Gartner & Gartner

Bewegte Räume, bewegte Körper, bewegte Zeiten

Hans­jür­gen und Joa­chim-Lothar Gart­ner kamen kurz vor Kriegs­en­de im April 1945 in Böh­men als ein­ei­ige Zwil­lin­ge zur Welt. Kur­ze Zeit spä­ter wur­den sie ver­trie­ben und gelang­ten schließ­lich mit ihrer Mut­ter über ver­schie­de­ne Auf­fang­la­ger Ende 1949 nach Wien. Hier tauch­ten sie dann nicht zuletzt auch auf­grund des Enga­ge­ments des Vaters früh­zei­tig in die Welt der Kunst ein – ein obli­ga­to­ri­scher sonn­täg­li­cher Spa­zier­gang durch das Kunst­his­to­ri­sche Muse­um stand regel­mä­ßig auf dem Pro­gramm. Bei­de stu­dier­ten Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jah­re Tex­til­de­sign in Wien und über­sie­del­ten 1965 nach Augs­burg. Im gemein­sa­men Ate­lier im Hol­bein-Haus, dem ehe­ma­li­gen Wohn­haus der Künst­ler­fa­mi­lie Hol­bein, die um das Jahr 1500 dort wirk­te, ver­ab­schie­de­ten sie sich in einer Art Befrei­ungs­akt von ihrer Mal­wei­se des Phan­tas­ti­schen Rea­lis­mus, die sich aus dem Sur­rea­lis­mus ent­wi­ckelt hat­te und der man in Wien kaum ent­kom­men konn­te. Die Brü­der schau­ten sich gegen­sei­tig über die Schul­ter, eta­blier­ten sich ins­be­son­de­re in Deutsch­land als Bil­den­de Künst­ler, stell­ten immer wie­der zusam­men aus und ent­wi­ckel­ten gemein­sa­me Projekte.

1989 ging Joa­chim-Lothar nach Wien zurück, um an der Höhe­ren Bun­des­lehr­an­stalt für Tex­til­in­dus­trie in der Abtei­lung Kunst und Design zu unter­rich­ten. Die Gart­ners lös­ten sich nicht nur ört­lich, son­dern zwangs­läu­fig auch künst­le­risch von­ein­an­der, wobei auch heu­te noch Par­al­le­len und Ver­wandt­schaf­ten im künst­le­ri­schen Tun fest­zu­stel­len sind und die Wer­ke ein­an­der inhalt­lich wie auch for­mal ergän­zen, so unter­schied­lich die Arbei­ten der Brü­der in der visu­el­len Anmu­tung auch sein mögen. Joa­chim-Lothars Weg führ­te in die Unge­gen­ständ­lich­keit und Geo­me­trie, Hans­jür­gen blieb der Mehr­deu­tig­keit der mensch­li­chen Figur verbunden.

Der let­tisch-ame­ri­ka­ni­sche Maler des Abs­trak­ten Expres­sio­nis­mus und Weg­be­rei­ter der Farb­feld­ma­le­rei, Mark Roth­ko, war der Auf­fas­sung, dass Bil­der geheim­nis­voll sein müs­sen. Roth­ko hat in der Male­rei immer mehr gese­hen als nur Bil­der. Über eine sei­ner Wand­ma­le­rei­en, die er als Innen­raum­ge­stal­tung eines Medi­ta­ti­ons­rau­mes geschaf­fen hat­te, sag­te er: „They are not pic­tures. I have made a place.“ Das sind kei­ne Bil­der. Ich habe einen Ort geschaffen.

Die Male­rei­en von Hans­jür­gen und Joa­chim-Lothar Gart­ner ori­en­tie­ren sich wie Roth­kos Arbei­ten auch an der Ent­ste­hung visu­el­ler Orte. Ihre Male­rei geht weit über ein blo­ßes Bil­der­ma­chen hin­aus. Auf unter­schied­li­che Arten und Wei­sen und in einem jeweils indi­vi­du­el­len Stil schaf­fen sie einer­seits Orte der Kon­tem­pla­ti­on und Trans­pa­renz, Orte der Ent­schleu­ni­gung und Zurück­ge­zo­gen­heit, ande­rer­seits auch Orte der Dyna­mik, Ver­dich­tung und Konzentration.

Por­trät Hans­jür­gen Gartner
Por­trät Joa­chim-Lothar Gartner

Die von Hans­jür­gen grund­sätz­lich im Hoch­for­mat gesetz­ten Figu­ren refe­rie­ren auf den mensch­li­chen Leib und zei­gen Kör­per­haf­tes im Ver­ti­ka­len. Mit­te der 1980er Jah­re legt der Künst­ler erst­ma­lig Stif­te und Pin­sel zur Sei­te, um unter Ver­wen­dung von Asche, Ruß und Gra­fit­staub direkt mit den Hän­den Men­schen­dar­stel­lun­gen ent­ste­hen zu las­sen. Zu Beginn der 1990er Jah­re lösen dann die „Kör­per­frot­ta­gen“ die vor­an­ge­hen­den Arbei­ten ab, in denen Hans­jür­gen nun als eine Art Regis­seur agiert. Mit den Frot­ta­gen knüpft Hans­jür­gen an die Tech­nik des Action Pain­ting an, in der Künst­ler gene­rell den Pro­zess der Bild­ge­stal­tung einem geplan­ten Zufall über­lie­ßen. Hans­jür­gens Model­le neh­men lie­gend zuvor lose auf­ge­tra­ge­ne Pig­ment­schich­ten mit ihrem Kör­per vom Bild­trä­ger ab und hin­ter­las­sen durch ihr Gewicht und die aus­ge­führ­ten Bewe­gun­gen einen nega­ti­ven Figur­ab­druck. Der dyna­mi­sche Kör­per­ein­satz der Model­le erfüllt inner­halb einer rela­tiv kur­zen Zeit­span­ne das Medi­um des Pin­sels und den Gegen­satz zur Gemäch­lich­keit des Malens. Der Mensch wird nun im her­kömm­li­chen Sin­ne nicht mehr male­risch abge­bil­det, son­dern hin­ter­lässt sei­ne indi­vi­du­el­le authen­ti­sche Spur. Auch posi­ti­ve Frot­ta­gen ent­ste­hen, indem die Kör­per der Model­le den Anwei­sun­gen des Künst­lers ent­spre­chend farb­lich prä­pa­riert wer­den und in einem zwei­ten Schritt über ihre Haut­ober­flä­che die Abdrü­cke auf die am Boden lie­gen­den Bild­trä­ger übertragen.

Ab dem Jahr 2000 ent­ste­hen Arbei­ten mit stark ver­dünn­ter wei­ßer Far­be auf schwar­zem Kar­ton. Die wei­ßen Par­tien bestehen aus zahl­rei­chen Fuß­ab­drü­cken des Künst­lers, die mensch­li­che Extre­mi­tä­ten, Tor­si oder auch gan­ze Figu­ren for­men. Die Titel „Bege­hun­gen“ und „Auf dem Weg“ impli­zie­ren Bewe­gung und den Wunsch nach Ver­än­de­rung im künst­le­ri­schen Aus­druck. Nach dem kör­per­li­chen Agie­ren der Model­le in den „Kör­per­frot­ta­gen“ bringt sich Hans­jür­gen durch bar­fü­ßi­ges Bege­hen der Kar­tons und Lein­wän­de nun wie­der selbst ins Bild und prägt durch sei­ne phy­si­sche Bewe­gung maß­geb­lich den Ent­ste­hungs­pro­zess der Wer­ke. „Unse­re Füße tra­gen uns schließ­lich durch das Leben“, kon­sta­tiert der Künst­ler im Gespräch und ver­weist auf Begrif­fe wie Kör­per­lich­keit und Bewe­gung. In vie­len lasie­ren­den Schich­ten und Hell-dun­kel-Abstu­fun­gen erzielt der Künst­ler auf die­sem Weg dif­fu­se pul­sie­ren­de Struk­tu­ren, die neben der Tie­fen­räum­lich­keit zwi­schen Figu­ra­ti­on und einer eph­eme­ren Unge­gen­ständ­lich­keit ste­hen und vie­le Inter­pre­ta­tio­nen zulas­sen. Das Sta­ti­sche eines Bild­mo­tivs wird durch das zum Teil tur­bu­len­te Trei­ben der Fuß­soh­len­ab­drü­cke zuguns­ten einer medi­ta­tiv anmu­ten­den schein­ba­ren Bewe­gung abgelöst.

Nie zuvor waren Men­schen einer der­ar­ti­gen Schnell­le­big­keit aus­ge­setzt, wie es in unse­rer heu­ti­gen digi­ta­li­sier­ten Welt der Fall ist. Schon in den 1980er Jah­ren ging es vie­len Zeit­ge­nos­sen dar­um, schnel­ler, wei­ter oder bes­ser zu sein und dabei die zur Ver­fü­gung ste­hen­de Zeit mög­lichst effek­tiv zu nut­zen. Hek­tik und über­trie­be­ner Aktio­nis­mus durch­drin­gen unse­ren All­tag in Arbeit und Frei­zeit immer mehr, belas­ten zuneh­mend vie­le Men­schen und füh­ren oft zu Erschöp­fung und Depres­si­on. Joa­chim-Lothar Gart­ner setzt als „Gegen­pol zum Begriff ‚high­speed‘ die Ent­schleu­ni­gung“ und lässt den „Zeit­fak­tor (in)direkt zu einem wesent­li­chen Ele­ment des Gestal­tungs­pro­zes­ses“ sei­ner künst­le­ri­schen Arbeit wer­den, wie der Künst­ler in einem kur­zen State­ment erläutert.

So, wie die Tech­nik der Lasur und die Behand­lung der Far­be für Hans­jür­gen sehr wich­tig sind, so ist die Fas­zi­na­ti­on von Ober­flä­chen auch für Joa­chim-Lothar eine ganz beson­de­re. Dezi­diert möch­te er Ober­flä­che mit Ober­fläch­lich­keit nicht ver­wech­selt wis­sen. Der Künst­ler spricht in die­sem Kon­text von einer Haut, von leicht pas­to­sen Tex­tur­häu­ten, die er auch teil­wei­se col­la­ge­ar­tig auf sei­ne Bild­trä­ger legt.

Wäh­rend sich Hans­jür­gen oft­mals auf­grund der orga­ni­schen Faser­struk­tur für das Trä­ger­ma­te­ri­al Papier ent­schei­det, arbei­tet Joa­chim-Lothar auch auf Polys­te­rol oder Alu­mi­ni­um. Stan­den Ende der 1980er Jah­re noch tachis­tisch anmu­ten­de Land­schafts­bild­nis­se und die soge­nann­ten „Vege­ta­ti­ons­bil­der“ im Vor­der­grund, ver­wen­det der Künst­ler bereits seit vie­len Jah­ren indus­tri­ell gefer­tig­te Mate­ria­li­en, die zum Bei­spiel in Bau­märk­ten zu fin­den sind. Als Scha­blo­nen kön­nen auch Gum­mi­mat­ten und Git­ter aller Art zum Ein­satz kom­men. Als Schlüs­sel­er­leb­nis hat Joa­chim-Lothar das Arbei­ten mit Mus­ter­wal­zen und Loch­wal­zen in Erin­ne­rung. Im Unter­schied zur klas­si­schen Misch­tech­nik und Ölla­sur des ein­gangs erwähn­ten Phan­tas­ti­schen Rea­lis­mus, die mit zahl­rei­chen Trock­nungs­pha­sen eine zeit­lich nicht zu unter­schät­zen­de Dimen­si­on dar­stel­len, konn­te Joa­chim-Lothar nun mit weni­gen Schich­ten von schnell trock­nen­den Pri­mer­far­ben sei­ne Arbei­ten fer­tig­stel­len. Die Dif­fi­zi­li­tät die­ser Art zu malen ist, dass die Wal­ze exakt ange­setzt und mit einer ruhi­gen gleich­blei­ben­den Bewe­gung über zum Teil gro­ße Stre­cken sehr kon­zen­triert geführt wer­den muss, da kei­ne Kor­rek­tur mög­lich ist. Der Gestal­tungs­pro­zess kommt einer medi­ta­ti­ven Arbeit gleich, wie wir sie aus der japa­ni­schen oder chi­ne­si­schen Tusch­ma­le­rei ken­nen. Eben­so wie in den lasie­ren­den Schich­ten des Bru­ders geht es in den gewalz­ten Arbei­ten von Joa­chim-Lothar eben­falls um Tie­fen­räum­lich­keit und Flä­che, um Rhyth­mik und die Wir­kung von Licht und Schat­ten in der Tex­tur des pas­to­sen Farb­auf­trags. Ganz anders aller­dings als in den wei­ter oben beschrie­be­nen leb­haf­ten „Kör­per­frot­ta­gen“ und „Bege­hun­gen“ nimmt Joa­chim-Lothar durch einen exakt gesteu­er­ten künst­le­ri­schen Pro­zess die schnel­le und nach­voll­zieh­ba­re Bewe­gung aus dem Bild her­aus. Die Ent­ste­hung eines sol­chen geo­me­trisch auf­ge­bau­ten Bil­des setzt in men­ta­ler Hin­sicht eine Samm­lung und Besin­nung vor­aus. Die­se Bil­der ent­ste­hen in rela­tiv lang­sa­men Bewe­gun­gen und wach­sen wie ein Orga­nis­mus. Obgleich das opti­sche Schwin­gen und Vibrie­ren der Flä­chen aus Punkt­ras­tern und Lini­en­git­tern unse­re Seh­ge­wohn­hei­ten im ers­ten Moment irri­tie­ren, sind sie den­noch sta­tisch, bie­ten Ruhe und ste­hen für ein Innehalten.

Eine Beson­der­heit inner­halb Joa­chim-Lothars OEu­vre stel­len sei­ne drei­di­men­sio­na­len, aus geo­me­tri­schen Kör­pern bestehen­den Plas­ti­ken wie das „Trans­forming Object-Hexa­go­nal“ dar. Beim Ein­neh­men ver­schie­de­ner Per­spek­ti­ven kann der Kunst­in­ter­es­sier­te die Kan­ten der Kör­per auf­grund einer aus­ge­klü­gel­ten Ober­flä­chen­ge­stal­tung kaum mehr wahr­neh­men. Zwei oder mehr Sei­ten­flä­chen ent­wi­ckeln sich schein­bar zu einer durch­ge­hen­den Flä­chen­struk­tur, die sich im Moment der phy­si­schen Bewe­gung wie­der zuguns­ten des Drei­di­men­sio­na­len auf­löst bezie­hungs­wei­se trans­for­miert. Joa­chim-Lothar tariert in die­sen Arbei­ten die Wech­sel­be­zie­hung zwi­schen Raum und Flä­che akri­bisch aus. Die geo­me­tri­schen Kör­per wer­den unter bestimm­ten Ansich­ten zwei­di­men­sio­nal wahr­ge­nom­men und wer­fen Fra­gen nach ima­gi­nä­ren und vir­tu­el­len Räu­men auf. Für das Beob­ach­ten und Erfas­sen die­ser spe­zi­el­len opti­schen Phä­no­me­ne müs­sen wir uns Zeit neh­men, denn hier geht es gleich­sam um des­sen Erken­nen. Der Anspruch des Künst­lers, dem Begriff der Ent­schleu­ni­gung Gewicht zu ver­lei­hen, erfüllt sich in die­sen Wer­ken in hohem Maße, sind wir doch auf­ge­for­dert, uns lan­ge und lang­sam vor den geo­me­tri­schen Kör­pern zu bewe­gen, um schließ­lich in den Genuss der ver­meint­li­chen Flä­chig­keit zu gelan­gen. Doch Vor­sicht! Das Iden­ti­fi­zie­ren und opti­sche Fest­hal­ten der fla­chen Ebe­ne kann bereits durch eine mini­ma­le Bewe­gung sein visu­el­les Ende fin­den. Es beginnt nun eine wei­te­re vor­sich­ti­ge Suche nach neu­en Blick­win­keln und geo­me­tri­schen Span­nun­gen inner­halb des Wech­sel­spiels der Zwei- und Drei­di­men­sio­na­li­tät von Joa­chim-Lothars Bildkörpern.

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Er wurde 1964 in Kamen in Deutschland geboren und lebt in Pressbaum bei Wien. Er absolvierte ein Studium der Kunstgeschichte, der Kunst, der Europäischen Ethnologie und Kulturwissenschaften an den Universitäten Marburg/Lahn und Wien sowie Museums- und Ausstellungswesen am Institut für Kulturwissenschaft Wien. 1994 – 2000 konzentrierte er sich auf die Edgar Ende-Stiftung München und 2002 – 2009 war er künstlerischer Leiter der Factory Krems und Kurator der Kunsthalle Krems, zudem Leiter des Artist-In Residence Programms der Abteilung Kultur und Wissenschaft des Landes Niederösterreich. Seit 2010 arbeitet er als Kunsthistoriker, freier Kurator, Autor und Herausgeber für verschiedene Museen, Galerien, Ausstellungshäuser, Verlage und Zeitschriften.

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