Mediumistisches Zeichnen eines blinden Künstlers
Heinrich Nüsslein ist entweder einer der außergewöhnlichsten Künstler der Geschichte, oder aber ein äußerst raffinierter Schwindler. Seine Werke sind mehr als nur brisant. Heute ist dieser Mann jedoch buchstäblich von der Welt vergessen worden. Geboren am 20. April 1879 in Nürnberg und verstorben am 09. November 1947 in Ruhpolding, wird Nüsslein heute die Tätigkeit eines Malers, Kunsthändlers, Antiquars und Schriftstellers zugeschrieben. Nüsslein selbst bezeichnete sich als „psychischer Maler und metaphysischer Schriftsteller“.
Im Laufe seines Lebens fertigte Nüsslein über 1000 Kunstwerke an. Zu Zeiten des Nationalsozialismus wurden diese jedoch als „undeutsch“ deklariert und zunehmend entwendet bzw. vernichtet.
Doch was macht Nüsslein zu so einem außergewöhnlichen Künstler?
Eine vermeidliche Tatsache darf nicht außer Acht gelassen werden: Heinrich Nüsslein war blind. Der Grad seiner Blindheit ist jedoch umstritten. Der Nachlass seiner Sehkraft wäre demnach erst im Laufe seines Kunststudiums eingetreten, weshalb Nüsslein dieses abgebrochen hätte. Nüsslein entwickelte nach eigenen Angaben eine Technik, die es ihm ermöglichte in kürzester Zeit und unter den erschwerten Bedingungen seiner Sehschwäche, äußerst präzise und detailreiche Gemälde anzufertigen. Für ein Kunstwerk brauchte Nüsslein in der Regel durchschnittlich nur 15 Minuten. Zudem malte er stets in einem abgedunkeltem Raum, sodass selbst Außenstehende die Farben auf seiner Palette nicht unterscheiden konnten.
Begonnen hätte Nüsslein zunächst mit Versuchen des „automatischen Schreibens“. Dieses ist eine bekannte Technik, mit der Menschen im Trancezustand „übersinnliche Botschaften“ aus dem Jenseits erhalten wollen. Nüssleins Hand hätte problemlos verschiedene Mitteilungen in unterschiedlichen Schrifttypen erhalten und darstellen können. Doch aus der Schrift entwickelten sich schnell Figuren, Köpfe und Arabesken (Rankenornamente). Schon der große französische Lyriker Charles Baudelaire formulierte den Satz: „Die Arabeske ist die geistigste Zeichnung.“ Diese Technik des psychischen Zeichnens nannte Nüsslein „Bilderschreiben“.
Nüssleins Werke sind mitunter sehr religiös und spirituell in Szene gesetzt. Neben scheinbar biblischen Darstellungen finden sich auch Portraits von „Wesenheiten“ bzw. „Geistwesen“, Landschaften von fremden Planeten und Motive von versunkenen Völkern. Durch seine mediumistischen Fähigkeiten war Nüsslein der festen Überzeugung, dass beispielsweise der längst verstorbene Renaissancemaler Albrecht Dürer seine Hand beim Malen führen könne. Es ginge also grundsätzlich darum Botschaften aus anderen Welten zu empfangen und durch den eigenen Körper manifestieren zu lassen. Ausschlaggebend für Nüssleins Werke seien nicht sein körperliches Talent, sondern vielmehr der Kontakt zu einer übersinnlichen schöpferischen Kraft. Nicht Er male, sondern vielmehr Es. So gelangte Nüsslein auch in esoterischen Kreisen zu einiger Bekanntheit und erregte das Interesse so mancher Forscher.
Bald schon malte Nüsslein mit Öl und die „anfängliche Härte“ seiner Bilder verschwand, da er lernte sich der „äußeren Kraft“ unterzuordnen. Entgegen vieler Meinungen versinke Nüsslein beim Malen jedoch nicht in Trance, sondern ließe lediglich sein Unterbewusstsein hervortreten. Bei Versuchen sei er stets voll und ganz ansprechbar gewesen und hätte alle an ihn gerichtete Fragen beantworten können. Nüsslein wurde von mehreren Forschern auf seine Kunst hin untersucht.
Bei diesen Untersuchungen durch Dritte wurde unter anderem festgestellt, dass sich seine eigene Malerei von der in seinem metaphysischen Seelenzustande unterscheide. So schreibt H. W. Ehrngruber in einer okkulten Zeitschrift aus dem Jahre 1928: „Das dilettantisch Steife seiner eigenen Malerei steht im krassesten Gegensatz zu den lebenden, farbensprühenden Werken seiner Intuition. In seelischer Verbindung mit einer schöpferischen, außersinnlichen Kraft, die Zeit und Raum aufhebt, bringt dieser Maler eigenartige Porträts, fremde, von einem gewaltigen Rhythmus belegte Landschaften, Figurenkompositionen, Höllenstürze von allen Leidenschaften durchbrandet, Himmelsflüge von Aureolen verklärt und Äthergestalten, die die Räume durchschweben.“ Ein weiterer interessanter Punkt ist der, dass Nüsslein Gedichte und Musikstücke in Gemälde umsetzen konnte. Durch das Hören von Lyrik und Musik vermochte er diese Werke „seelisch zu erfühlen“ und das Wesentliche dieser Inhalte in der Malerei darzustellen.