, ist eine kleine Gemeinde mit 4625 Einwohner*innen in der Provinz Siena. Berühmtheit erlangte sie vor allem in archäologischer Hinsicht durch die nahe der Stadt gelegenen Etrusker- Nekropolen von Pianacce, deren Entdeckung der besonders reich freskierten Grabkammer im Oktober 2003 an ikonographischem Inhalt alles in den Schatten stellte, was von der Jenseitsvorstellung der Etrusker bekannt war.
Das Besondere dieser Grabkammer aus den letzten Jahrzehnten des vierten Jahrhunderts v. Chr., welche für die bekannteren anderen in Travertin gehauenen Grabkammern relativ groß und geräumig ist, misst 3,8 x 3,5 m, ist mit vier symmetrischen Nischen ausgestattet und hat einen 20 m langen Zugang, der ursprünglich von Grabräuber und Plünderer verschüttet worden war, welche auch erhebliche Schäden an der Bilddekoration vor nicht allzu langer Zeit anrichteten. Die Gesamthöhe der dekorierten Wand auf weißem Gipsgrund beträgt 2 Meter, hat am Ende des Korridors noch eine Türe mit einem vorspringenden oberen Giebel, die mit besonderer architektonischer Sorgfalt gebaut wurde. Vermutlich eine symbolische Anspielung: es ist die Tür ins Jenseits, hinter der der vermutlich adelige Verstorbene in einem großen grauen Alabastersarkophag ohne Büste seine letzte Ruhe fand.
Der Bilddekor entfaltet sich an vier verschiedenen Feldern und ist akribisch von der Kunsthistorikerin und Archäologin Alessandra Minetti, heute Direktorin des Stadtmuseums von Sarteano, das eine 1:1 Kopie der Grabkammer beherbergt, in einer umfassenden Studie, welche alle nur denkbaren Aspekte des Vergleiches mit bekannten Bildmotiven aus anderen Etruskergräbern oder Motiven von Vasenmalereien des Museo Claudio Faina in Orvieto berücksichtigt, aufgearbeitet. Neben auffallend dekorativem, rotem Mäanderdekor, dem endlosen Band der in sich geschlossenen Geometrie und der Regelmäßigkeit springen auch Delphine in einem Band von schwarz verlaufenden Wellen, was auch sehr symbolisch gedeutet werden kann und zwar durch den freudigen Energieimpuls dieser verspielten Tiere, die dennoch immer wieder in das tiefe Schwarz des für uns unsichtbaren Verborgenen der Unterwelt eintauchen, so als wollten sie uns eine Botschaft vermitteln, dass das Leben trotzdem weitergeht.
Leider ist gerade der Teil der den Wagen ziehenden Fabelwesen kräftig der Beschädigung durch eine Spitzhacke von Grabschändern zum Opfer gefallen, die dahinter wohl eine verborgene Kammer mit einem Schatz vermuteten.
Das spektakulärste und auffälligste an dieser Grabkammer stellt jedoch die linke Seitenwand dar, wo eine Quadriga von vier wild in Aktion dargestellter Tiere aus einer Mischung von Pferden mit Löwenköpfen mit gelber Mähne, aber auch das Profil eines Greifen mit großem gelbem Schnabel und rotem Kamm und rotes Zaumzeug zu erkennen ist, wobei ein Getümmel von Beinen und Hufen in Aktion noch eine mächtige dunkle Staubwolke aufwirbelt, die sogar in ihrer aufsteigenden Vehemenz noch den Kopf der ziehenden Tiere mit den Löwenköpfen und des Greifenkopfes umhüllt, das von einem grimmig aussehenden Wagenlenker mit Hakennase gehalten wird, mit kräftig orangefarbenem, gewelltem Lockenkopf und einem markanten Auge, dessen runde Pupille seinen Blick fest und entschlossen, jedenfalls sehr temperamentvoll erscheinen lässt. Nicht gleich zu erkennen: aus seinem Unterkiefer ragt auch noch ein spitzer Stoßzahn schräg nach oben und überragt sogar noch einen Teil der Oberlippe. Er ist in einen vom Fahrtwind aufgeblähten roten Mantel gehüllt, der seine gebogenen Schultern und Arme bedeckt, welche in der typischen Position des Wagenlenkers ausgestreckt sind. Man hat den Wagenlenker als Charun gedeutet (griechisch Charon), mit weißem Teint, wie auch auf den Orvieto Vasen der Vanth-Gruppe zu sehen, aber üblicherweise ist er bläulich dargestellt und er hat eine aquiline Nase. Während Vanth, eine wesentlich sympathischere Begleiterin in die Unterwelt immer weiblich und mit Flügeln dargestellt wird, und stets einen freundlichen, vertrauenserweckenden Eindruck macht, ist der grimmige Blick des Wagenlenkers furchterregend.
Leider ist gerade der Teil der den Wagen ziehenden Fabelwesen kräftig der Beschädigung durch eine Spitzhacke von Grabschändern zum Opfer gefallen, die dahinter wohl eine verborgene Kammer mit einem Schatz vermuteten, doch immerhin setzt das Gedränge der Vorder- und Hinterbeine mit kontrastierenden Farben einen sehr dynamischen Akzent. Zwei gemalte Ungeheuer sind in der Grabkammer jedenfalls noch auffällig: ein Drache an der Stirnwand, in der Nähe des Sarkophags, und eine riesige dreiköpfige Hydra, in sehr grellen Farben, mit Kinnbart und einem roten Kamm auf jedem Haupt, wie wir sie von Hähnen kennen, und die in einem spiralförmig gewundenen Hinterleib endet, wie sie als Motiv in mehrfacher Überlebensgröße sonst in Wandmalereien dieser Zeit nirgendwo vorkommt.
Hinter dem rothaarigen Dämon öffnet sich in der Grabkammer eine Nische, eingerahmt von einer sogenannten dorischen Türe, welche die Grenze der diesseitigen und jenseitigen Welt darstellt, und leitet über zu einer weiteren interessanten Szene, die ein männliches Paar darstellt, welches auf einer Kline liegt, wie wir es von Banketten kennen, die häufig in der etruskischen Wandmalerei vorkommen. Auffällig ist der Altersunterschied der beiden Männer und auch der besonnen, aber dennoch empathische Gestus, mit dem sie sich einander zuwenden, die man als „liebevolle Begrüßung“ deuten kann. Der reifere Mann mit einem heute sehr modernen „Dreitagesbart“ und hellerem Teint legt seine Hand, den ihm direkt in die Augen blickenden jüngeren Mannes mit deutlich dünklerer Hautfarbe, freundschaftlich um die Schulter. Seine linke Hand ruht dabei auf der rechten des bärtigen Mannes, während er mit seiner Rechten mit weggespreiztem Zeigefinger eine Geste der Beschwichtigung oder sogar Abweisung vollzieht, als wollte er sagen: was vorher möglich war, das geht hier nicht mehr! Es mutet an wie eine Absage des Jüngeren an den Älteren, der darüber ernst nachsinnend in seinem Blick über diese Abweisung bedrückt und traurig wirkt.
Im Unterschied zu Minetti sehe ich hier sehr wohl einen erotischen Konnex zwischen Männern unterschiedlichen Alters, wie es in der Antike belegt und üblich war, und nicht zufällig erinnert man sich dabei an Platons Symposion und zieht einen Vergleich des jüngeren Mannes mit Alkibiades, der als einziger bei diesem Trinkgelage keine Lobrede auf Eros, sondern auf seinen Lehrer Sokrates hielt. Ob dies eine Zufälligkeit darstellt, dass in der Antike Männer von Stand grundsätzlich glattrasiert waren, bis auf wenige Ausnahmen, wie eben Philosophen, so auch Sokrates, und der freskierte bärtige Mann auch eine Seltenheit in der gesamten mir bekannten Darstellung von etruskischen Männerköpfen darstellt, könnte dies eine Anspielung des Auftraggebers auf das Symposion Platons sein, der als gebildeter Mann und in Kenntnis des griechischen Alphabetes durchaus Zugang zu diesen Quellen gehabt haben könnte.
Das Werk entstand 380 v. Chr. Noch eines könnte auf die Existenz des Bartes hinweisen: Bärte „wachsen“ bekanntlich eine Zeit lang weiter, auch nachdem der Tod eingetreten ist. Dieses Phänomen ist bekannt, doch die moderne Medizin entkräftet diesen Eindruck: Ein männlicher Toter kann dennoch nach einigen Tagen einen Bart bekommen. Dann sind ihm aber nicht die Haare gewachsen, sondern die Haut ist ausgetrocknet, sodass vorher verdeckte Bartstoppeln sichtbar werden. Es scheint, dem Maler war dieser Umstand bekannt, und der ältere Mann am Fresko ist der portraitierte Tote. Wenn man davon ausgeht, dass der Tote gebildet und mit der griechischen Philosophie ein wenig vertraut war, fällt zumindest, was die Quadriga betrifft, eine Ähnlichkeit zum Lehrgedicht des Parmenides (um 540–480 v. Chr.) auf, bei dem es sich inhaltlich um eine ähnliche Konstellation handelt: vier „vielverständige Stuten“ ziehen einen Wagen mit gewaltiger Kraft mit einem nach Wissen dürstenden Mann in Richtung auf ein Tor der Wahrheit, am Scheideweg „der Bahnen von Tag und Nacht“.
Hinter dem Tor erwartet ihn eine geheimnisvolle, namenlose Göttin und begrüßt ihn am Ende eines Weges, der „weitab vom üblichen Pfade der Menschen liegt“ mit Handschlag. Parmenides verpackt in diese Geschichte ein erkenntnistheoretisches Grundproblem, indem eine unbekannte Göttin dem Wahrheit suchenden Mann eröffnet, was nicht bezweifelt werden kann, wie es um die Dinge der Welt bestellt ist, also dem, was abweicht davon, was nur vom üblichen Anschein herrührt. Dabei geht es um die Aufhebung der Doxa (der Meinung der Sterblichen), der Dissonanz zum rechten Bedenken, das vom Bewusstsein – und zwar auch der menschlichen Sterblichkeit – getragen ist, und genau das scheint auch im Gesichtsausdruck des bärtigen Mannes auf unserem Fresko zu bestätigen. Und er ist bei seinem Freund im Zustand harmonischer Entspannung schon jenseits des Tores angekommen, welches das Reich der Lebenden von dem der Toten trennt.
Was auffällt an diesem Grab, bei den sonst so lebensfreudigen Etrusker, ist das Fehlen dessen, was man Erbauung im Jenseits angesichts des Faktums des Todes sonst in anderen Etrusker-Gräbern findet. Es wird nicht getanzt, nicht musiziert, nicht gegessen, gefeiert, nicht im sportlichen Wettkampf die Kräfte gemessen. Man hat irgendwie den Eindruck, da fehlt noch etwas, zum Beispiel auf der rechten Wand, das auch das Positive beleuchten könnte am „Leben danach“. Vielleicht trat der Tod zu früh ein, ohne dass der Bilderzyklus dieser Grabkammer vollendet werden konnte? Wir können dies nur vermuten. Wir sehen heute nur daran das Erschreckende, vielleicht Verstörende, das, was wir nicht begreifen, bis heute, am Tod. Aber es ist zugleich das Faszinierende, weil wir nicht ablassen können, daran zu denken, nicht mehr zu sein.