Die Ursachen der Harmonie

Kontemplative Einfühlung und symbolische Vitalität

Die krea­ti­ve Gene­se eines Künst­lers gehorcht fast immer sei­nem ein­zig­ar­ti­gen inne­ren Pro­zess, des­sen Ent­wick­lung uns immer sehr rät­sel­haft und kom­plex zu ent­schlüs­seln erscheint. Die For­men, die das poe­ti­sche Uni­ver­sum über­set­zen, stel­len nichts wei­ter als einen mini­ma­len Teil dar, die leuch­ten­de Spit­ze des Eis­bergs des Bewusst­seins, der hin­ge­gen in einem Oze­an von Emo­tio­nen und Erin­ne­run­gen ver­senkt ist. Sie inter­pre­tie­ren nichts ande­res als die Pro­jek­tio­nen der Wün­sche oder der Träu­me. Sie über­set­zen ledig­lich den Effekt der Begeg­nung / Kon­fron­ta­ti­on mit der Rea­li­tät der Welt, in der er erlebt wird.

Hel­ga Vocken­hu­ber © Ägi­di­us Maria Vockenhuber

Abge­se­hen von dem bei­na­he uner­gründ­li­chen Mys­te­ri­um, das die Wahl begrün­det und ent­schei­det, gibt es ästhe­ti­sche Wege, die von abrup­ten Abwei­chun­gen oder unvor­her­seh­ba­ren Ände­run­gen der Aus­drucks­mög­lich­kei­ten über­sät sind. Ande­re zeich­nen sich hin­ge­gen durch eine offen­sicht­li­che Linea­ri­tät und Kon­ti­nui­tät des Stils aus, die ihre Ent­wick­lung cha­rak­te­ri­sie­ren. So auch das, was seit über zwan­zig Jah­ren hin­ter der plas­ti­schen Spra­che der Salz­bur­ger Bild­haue­rin Hel­ga Vocken­hu­ber steht, ganz essen­zi­ell und gleich­zei­tig sehr mutig. Die Kohä­renz ihres Stils ist auf­fal­lend. Die­se stren­ge Nüch­tern­heit der figu­ra­len Elemente.

Die Spär­lich­keit des eige­nen iko­ni­schen Reper­toires, denn die Künst­le­rin bedient sich nur weni­ger For­men und Figu­ren, auf die sie sich mit äußers­ter Auf­merk­sam­keit kon­zen­triert, die jedoch eine gewal­ti­ge sym­bo­li­sche Ener­gie ver­brei­ten. Die Spit­ze von Hel­gas inne­rem Eis­berg muss sein Licht aus einem end­lo­sen Abgrund des Ver­lan­gens schöp­fen. Aus ihrem intims­ten und sehn­süch­tigs­ten Bedürf­nis nach Har­mo­nie; und dabei ist es uner­heb­lich, ob die­se als eine auf sich selbst bezo­ge­ne Har­mo­nie ver­stan­den wer­den soll oder eher auf die ver­stör­te Welt, in der wir leben. Und Hel­ga bezieht sich hier nicht so sehr auf den klas­si­schen gesun­den Men­schen­ver­stand von Pro­por­ti­on und Euryth­mie, son­dern sie ver­folgt viel­mehr etwas viel Dyna­mi­sche­res und Ursprüng­li­che­res, das viel­leicht aus der­sel­ben grie­chi­schen Wur­zel des Verbs armóz­e­in die tiefs­te Begrün­dung für sei­ne Bedeu­tung zieht. Mit ande­ren Wor­ten: zu wis­sen, wie man sich mit einer kon­tem­pla­ti­ven Ein­stel­lung ver­bin­det, mit ihr über­ein­stimmt, sie vor­be­rei­tet und gemein­sa­me Emo­tio­nen weckt. Des­halb fun­gie­ren ihre Figu­ren von heu­te, die so ein­drucks­voll und fei­er­lich sind, gleich­zei­tig impo­nie­rend und wür­de­voll, als magne­ti­sier­tes Bin­de­glied zwi­schen dem Betrach­ter. Sie stel­len einen uner­war­te­ten Kon­takt­punkt her. Sie wir­ken auf den Zuschau­er ein, indem sie ihn in den ent­span­nen­den Kreis ihrer Stil­le hin­ein­zie­hen. Sie berei­ten ihn vor, hin­zu­hö­ren und nach einem kost­ba­rers­ten Sinn unse­rer Exis­tenz zu suchen.

Als Hel­ga Vocken­hu­ber noch sehr jung war, unter­nahm sie die ers­ten Schrit­te ihrer Kar­rie­re und beschäf­tig­te sich bei ihren ers­ten For­schun­gen mit der Gold­schmie­de­kunst. Viel­leicht hat­te sie sich nie vor­stel­len kön­nen, die Bild­haue­rin zu wer­den, die sie heu­te ist, eine Schöp­fe­rin solch majes­tä­ti­scher Gesich­ter, die erneut dazu bestimmt sind, Stadt und Natur mit einem Sinn zu bele­ben: das pul­sie­ren­de Herz eines urba­nen Zen­trums und gro­ße Frei­flä­chen. Und doch wand­ten sich ihre Beweg­grün­de von damals bereits einer extre­men Ver­dich­tung von Emo­tio­nen und Emble­men zu. Win­zi­ge Bron­ze­sta­tu­en, klei­ne Schmuck­stü­cke und Metall­ge­schmei­de, die zwar von Tier- oder Blu­men­mo­ti­ven inspi­riert waren, ohne jedoch etwas Natu­ra­lis­ti­sches zu haben, setz­ten sich bereits auf­grund einer ihrer über­aus sym­bo­li­schen Chif­fre durch. Blu­men und Tau­ben tra­ten bereits mit ihrer geheim­nis­vol­len Fas­zi­na­ti­on beklei­det in Erscheinung.

Doch erst spä­ter wur­de Hel­ga Vocken­hu­ber durch einen lang­sa­men inne­ren Pro­zess bewusst, wel­ches laten­te poe­ti­sche Poten­zi­al ihre win­zi­gen Wer­ke bereits ent­hiel­ten. Mit wel­cher Ladung, die man im Sin­ne der gro­ßen Dimen­si­on als „explo­siv“ bezeich­nen kann, sie aus­ge­stat­tet waren. Und doch war es für sie sicher­lich nicht leicht, den Sinn ihrer eige­nen Arbeit des Schaf­fens von Skulp­tu­ren völ­lig umzu­keh­ren: eine Art öffent­li­che Funk­ti­on der Arbeit zu reak­ti­vie­ren, zusam­men­fas­send und in gewis­ser Wei­se wie ein Totem, das ein gan­zes Bün­del gemein­sa­mer Emo­tio­nen ver­mit­teln kann. Eine Skulp­tur mit sol­chen aus­ge­dehn­ten Dimen­sio­nen erfor­dert für ihre Erstel­lung kom­ple­xe und ange­mes­se­ne tech­ni­sche und aus­füh­ren­de Res­sour­cen. Die Wahl von Bron­ze als bevor­zug­tes Mate­ri­al zwang Hel­ga zudem dazu, auf die klas­sischs­te Quel­le der Kunst des Ver­schmel­zens zurück­zu­grei­fen. So konn­ten sich ihre Fin­ger end­lich im „Model­lie­ren“ gro­ßer Dimen­sio­nen mes­sen, sich dem Wider­stand der Mate­rie und den Rät­seln des Feu­ers stel­len, die Leit­ge­dan­ken und die tie­fen Emo­tio­nen ent­wi­ckeln, die bes­ten­falls das ihr ver­wei­ger­te Bestre­ben nach Har­mo­nie ver­kör­pert und ans Licht gebracht hätten.

Bis sie mit der Zeit eine Rei­he von monu­men­ta­len Wer­ken kon­zi­pier­te, die zu einem ein­heit­li­chen Ent­wurf einer sakra­len Skulp­tur­dar­stel­lung gehör­ten. Und dies geschah aus einer poe­ti­schen, aber auch reli­giö­sen Per­spek­ti­ve, die der­ge­stalt war, dass sie eine auf­ge­ho­be­ne geist­li­che Dimen­si­on wie­der in den Mit­tel­punkt unse­rer Über­le­gung brach­te. See­le gefun­den: Aber als Wie­der­ent­de­ckung eines ver­lo­re­nen Schat­zes, der plötz­lich (immens und schwer fass­bar) wie­der ans Licht gebracht wur­de. So wur­de nach und nach jede die­ser gro­ßen Figu­ren von Hel­ga Vocken­hu­ber nach einer stren­gen struk­tu­rel­len Visi­on kon­zi­piert. Dabei dreh­te sie sich immer um eine ganz­heit­li­che Wahr­neh­mung die­ser drei maß­geb­li­chen Moti­ve, die die gesam­te sym­bo­li­sche Ver­wand­lung der Rea­li­tät umfassen.

Der Kos­mos und die Ani­ma Mun­di, die ihn durch­dringt, wur­den in der Gestalt einer sehr offe­nen Lilie zusam­men­ge­fasst; der Kör­per und der vita­le Rhyth­mus, der ihn trägt, in einem bewun­derns­wer­ten Akt einer Frau model­liert, er liegt (und hängt) auf einer pre­kä­ren Schau­kel des Lebens; das Gesicht des Men­schen und die Nost­al­gie, die es mit der ver­lo­re­nen gött­li­chen Ähn­lich­keit durch­dringt. Gro­ße Gesich­ter, die uns ent­ge­gen kom­men und vor uns auf­blü­hen wie Blu­men; oder gro­ße Blu­men, die sich wie Gesich­ter öff­nen und die uns die Makel­lo­sig­keit eines fried­li­chen Lichts eröff­nen. Eksta­ti­sche Gesich­ter, von denen eine ver­ges­se­ne Gna­de aus­geht: Spie­gel, die den Ankunfts­punkt eines Bewusst­seins­we­ges in einer dop­pel­ten Bewe­gung des Auf­stiegs und des Ein­tau­chens in sich selbst reflek­tie­ren. Gesich­ter, die in die „Betrach­tung“ der gött­li­chen Essenz ihres Schick­sals ver­sun­ken sind: Beim Hören auf die­sen Atem­zug, der eine leben­di­ge Brü­cke zwi­schen dem Ich und der Welt ist, zwi­schen unse­rer am wei­tes­ten ent­fern­ten Erin­ne­rung und jedem Moment der Gegen­wart, zwi­schen dem Kos­mos, in dem wir uns befin­den, und dem Herzen,uns mit sei­nem unun­ter­bro­che­nen Schla­gen erhält. Uner­mess­li­che und har­mo­ni­sche Gesich­ter, die uns gemein­sam die Freu­de eines Ichs offen­ba­ren und ver­ber­gen, das end­lich die Erobe­rung eines mit sei­nem Schöp­fer ver­söhn­ten Wesens in sich sieht. Emblem-Gesich­ter, in einem Vier­eck ange­ord­net, das die Fei­er­lich­keit eines Ritu­als des Gewis­sens erlangt und vorwegnimmt.

Mit zwei Paa­ren, die sich mit geschlos­se­nen Augen gegen­über­ste­hen, ver­bun­den mit einem Aus­tausch des rei­nen Wie­der­fin­dens. Sie spre­chen mit­ein­an­der, gera­de wegen der Gemein­schaft, die sie durch ihr Schwei­gen begrün­den (und das scheint nicht para­dox zu sein). Figu­ren, die aus einer bibli­schen und evan­ge­li­schen Matrix (Der Neue Adam und die Neue Eva, der Pro­phet und die Mag­da­le­na) ihre ursprüng­li­che Matrix schöp­fen, die jedoch als mög­li­che Emble­me einer gewünsch­ten uni­ver­sel­len Ein­mü­tig­keit ste­hen. Je mehr sie gesam­melt wer­den, des­to mehr schei­nen die­se Figu­ren in sich selbst zu ver­sin­ken, des­to mehr erleich­tert und erwei­tert der Atem­zug (die Poe­sie) der Stil­le, der sie zusam­men­bin­det, ihr Volu­men. Als wür­de der mys­ti­sche Durst, der sie drängt, in sich selbst zu suchen, einem Hun­ger nach Raum ent­spre­chen, mit dem sie die Welt außer­halb von sich selbst umar­men möch­ten. Gesich­ter – Volu­men, immense leben­di­ge Schatz­tru­hen, in denen alle Gedan­ken, Gefüh­le, Sehn­süch­te und Gebe­te eines jeden Man­nes oder einer jeden Frau ein­ge­schlos­sen zu sein schei­nen, die in einer lang­sa­men inne­ren Rei­se auf der Suche nach sich selbst her­ab­kom­men. Denn, wie der Anthro­po­lo­ge Hen­ri Van Lier uns erin­nert: „Ein Volu­men zu haben, bedeu­tet eigent­lich, eine gewis­se Beset­zung des Welt­raums zu errei­chen, eine Fähig­keit der Prä­senz zu ent­fal­ten und mit der umge­ben­den Lee­re in Ver­bin­dung zu tre­ten. So weni­ge Mani­fes­ta­tio­nen – wie etwa Skulp­tu­ren – offen­ba­ren eher die See­le einer Kul­tur oder eines Indi­vi­du­ums, wie die Bezie­hung, die sie zwi­schen dem Vol­len und dem Lee­ren, dem Sein und dem Nichts begrif­fen haben“

In die­sem Sin­ne und mit einer, gelin­de aus­ge­drückt, revo­lu­tio­nä­ren Wie­der­ent­de­ckung, oder die zumin­dest in einer kla­ren Gegen­ten­denz zu dem gegen­wär­ti­gen Füh­len steht, bemüht sich Hel­ga Vocken­hu­ber nun, der Skulp­tur wie­der jene Funk­ti­on zu ver­lei­hen, die sie in der schö­nen Stadt schon immer hat­te. Das heißt, die Funk­ti­on, eine unver­zicht­ba­re figür­li­che Ergän­zung sei­ner Archi­tek­tur zu sein. Ein vor­züg­li­cher sym­bo­li­scher Vek­tor gemein­sa­mer Wer­te. Eine sofor­ti­ge plas­ti­sche Dar­stel­lung des­sen, was gelebt, geträumt und geglaubt wur­de, durch­zieht die gesam­te kol­lek­ti­ve Vor­stel­lung. Hel­ga Vocken­hu­ber arbei­tet seit mehr als zwan­zig Jah­ren in der Tos­ka­na, um über die­se erstaun­li­che Kom­bi­na­ti­on von Skulp­tur und Archi­tek­tur in der Kon­zep­ti­on der „idea­len Stadt“, die sich zwi­schen dem Mit­tel­al­ter und der Renais­sance ent­wi­ckelt hat, zu medi­tie­ren. Bis zu dem Punkt, in Pie­tra­san­ta, Pien­za und Flo­renz eine begeis­tern­de Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen ihren leben­di­gen Figu­ren und der voll­kom­me­nen Rein­heit abso­lu­ter archi­tek­to­ni­scher For­men „ris­kie­ren“ zu wollen.

Mit dem Titel „Das Geschenk der Har­mo­nie“ ist bis­her einer der ori­gi­nells­ten Wan­der­aus­stel­lun­gen der letz­ten Jah­re ent­stan­den. Sicher­lich soll­te die „schö­ne Stadt“ immer noch in der Lage sein, jede neue Gene­ra­ti­on, deren Schick­sal es ist, sie zu durch­que­ren, zu ver­bin­den, in Ein­klang zu brin­gen und zum rich­ti­gen Ver­hält­nis zu erzie­hen. Und es war wirk­lich ein­zig­ar­tig, wie die Gespräch-Kon­fron­ta­ti­on, die sich zwi­schen der archi­tek­to­ni­schen Szen­o­gra­fie und die­sen majes­tä­ti­schen Skulp­tu­ren ent­wi­ckelt hat­te, von Mal zu Mal zu einem uner­war­te­ten Geheim­code der Har­mo­nie geführt hat. Es genüg­te tat­säch­lich, eine Schlüs­sel­skulp­tur von Hel­ga an einem stra­te­gi­schen Punkt der städ­ti­schen Struk­tur ein­zu­fü­gen, denn aus der Inter­ak­ti­on der poe­ti­schen See­le der vor­han­de­nen mit den neu­en For­men ent­sprang eine uner­war­te­te poe­ti­sche Bot­schaft von sel­te­ner Intensität.

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Er wurde in Viareggio geboren und studierte in Pisa und Grenoble. Er promovierte in Fremdliteratur und Moderner Literatur, ist Dichter und Kunstkritiker.Er verfasste Kritiken von über dreihundert italienischen und ausländischen Künstlern. Sein Interesse galt der schöpferischen Realität von Pietrasanta, dem internationalen Knotenpunkt der modernen und zeitgenössischen Skulptur.Er betreute zahlreiche Ausstellungen von Malerei und Skulptur in Italien und im Ausland (Rom, Prag, Paris,New York). Als Kenner der Kunst- und Handwerksgeschichte von Pietrasanta studierte er deren Entwicklung durch dieJahrhunderte, wobei nicht nur das 20. Jahrhundert im Mittelpunkt stand, sondern auch die Renaissance und insbesondere Michelangelos Aufenthalt in der Versilia zwischen 1518 und 1520.In seinem Werk Poetry of Sculpture (2012) versuchte er, die Gründe der Einzigartigkeit von Pietrasanta in der Bildhauerszene zu identifizieren. Darüber hinaus führte seine lange literarische Tätigkeit zur Veröffentlichung zahlreicher Gedichtsammlungen und er wirkte auch als Drehbuchautor.

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