Zur Genese einer Ausstellung und der Möglichmachung des Unmöglichen
Eine Retrospektive zu Gerhard Richter zu zeigen, ist eine unmögliche Angelegenheit. Viel zu weitläufig, zu heterogen und schlichtweg auch zu riesig ist dieses Werk, an dem Richter seit mehr als 60 Jahren konsequent arbeitet. Wenn das Bank Austria Kunstforum Wien sich nun den lange Jahre gehegten Wunsch einer Richter-Retrospektive erfüllen kann, dann – so war von Anfang an klar – wird diese Ausstellung sich ein Thema zum Anlass nehmen müssen, das in Richters Werk eine zentrale Rolle spielt. Das Thema „Landschaft“ ist für Gerhard Richter ein werkbestimmendes. Zu keinem anderen Sujet kehrt er seit 1963, dem Jahr, aus dem die erste Landschaft datiert, in einer derartigen Regelmäßigkeit und ungebrochenen Faszination immer wieder zurück. Es ist erstaunlich, dass sich der Ausstellungsbetrieb Gerhard Richters Landschaften nur ein einziges Mal, 1998/99 mit einer relativ kleinen, knapp 50 Ölgemälde umfassenden Ausstellung, die das Sprengel Museum in Hannover organisierte, annahm.
2020 hat sich nun scheinbar vieles verändert, auch unser Blick auf die Landschaft. Die weltweiten Lockdowns, welche das Coronavirus als Maßnahme mit sich gebracht hat, haben uns vor Augen geführt, wie sie ausschaut, eine „Welt ohne uns“ und uns vielleicht auch den Stellenwert von Natur und uns umgebender „Landschaft“ einmal mehr verdeutlicht. Die Pandemie hat, so wie alle Bereiche unseres Lebens, auch den internationalen Museums- und Ausstellungsbetrieb erschüttert, viele internationale Ausstellungsprojekte mussten aufgrund von nicht durchführbaren Transporten oder ausbleibenden Besucherzahlen abgesagt oder verschoben werden. Soviel zur Vorgeschichte und verblüffenden Aktualität einer Ausstellung, die ich bereits seit Frühling 2016 gemeinsam mit meinen Kollegen Hubertus Butin in Berlin und Cathérine Hug vom Kunsthaus Zürich vorbereite.
Allen Umständen zum Trotz hat sich das Kunstforum entschlossen, an seinem von langer Hand geplanten Ausstellungsprogramm festzuhalten, nicht zuletzt, weil der Künstler auch ein ganz besonders seltener Gast in der österreichischen Bundeshauptstadt ist: Gerhard Richter (geb. 1932 in Dresden, lebt und arbeitet in Köln) gilt als der bedeutendste lebende Maler der Welt. Er hat in unnachahmlicher Art und Weise der Malerei den Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert geebnet. Wie kaum ein anderes Sujet hat dabei die Landschaft Gerhard Richters künstlerisches Interesse gefesselt und ihn immer wieder zu neuen Bildlösungen angetrieben.
Richters Gesamtwerk ist unter anderem besonders für seine Heterogenität bekannt, die sich folgerichtig auch in der Bildgattung der Landschaft zeigt: Die Ausstellung gliedert sich in fünf thematische Kapitel, die einzeln, aber auch in ihrer Zusammenschau ein beeindruckendes Panorama von Richters Auseinandersetzung mit der Landschaft ergeben. Die Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken sind nicht direkt nach der Natur entstanden, sondern basieren meist auf fotografischen Vorlagen und sind somit „Landschaften aus zweiter Hand“, was sich an der Ausschnitthaftigkeit, an Unschärfeeffekten, mitunter auch an Schrift im Bild erkennen lässt. Landschaften mit tiefgezogenem Horizont und stimmungsvoller Atmosphäre rücken Richter in die Nähe der deutschen Romantik, auf die der Künstler zwar anspielt, aber der gegenüber er sich immer wieder auch kritisch-zweifelnd geäußert hat: Zu malen wie Caspar David Friedrich, so Richter, sei zwar möglich, aber nur ohne sich auf die geistige Tradition des Romantikers beziehen zu können. Als „Kuckuckseier“ bezeichnet Richter demnach jene romantisierenden Bilder, welchen in der Ausstellung ein ganzer Raum gewidmet ist. Ein weiterer Raum der Ausstellung betont die Wichtigkeit von Richters abstrahierten und abstrakten Landschaften für die Entwicklung seiner Malerei. Für dieses Kapitel der Ausstellung haben zahlreiche Bilder – unter anderem das monumentale, 6,8 Meter breite Gemälde St. Gallen – erstmals ihre öffentlichen und privaten Sammlungen verlassen. Konstruierte und manipulierte Landschaften – wie etwa Richters Seestücke, für die er oftmals die fotografischen Vorlagen von Wasser- und Himmelsfläche autonom und keinesfalls „wirklichkeitsgetreu“ wie eine Collage zusammensetzt – bilden einen weiteren Höhepunkt der Ausstellung. Zahlreiche überarbeitete Landschaften stehen am Ende der Schau: übermalte Fotografien, sowie Landschaftsgemälde, deren Realismus Richter mit abstrakten Farbstrukturen relativiert.
In den verschiedenen Kapiteln der Ausstellung geht es darum, Richters unglaublichen Variantenreichtum zu demonstrieren, mit dem er sich dem Thema „Landschaft“ nähert. Berge, Wiesen, Täler, Seestücke, Stadtlandschaften, Wüsten- und Wolkenbilder: Die Darstellungsweisen sind dabei so unterschiedlich wie die Motive selbst. Der Mensch bleibt ausgespart aus diesen Bildern, auch wenn er seine Spuren hinterlassen hat. Richter klagt in seinen Bildern jedoch keinesfalls zivilisationskritisch an. Vielmehr geht es darum, auf Unregelmäßigkeiten und Brüche aufmerksam zu machen: Ein eindeutiges Bild der Welt, so möchten uns Richters Landschaften vermitteln, ist nicht zu bestimmen. Die Mittel und Wege, die Richter anwendet, um Eindeutigkeit als Trugschluss zu entlarven, finden ihren unterschiedlichsten Ausdruck: Unschärfe, Gegenständlichkeit und Abstraktion (oft auf ein und derselben Leinwand), Konstruktion und Fiktion – in sämtlichen von Richters Landschaften sind „Bildstörungen“ zu entdecken, die der Rezeption der dargestellten Landschaft als Ideal entgegenwirken. Richters Landschaften sind selbstreferenziell, sie weisen stets auf ihren eigenen Status als Bildmedium hin und sind „Bilder über Bilder“, geben also eine medial vermittelte Wirklichkeit wieder. Sie offerieren uns als Betrachter*innen damit auch ein probates Mittel, um mit wesentlich mehr Skepsis auf die Bilder, die uns umgeben, zu blicken, als wir dies ohnehin schon tun. Gerhard Richters Malerei, und besonders seine Landschaften, bilden eine Art störrischen Widerstand gegen den verschwenderischen Umgang mit Bildern, den wir pflegen (Stichwort „Bilderflut“) und das Tempo unserer Zeit ganz generell und sind dabei, um mit Gerhard Richters Worten zu sprechen, schlichtweg auch „einfach schön“.
Der Weg, den wir in der Vorbereitung der Ausstellung zurückgelegt haben, war ein weiter und wechselvoller. Was im März fast ausgeschlossen schien, freut uns nun umso mehr: Die Ausstellung Gerhard Richter: Landschaft versammelt mehr als 130 Bilder, Zeichnungen, Druckgrafiken, Fotoarbeiten, Künstlerbücher und Objekte von 50 internationalen Leihgeber*innen und öffnet, unter Einhaltung sämtlicher „Spielregeln“, am 1. Oktober 2020 ihre Pforten für das Publikum. Eine Ausstellung analog besuchen zu können, wird, davon sind wir überzeugt, den digitalen „Besuch“ stets übertreffen, auch wenn das Coronavirus fraglos dem Museums- und Ausstellungsbetrieb einen digitalen Boost beschert hat, mit dem wir dieses und zukünftige Projekte fortan auch verstärkt unterstützen und begleiten können.
Gerhard Richter: Landschaft unterstreicht nun im Herbst 2020 im Bank Austria Kunstforum Wien die Wichtigkeit dieses Genres für den deutschen Künstler, der dieses Jahr seinen 88. Geburtstag gefeiert hat. Es ist die bis dato größte Ausstellung weltweit, die ausschließlich Gerhard Richters Landschaften gewidmet ist. Entstanden in enger Zusammenarbeit mit dem Atelier Gerhard Richter in Köln und durchgeführt in Kooperation mit dem Kunsthaus Zürich, ermöglicht die Ausstellung eine Begegnung mit Schlüsselwerken des Künstlers und erstmals einen retrospektiven Blick auf ein Genre, das Gerhard Richter 1981 so beschrieben hat: „Wenn die ‚Abstrakten Bilder‘ meine Realität zeigen, dann zeigen die Landschaften oder Stillleben meine Sehnsucht.“
Ausstellung: Gerhard Richter: Landschaft
bis zum 14.02.2021
Öffnungszeiten
täglich 10:00 – 19:00
Freitag 10:00 – 21:00
Bank Austria Kunstforum Wien
Freyung 8; 1010 WienAustria
T: (+43 1) 537 33 26
www.kunstforumwien.at