Die Ambivalenz von Individuum und Typus
Mit seiner Serie Protagonisten greift Georg Loewit ein großes Thema der Kunstgeschichte auf: das Porträt. Es ist ein Thema, das bis an den Beginn menschlicher Kulturtätigkeit zurückreicht. Mit dem bewussten Auflesen von Steinen, welche die Form eines Antlitzes hatten, begann vor hunderttausenden Jahren die Kunst. Was den Steinzeitmenschen diese objets trouvés bedeuteten, ist heute nicht mehr zu rekonstruieren, aber die Verwandlung dieser Natur- in Kulturobjekte durch eine bloße Intention ist faszinierend und lässt vermuten, dass sie als Zeichen für eine generelle Idee dienten.
Diese Vermutung wird bei der Kunst in den frühen Hochkulturen des Alten Orients zur Gewissheit. Der Altorientale stellte dar, was er dachte, nicht das, was er sah. Das Abbild des Pharaos war eine Manifestation der Idee des göttlichen Königtums, kein naturalistisches Abbild eines konkreten Königs. Spätestens seit damals bewegt sich die Porträtkunst in jener Ambivalenz von Naturalismus und dem Zeigen eines Typus, mit der Georg Loewit ausdrücklich spielt. Den Siegern der Zeus-Spiele in Olympia im antiken Griechenland stand eine Verewigung in Form von Bronze-Statuen zu. Dargestellt wurde aber nicht der konkrete Sportler, sondern der Typus: der Wagenlenker, der Diskuswerfer! Die Kouros-Figuren auf den Markplätzen der griechischen Städte wiederum zeigten im nackten männlichen Körper die jugendliche Kraft und Stärke des Stadtstaates. Es war ein Propagandabild der Eliten und stand dort als moralischer Leuchtturm einer ebenso tugendhaften wie selbstbewussten Stadt.
Auf der Klaviatur der Ambivalenz von Typus und Naturalismus spielte auch die römische Kunst. Das Bild half propagandistisch dem Kaiserkult, aber immer wieder, vor allem in der hellenistisch geprägten Spätantike, schob sich ein Naturalismus in den Typus, der das Konterfei des Kaisers identifizierbar machte, ohne ihn auf die Ebene eines gleichsam fotografischen Abbildes sinken zu lassen. Bei der aus kaiserlichem Porphyr gemeißelten Tetrarchen-Gruppe am Markusdom in Venedig haben die vier Kaiser und Unterkaiser das gleiche Gesicht. Dem Künstler ging es um das Prinzip der Tetrarchie als eines der Stabilität und der Eintracht und nicht um ein individuelles Porträt.
Es dauerte viele Jahrhunderte, bis sich in der Renaissance die Einsicht durchsetzte, dass die physiognomische Identität zu jedem Porträt gehörte und es, wie Dürer manchmal ausdrücklich anmerkte, ad vivam effigiem deliniata, als lebenstreues Abbild, gezeichnet wurde. Doch das barg wiederum die Gefahr, die Porträtkunst auf eine bloß mimetische Geschicklichkeit sinken zu lassen. Der Streit darüber, ob man im Porträt von der äußerlichen Ansicht auf das innere Wesen schließen könne und inwieweit sich in einem individuellen Abbild das Typische einer Person oder einer Personengruppe erschließen lässt, dauert bis heute und jeder Porträtist arbeitet in genau dieser Spannung.
In diese lange Geschichte des Porträts schreibt sich Georg Loewit ein und er bezieht mit dem Titel Protagonisten bereits eine klare Position. Das griechische Wort Protagonist bezeichnet ursprünglich jenen Schauspieler, der in einem Stück die erste Rolle spielt. Es handelt sich also um ein Individuum, das eine Rolle verkörpert, also für einen Typus steht. Loewit unterstreicht diese Spannung noch dadurch, dass er formal einen besonderen Akzent setzt. Er durchbricht die traditionelle en face- oder Profilansicht und zeigt seine Protagonisten von hinten. Er verzichtet auf das Gesicht und testet, ob man zur Verkörperung des Typus dieses benötigt.
Bei den Modellen seiner Bilder und Skulpturen handelt es sich um konkrete Individuen, denen er in Situationen wie sie die Leinwände dokumentieren, real begegnete und sie aus der Masse auswählte.
Aber sie werden ihm Vertreterinnen eines Typus und er stilisiert sie dazu durch die Eliminierung der Vorderseite ganz bewusst.
Es interessiert ihn nicht der „Schnappschuss“ eines konkreten Menschen, vermeintlich unbeobachtet ertappt, sondern es interessiert ihn das Typische der Badenden, des Touristen.
Wenn er die Figur gar auf einen Sockel stellt, wie man vor zweitausend Jahren den Olympiasieger auf den Sockel hob, dient das bei Loewit nicht mehr der Propaganda und Verehrung. Vielmehr kippt bei ihm derartige ironisierende Inthronisation in subtile Gesellschaftskritik. Loewit studiert die Veränderung, der Individuen unterliegen, wenn sie Teil einer Masse werden. Es sind künstlerische Analysen, die, ähnlich den soziologischen Untersuchungen Elias Canettis, das Verhältnis von Individuum, Masse und Macht thematisieren – stimmungsmäßig grundiert von Adornos Sehnsucht nach dem richtigen Leben im falschen.
Das Reisen, das Urlaub-Machen ist dafür ein dankbares Thema: für viele ein jährlich wiederkehrendes Ritual eines Ausnahmezustandes, denn in Wirklichkeit ist niemand mit diesem kurzzeitigen Leben im Jahreslauf vertraut. Der Künstler wird zu einem ebenso sorgfältigen wie unerbittlichen Beobachter, wenn die Masse sich in der Pflege von Idylle und stereotypen Klischees verliert, die Urlauber erleben und Anbieter verkaufen wollen. Auch wenn die Leinwände geradezu zu Protokollen solcher einschlägiger Analysen werden, ist die Pointe solcher Kunst nicht Belehrung oder der Gestus moralischer Überlegenheit. Aber sie erteilt, wie es Kunst immer für sich beanspruchen durfte, Lektionen zur Sensibilisierung der Wahrnehmung. Loewits Protagonisten, die ihrerseits bereits Station bei Ausstellungen im Innsbrucker Dom, in Genf, Kluisbergen, Den Haag und Prag gemacht haben, beziehen anlässlich der Biennale einen Raum im Palazzo Bembo am Canale Grande in Venedig. In den Giardini Marinaressa steht die große Figur aus Aluminium, „Kalterer See“, eine üppige Frau mit voluminösem Schwimmreifen. Die Dame fokussiert geradezu exemplarisch die transkulturelle Internationale des Massentourismus. Sie setzt mit ihrem unförmigen Rettungsring aber auch ein Ausrufezeichen für das bedrohte Juwel der Weltkultur: Venedig.
Durch den scheinbaren Ausfall der Schauseite verstören Loewits Figuren und sie brechen mit einem kanonischen Prinzip der bildenden Kunst. Der Manierist Benvenuto Cellini war einer der ersten, der in der Renaissance die Allansichtigkeit der Skulptur zu einem wichtigen Qualitätsmerkmal machte. Er holte die Figur gleichsam aus den Nischen der mittelalterlichen Fassaden und stellte sie – wie bereits in der Antike – mitten in den Raum, sodass sie der Betrachtung von allen Seiten standhalten musste. Für Loewits Figuren scheint das nicht mehr zu gelten. In Wahrheit spielt er aber weniger mit der Figur als mit dem Raum, den sich die Figur seit der Renaissance erobert hat. Der Raum der Vorderseite ist unbestimmt, er bleibt offen, was die Betrachter überrascht und Wahrnehmung und Urteilskraft herausfordert. Wie eine Synkope erzeugt diese vermeintliche Fehlstelle einen Sprung in der Wahrnehmung, der uns um die erwartete Fortsetzung der erzählten Geschichte zu betrügen scheint und unsere Phantasie auffordert, die Leerstelle zu ergänzen, die Skulptur damit in Besitz zu nehmen, sie mit unseren eigenen Erfahrungen zu füllen. Dass sich das Sujet des Touristen dafür besonders eignet, ergibt sich nicht zuletzt aus der Manie der neuen Handy-Kultur, die Welt pausenlos abzufotografieren, sie damit in einem doppelten Blick zu erleben. Es scheint, dass die moderne Gesellschaft die Geborgenheit in der digitalen Medialität erlebt und die Authentizität des Realen eher als Bedrohung empfindet. Dem setzt Loewit die alten handgreiflichen Materialien entgegen.
Passt Papier und Leinwand zum Protokollarischen, zitiert Bronze Endgültigkeit, während Holz den Blick auf die innere Struktur ermöglicht und Lebendigkeit konnotiert. Aluminium wiederum ist das Material der modernen Welt. Es lässt die Objekte in einem strahlenden Glanz erscheinen, mehr im Glanz der Industrie- und Massenkultur als in dem archaischer Konnotationen, wie man ihn früher in poliertem Stein und in Edelmetallen umgesetzt hat. Es ist nicht zuletzt dieses Haptische des konkreten Materials, das die Schärfung der Wahrnehmung für das konkrete Individuum an einer Darstellung des Typischen erleben lässt.