Die Alraune in der (Hexen) Kunst

Es war eine ster­nen­kla­re Neu­mond­nacht im Mai, als wir in tie­fer Dun­kel­heit unse­re magi­sche Zau­ber­wur­zel aus­gru­ben. Als jun­ge Kräu­ter­kun­di­ge hat­ten wir bereits viel über die Heil- und Zau­ber­kräf­te der Alrau­ne gele­sen. Von den alten Ägyp­tern, über Hip­po­kra­tes, der Ärz­te­schu­le von Saler­no und Hil­de­gard von Bin­gen, bis hin zu Para­cel­sus, hat­ten sich alle bedeu­ten­den Heil­kun­di­gen ver­gan­ge­ner Zei­ten mit die­ser sagen­um­wo­be­nen Wur­zel beschäf­tigt. Aber lesen allein war uns schon damals nicht genug, wir woll­ten end­lich von der Theo­rie in die Pra­xis gehen und nun stan­den wir vor einer ech­ten Her­aus­for­de­rung, wenn man den Geschich­ten über die­se Pflan­ze auch nur annä­hernd Glau­ben schen­ken konn­te. Natür­lich hät­ten wir uns eine Topf­pflan­ze kau­fen kön­nen, doch wir woll­ten die Pflan­ze unbe­dingt in ihrer natür­li­chen Umge­bung ken­nen­ler­nen. Eine Kräu­ter­kun­di­ge hat­te mei­ner Frau und mir berich­tet, dass wir auf der Kykla­den­in­sel Amor­gos auf jeden Fall fün­dig wer­den wür­den. Es war eine stei­ni­ge, kar­ge und tro­cke­ne Kul­tur­land­schaft, die aus der Zeit gefal­len schien, mit Esels­we­gen und uralten Oli­ven­hai­nen, die Alrau­nen beson­ders schätzen.

Sie sucht also ger­ne die Nähe zum Men­schen. In dem bota­ni­schen Namen Man­dra­go­ra offi­ci­na­rum ver­birgt sich das grie­chi­sche Wort Ago­ra für den Ver­samm­lungs­ort in einer Stadt. In präh­el­le­nis­ti­scher Zeit galt Amor­gos als Insel der Zau­be­rer und Hexen. Von dort stam­men Ido­le weib­li­cher Gott­hei­ten, wie man sie ähn­lich in ganz Euro­pa gefun­den hat. Ein Zau­ber liegt noch heu­te über die­ser Insel. Unter den Rufen der Käuz­chen und Esel gru­ben wir schließ­lich unse­ren Schatz. Eine Alrau­ne zu sam­meln, ist jedoch etwas ande­res, als Rüben zu ern­ten. Die Wur­zel ist mit den Geis­tern und den unter­ir­di­schen Gott­hei­ten im Bun­de. Die Göt­tin Per­se­pho­ne und ihr Gemahl Hades gebie­ten nicht nur über die Unter­welt und über das Reich der toten See­len, son­dern auch über die dunk­le Jah­res­zeit, in der sich die Wur­zel­kräf­te ins Inne­re der Erde zurück­zie­hen. Die Alrau­ne ist hier beson­ders eigen­wil­lig, denn sie zeigt ihre Blät­ter erst im Herbst, ihre dun­kel­vio­let­ten Blü­ten im spä­ten Win­ter und ihre Früch­te im Früh­ling – in der lich­ten Jah­res­zeit ver­schwin­det sie dann für Mona­te gänz­lich von der Erd­ober­flä­che, ins Reich der Totengeister.

Nur unter Beach­tung bestimm­ter Ritua­le wie dem Zie­hen eines magi­schen Krei­ses, Anru­fun­gen an die Geis­ter­welt oder einem Trank­op­fer, kann man des­halb ohne Scha­den eine sol­che Wur­zel der Erde ent­neh­men. His­to­ri­sche Dar­stel­lun­gen zei­gen, wie Samm­ler die Pflan­ze mit Spie­ßen regel­recht erle­gen und ein schwar­zer Hund soll die Wur­zel schließ­lich der Erde ent­rei­ßen, denn nur er kann den Schrei der Wur­zel ertra­gen, wenn sie aus der Erde geholt wird. Der Hund ist ein See­len­ge­lei­ter und Wäch­ter zur Toten­welt, man den­ke nur an den drei­köp­fi­gen Ker­be­ros. Einen sol­chen Hund hat­ten wir nun lei­der nicht dabei, doch gera­de als wir die Alrau­ne frei­ge­legt hat­ten, tauch­te ein klei­nes Exem­plar aus der Dun­kel­heit auf, bell­te, schau­te uns grim­mig an und ver­schwand wie­der in der Nacht – wir sahen dar­in einen Segen der Göt­tin Heka­te, die man mit dem Neu­mond asso­zi­iert und der alle Gift­pflan­zen geweiht sind und been­de­ten unser Werk.

Was dabei zum Vor­schein kam, ver­schlug uns den Atem. Die Wur­zel fühl­te sich warm und weich an, anders als man es erwar­ten wür­de und sie hat­te tat­säch­lich eine men­schen­ähn­li­che Gestalt, mit einem Gesicht, einem Ober­kör­per, zwei Armen, zwei Bei­nen und die Blät­ter wie Haa­re. Wil­liam Bla­ke inspi­rier­te die Alrau­ne zu sei­nem Bild »I found him beneath a tree«, auf dem wir eine Frau oder Göt­tin sehen, die eine Pflan­ze in Men­schen­ge­stalt aus der Erde zieht.

Hil­de­gard von Bin­gen mein­te über die Alrau­ne, dass sie der ers­te Ver­such Got­tes gewe­sen sei, den Men­schen zu erschaf­fen. Es gelang ihm nicht per­fekt, aber so bekam die Wur­zel ihre anthro­po­mor­phe Gestalt. Unse­re Wur­zel war knapp einen Meter lang und wog fast zwei Kilo – so etwas hat­ten wir noch nie zuvor gese­hen. Wie in den alten Zau­ber­bü­chern vor­ge­schrie­ben, rie­ben wir die Wur­zel mit Wein ab und salb­ten sie spä­ter noch mit in fet­tem Öl gelös­ten Har­zen und äthe­ri­schen Ölen, auch um sie zu kon­ser­vie­ren. Über Wochen hin­weg kam es danach zu merk­wür­di­gen Ereig­nis­sen und Träu­men und letzt­end­lich hat es unser Leben nach­hal­tig geprägt. Seit­dem ruht die Wur­zel in einem Glas­kas­ten und erin­nert uns jeden Tag an die­se Ein­wei­hung in die Wur­zel­wel­ten. Dies ist nun 30 Jah­re her, aber es fühlt sich so leben­dig an, als ob es ges­tern gewe­sen wäre.

Auch in der Kunst fin­det man Hin­wei­se auf die magi­schen Tra­di­tio­nen in Bezug zur Alrau­ne. Beson­ders ein­drück­lich zeigt der eng­li­sche Künst­ler Robert Bate­man, wie drei Frau­en eine Alrau­ne unter einem Gal­gen her­vor­zie­hen. Aller­dings sind dies kei­ne gewöhn­li­chen Frau­en, son­dern die drei Nor­nen, die als Schick­sals­göt­tin­nen den Lebens­fa­den weben, mit dem sie auch die Alrau­ne der Erde ent­rei­ßen. Im alten Glau­ben wur­de die Alrau­ne aus dem Samen von Erhäng­ten gebo­ren. Unser Wirt auf Amor­gos kann­te die­se Geschich­te und ent­spre­chend war er sehr erschro­cken und vol­ler Furcht, als er unse­re Alrau­ne sah. Tat­säch­lich sind in der Alrau­ne Vor­stu­fen von Tro­pa­nal­ka­lo­iden ent­hal­ten, soge­nann­te Put­re­sci­ne, die auch zu den Lei­chen­gif­ten zäh­len. Viel­leicht erklärt dies die Ver­bin­dung zum Toten­reich und die Visio­nen von Ver­stor­be­nen und Unter­welts­gott­hei­ten im Alraunenrausch.

Die meis­ten bota­ni­schen Abbil­dun­gen über die Jahr­hun­der­te zei­gen eben­falls kei­ne gewöhn­li­che Pflan­ze mit einer rüben­för­mi­gen Wur­zel, son­dern ein Pflan­zen­we­sen in Men­schen­ge­stalt, bei­spiels­wei­se in dem Kräu­ter­buch »Gart der Gesund­heit« von 1485. Im Deut­schen Muse­um in Mün­chen, oder im Phar­ma­zie­his­to­ri­schen Muse­um in Basel, sind Alrau­nen aus­ge­stellt, bei denen man sogar noch etwas nach­ge­hol­fen hat, um das Wesen­haf­te her­vor­zu­he­ben. In der Magie gel­ten Alrau­nen schon immer als eine Art Dienst­geist oder Homun­ku­lus, der einem bei der magi­schen Arbeit hilf­reich zur Sei­te steht, aber nur, wenn man die Alrau­ne auch rich­tig behan­delt und sie in Ehren hält. So zeigt der Künst­ler Hein­rich Füss­li auf dem Bild »Die Hexe und die Alrau­ne«, wie eine Frau ein leben­di­ges Wur­zel­we­sen mit der Milch aus ihrer Brust ernährt. Und wir sehen hier ein Käuz­chen als Tier der Nacht.

Die Alrau­ne gehört zu den Nacht­schat­ten­ge­wäch­sen – allein schon der Name deu­tet auf das Numi­no­se der Pflan­zen­fa­mi­lie hin, dar­un­ter vie­le gif­ti­ge Geschwis­ter wie Tabak, Toll­kir­sche oder Bil­sen­kraut, aber man­che sind auch ess­bar, wie die Kar­tof­fel, die Toma­te oder die Aubergine.

Aber kei­ne Pflan­ze genießt einen der­art »magi­schen« Ruf wie die Alrau­ne. Die Hexe Cir­ce soll mit ihr die Gefähr­ten des Odys­seus in Schwei­ne ver­wan­delt haben, was ein Hin­weis auf die aphro­di­si­sche Wir­kung der Alrau­ne ist. Der visio­nä­re Künst­ler Fred Weid­mann zeigt die Alrau­ne als las­zi­ves Wesen inmit­ten vie­ler wei­te­rer Ver­tre­ter der Hexen­pflan­zen wie Stech­ap­fel, Eisen­hut oder Hanf und auch die Pilz­wel­ten kom­men bei ihm nicht zu kurz.

Bereits in der Anti­ke kann­te man auch ihre schmerz­stil­len­de, hyp­no­ti­sche und betäu­ben­de Wir­kung. Die nar­ko­ti­sche Wir­kung nutz­te man in Form von Schlaf­schwämm­chen bei Ope­ra­tio­nen zur Betäu­bung, in dem man dem Kran­ken ein Stück Schwamm mit Alrau­nen­saft in die Nase steck­te. Über die Nasen­schleim­häu­te erfolgt eine rasche Resorp­ti­on der betäu­ben­den Wirk­stof­fe, die, wie man von den Hexen­sal­ben weiß, über Haut und Schleim­haut in den Blut­kreis­lauf auf­ge­nom­men wer­den. Im Fal­le der Alrau­ne han­delt es sich vor allem um Sco­pol­amin, das in einer gerin­gen Dosie­rung einen dämp­fen­den Ein­fluss auf die Moto­rik aus­übt, in grö­ße­ren Dosen aber zu einem tie­fen Schlaf führt. Nacht­schat­ten-Sco­pol­ami­ne wer­den wegen ihrer betäu­ben­den und mus­kel­re­la­xie­ren­den Wir­kung noch heu­te in der Ope­ra­ti­ons­vor­be­rei­tung sowie in der Schmerz­be­kämp­fung ver­wen­det und bis vor eini­gen Jah­ren gab es einen rezept­frei­en Schlaf­wein aus Alrau­ne in der Apo­the­ke zu kaufen.

Die Kran­ken such­ten in anti­ker Zeit auch ihr Heil in den Wei­he­stät­ten des Askle­pi­os, wo man sie mit Hil­fe von Alrau­nen­saft und wohl auch Schlaf­mohn in den hei­li­gen Tem­pel­schlaf ver­setz­te. Dort begeg­ne­ten sie in Trance der Gott­heit, der sie auf geis­ti­ger Ebe­ne hei­lend berühr­te und ihnen den Hin­ter­grund der Krank­heit und den Lösungs­weg zur Hei­lung zeig­te. Die Rausch­wir­kung der Alrau­ne kann eine Rei­se in fan­tas­ti­sche und manch­mal auch ero­ti­sche Wel­ten sein. Wer durch die geöff­ne­ten Pfor­ten des Bewusst­seins in das Reich der Göt­ter und Geis­ter tritt, erlebt eine Ent­gren­zung, in der die geis­ti­ge Welt einen berührt und, wenn die Gunst der Stun­de es gebie­tet, auch hei­len kann. Für unse­re Ahnen war die­se Welt­sicht selbst­ver­ständ­lich, wes­halb so ein Heil­ri­tu­al auch über­haupt gelin­gen konn­te. Den beson­de­ren berau­schen­den Cha­rak­ter der Alrau­ne zeigt das gleich­na­mi­ge Bild der visio­nä­ren Künst­le­rin Nana Nau­wald sehr gut – wir sehen eine Alrau­ne mit einer Art Aura, über­ein­an­der gela­ger­ten Farb­schich­ten und einer Raum­struk­tur, wie man sie in Trance erfah­ren kann.

Bis heu­te nutzt man in der Homöo­pa­thie die ent­zün­dungs­wid­ri­ge Wir­kung bei Gelenks­lei­den, Mus­kel­schmer­zen oder Neur­al­gi­en und die rege­ne­rie­ren­de Wir­kung als schlaf­för­dern­des Mit­tel. Auch bei Angst­zu­stän­den und Unru­he oder Erschöp­fung in Stress­pha­sen setzt man sie nach wie vor in poten­zier­ter Form ein. Nur den Bezug zum Gött­li­chen haben wir lei­der weit­ge­hend ver­lo­ren. In der Kunst bleibt er jedoch lebendig.

WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN

  • Die Alrau­ne und ihre Schwes­tern – Vor­trag zum Strea­men von Olaf Rip­pe über die Nacht­schat­ten­ge­wäch­se in Kunst, Magie und Heil­kun­de: https://vimeo.com/ondemand/alraune
  • Zahl­rei­che wei­te­re Arti­kel von Olaf Rip­pe fin­den Sie auf https://www.natura-naturans.de
  • Lite­ra­tur: Clau­dia Mül­ler Ebe­l­ing / Chris­ti­an Rätsch: Zau­ber­pflan­ze Alrau­ne (Nacht­schat­ten­ver­lag)
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geschrieben von

ist Therapeut, Autor, Referent und Liebhaber der Künste. Wenn er ein Phänomen betrachtet, sei es eine Heilsubstanz oder eine Krankheit, nimmt er stets unterschiedliche Perspektiven ein. In seinen Publikationen und Vorträgen nutzt er die Kunst als Medium, um heilkundliches Wissen zu vermitteln. www.olaf-rippe.de

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