Wo der Blick eines Künstlers hinfällt
BEYOND BORDERS ist der nichtexistente Ort, den die neue Ausgabe von stayinart zu erreichen versucht. Jenseits der Grenzen. Was bedeutet das? Einen Übergang, eine Grenze, eine Barriere überwinden? Über das bereits Bekannte hinausgehen oder die Grenzen der eigenen Person überschreiten? Grenzen. Ein Konzept, das so weit gefasst ist, dass es die jahrtausendelange Ge-schichte des Menschen durchzogen hat, die Dynamik seines Aufenthalts auf der Erde bestimmt hat und Verfahren aller Art geprägt hat: geographische, anthropologische, soziale, kulturelle und psychische. Im Laufe der Jahrhunderte hat das Konzept der Grenze die Existenz des menschlichen Lebens bestimmt. Die Geburt der Völker, die Entstehung von Ländern und leider auch die Eroberungen und Kriege sind durchdrungen von der Philosophie der Grenze, sodass diese Linie, die das Schicksal der ganzen Welt verändern kann, greifbar wird. Und auch im übertragenen Sinne ist das Überschreiten oder Überwinden einer Grenze der Knotenpunkt der Veränderung einer Bedingung, einer Möglichkeit einer Erkenntnis oder menschlichen Handelns, ja, um ihren intrinsischen Gradienten zu definieren. Die Grenze ist zugleich Ort und nichtexistenter Ort und erzeugt natürlich auch einen Übergang in der Konstellation der Kunst, die eher als philosophischer denn als ästhetischer Inhalt verstanden wird. Welchen Platz haben also Künstler auf dem Schachbrett der Grenzen? Überschreiten sie sie? Verbleiben sie innerhalb der Grenzlinien? Betrachten sie die Grenze und wählen die Barriere als Feder für eine ideale und tatsächliche Überwindung?
Eine Frage, die sich der Künstler Fabio Ricciardiello, Fotograf, Grafiker und Bildhauer, gebürtiger Neapolitaner und Mailänder durch Adoption, der durch die Pluralität der Sprachen, die zu seiner ausdrucksstarken Grammatik gehören, die Grenze als eine zu überschreitende, zu überwinden-de oder gar zu verwischende Begrenzung definiert. Jedes seiner Projekte, ob kurz- oder langfristig, wird von der Möglichkeit angetrieben, sich selbst zu verwandeln oder in etwas anderes zu übersetzen, als fotografische Aufnahme geboren zu werden und eine skulpturale Erzählung zu schaffen, als skulpturales Experiment zu entstehen und sich in ein Videowerk zu verwandeln oder einer Collage Leben einzuhauchen, ein Beispiel einer phantasievollen, symbolischen und kreativen Ästhetik des Andersseins – wie es sich in den Tagen der Realisierung dieses Schwerpunkts ereignete, in denen das Projekt MonoMentale auf dem VinArte-Festival in Süditalien zu sehen war. Und es wird auch und vor allem in der Dimension der Geschichte, auf die Ricciardiellos Poesie besteht, eine unglaubliche Entmaterialisierung der Realität aktiviert, um idealerweise eine neue Identität zu bieten: Orte des Geistes und der Wahrnehmung sind tatsächlich bewusst dazu gedacht, eine Geographie mit einem völlig intimen Inneren aber voller universeller Gegenseitigkeit zu definieren. Indem Fabio Ricciardiello die Synapsen des unbewussten Freiheitsdrangs mit denen des mnemonischen Traumuniversums abwechselt, baut er durch ein zusammengesetztes Idiom eine Welt auf, die vom Leben mäeutisch inspiriert wird und in der Lage ist, den Rand zu zeichnen, von dem aus auf der vergänglichen Linie des Sinnlichen, des Erlebten und des Unbekannten Fragen gestellt und Antworten ausprobiert werden können. Um diesen Schwebezustand zu erzählen, der die Grenze zum Ausgangspunkt macht, hat Fabio Ricciardiello im Laufe seiner Karriere verschiedene Forschungsmethoden gewählt. Tatsächlich werden wir hier seinen Atlas, ontologische Spuren, die umgewandelt und in drei Projekte übersetzt wurden, die eine »modellierte Niederschrift des Hier und Jetzt« sind, zusammen auf drei Wegen entdecken.
Die Kunst von Fabio Ricciardiello besteht als Reise aus einer geschichteten Kartierung von Verführungen von Orten der Realität, um auf wolkenlose Weise in der Dimension des Traums und des Surrealen Wurzeln zu schlagen, wobei jedes Dogma der fotografischen Wahrheit, jede Gewissheit auf die Geographie der Präsenz weggeworfen wird. Wie ein Odysseus der Neuzeit durchstreifen sein Verstand, seine Augen und sein Ziel Tausende von Kilometern, wandern dahin, wo sich Menschen zusammendrängen oder wo menschliche Präsenz im Wesentlichen abwesend ist. Die Landschaften, die er porträtiert, können das Raster der Leinwand und des Objektivs kaum ertragen und oft wer-den sogar Ländereien, Himmel und Meere zu Anlandungen, aber auch zu einem Hafen und Lieblingsausgangspunkt. Kann also aus einer durch eine Kamera vermittelten Beobachtung ein Ort ohne Grenzen werden? Wie kann dies geschehen, während die Regeln der Chemie, Physik und Geometrie betont werden? Dies geschieht auch, wenn Fabio Ricciardiello mit der Verarbeitung von Keramik experimentiert und die Eigenschaften des Materials selbst weit über jede denkbare Alchemie hinaus entwickelt und vorantreibt. Auf diese Weise verändert sich das Konzept der Anschauung und Perspektive des Möglichen und wird so weit aufgebrochen, dass neue Ursprünge zum Leben erweckt werden.
Welches Material auch immer der italienische Künstler als ausdrucksstarke Synthesen wählt, es eignet sich für eine Entwicklung und Ausarbeitung beispielloser Formen emotionaler und wahrnehmungsbezogener Instrumentierung; die Umsetzung einer Arbeit, die Inszenierung eines Projekts repräsentiert und definiert eine Begegnungserfahrung mit intimen Ereignissen, Überlegungen, die aus der Beziehung zur Realität stammen, aus der sie durch eine Art mysteriösen Kunstgriff fliehen, um einen anderen Ort kennen-zulernen, der verfremdend und das Ergebnis eines unerklärlichen Zaubers ist. So entstand 2020 eines der Projekte, das am besten zeigt, wie sehr Ricciardiello der Grenze die Rolle ei-ner Feder und nicht einer Barriere anvertraut: Wo du nicht bist. In dem Konzept, das als Incipit für die fotografische Erzählung und die Konstruktion des Projekts fungiert, führt Ricciardiello den Betrachter zur Auseinandersetzung mit einem Eingeständnis hin: »WO DU NICHT BIST ist mein Geständnis nach 20 Jahren der Untätigkeit. Diese Wochen haben mich an die Wand gedrängt, mein Arbeitsplatz hat sich in einen kalten Metallstuhl verwandelt, das Licht des Monitors in eine Fortsetzung einer Lampe in meinem Gesicht und meine Fotos in einen Schrei, der mich zur Beichte drängte. Dieses Eingeständnis, dieses Abschminken ist mein Plot-Twist. Es war alles falsch, außer dem, was ich erzählen wollte.« […] »Im März 2020 sollte ich, wie viele andere auch, eine Reihe von Leuten treffen, um neue Projekte zu starten, andere umzusetzen und neue Bekanntschaften zu machen. In der Unmöglichkeit eines engen Kontakts aufgrund der Einschränkungen aufgrund des Gesundheitsnotfalls habe ich mich dazu entschieden, ein von mir ausgewähltes Foto aus denen, die Teil des Projekts »Wo du nicht bist« sind, zu schicken, als wäre es eine Postkarte, die eine Einladung zu reisen ist, und den Empfänger um einen Eindruck von dem, was er erhalten hat, zu bitten. Die Botschaften, die erhaltenen Eindrücke sind zu einer Art Text geworden, der das Projekt begleitet. Ich bedanke mich aufrichtig bei Azzurra Immediato, Irene Biolchini, Marina Dacci, Claudio Composti, Luigi Codemo und Giovanni Gardini, die mit ihren »Eindrücken« diese in kürzester Zeit errichtete Brücke überquert haben, um meine Umarmung zu erwidern.«
Es ist durch diese Worte, dass Wo du nicht bist in See gestochen ist, während jeder Tag eine Grenze und eine Barriere war und das Leben selbst die Grenze gegen die Pandemie war. Ricciardiello ist es gelungen, das entfremdende Gefühl, gefangen zu sein, in einen optimalen und bevorzugten Blickwinkel zu verwandeln, um die Augen, den Geist und die Seele zu neuen Erkenntnissen und neuen Landschaften zu lenken. Wir diskutierten einige Tage lang über diese Ideen und als ich »mein« Fotoexemplar erhielt, konnte ich nicht anders, als zur Tastatur zu rennen und zu schreiben: »Lieber Fabio, deine »Postkarte« zu bekommen ist wie eine Rückkehr ins Leben. Ein Blick in die Vergangenheit und eine schüchterne Herangehensweise an das, was wir später sehen werden. Die Aufnahme von Laax beruhigt mein Gemüt in diesen bilderreichen Tagen und bringt die Ruhe des Ausblicks, die Schönheit der Stille und die verschneite Wahrnehmung eines Ortes zurück, von dem ich weiß, dass er dir lieb ist. Wo ich nicht war, bin ich jetzt, wohin du, der Künstler, mich gebracht hast. Wo ich nicht war, bin ich jetzt, wohin du, der Künstler, mich gebracht hast. Trotzdem enthält diese intime Aufnahme, auch wenn sie nicht von jener Unermesslichkeit der Perspektive durchdrungen ist, die oft aus deinen Spannungen gegenüber dem Unendlichen hervorgeht, etwas dramatisch Prophetisches. Die Kristallisation, die du kultiviert hast, die fast abstrakte Ruhe, um die Unterbrechung des Spiels zu markieren, die Stimmung einer leblosen Marionette aufzuzeigen, jetzt eine Metapher für unsere Menschlichkeit, zeichnet einen verstörenden Pfad der Entfremdung nach, der uns zum Nachdenken bringen muss. Ich war noch nicht da, aber seht, ich bin jetzt hier in der künstlerischen Fiktion und in der künstlerischen Wahrheit. Hier ist also die Verschmelzung/-wechslung von drei Begriffen, Gedächtnis | Materie | Fotografie | über die ich nachdenke und mit der ich nicht eiligen Schrittes in der Erinnerung, die die Materie braucht, um die heute so kostbare Vergangenheit begreifen zu können, einhergehe, um die so verhasste Gegenwart zu zerreißen und die Zukunft zu begründen. In diesem Bedürfnis nach Greifbarkeit wird deine Fotografie gleichzeitig zu einem kreativen und kognitiven Vektor, der die Form des Wesentlichen innehat. Die Erinnerung und Sehnsucht nach der Zukunft. Heute sind wir es nicht, aber ich weiß, dass wir es später sein werden.«
Wenn Wo du nicht bist, im Chor und in der mehrfachen Nachempfindung eine kollektive Geographie geschaffen hat, die jede Vorstellung von kreativen, geographischen, physischen und emotionalen Grenzen und Begrenzungen pulverisiert hat, wird der Weg für eine wiederkehrende Absicht in der Arbeit von Ricciardiello, auch rückwirkend, geebnet: Grenzüberschreitung. Zwischen 2015 und 2018 hat der Künstler einem hypervisionären Projekt Gestalt verliehen, indem er das Medium wechselte und einen Vorstoß in der Keramikskulptur machte: Die möglichen Routen; »Eine Geste der Hoffnung, die sich für einige Momente materialisiert, die Verschönerung eines Details, das ist es, was Sie mit dem Auge sehen, und Sie dazu bringt, Ihren Blick zuzuwenden.« Ein symbolisches Bötchen, eine Erinnerung an Kindheitsspiele und ‑fantasien, die zur Skulptur geworden ist, lassen uns plötzlich begreifen, was als Erinnerung oder Traum schwer fassbar schien. Damit hat der Künstler die Ketten der Grenze zwischen Materialien, zwischen dem ideellen Objekt und dem realen Subjekt durchbrochen, indem er nach den Regeln eines leidenschaftlichen ikonischen und phantastischen Wegs spielt. Indem er auf dieser Grundlage vorgedrungen ist, hat Ricciardiello – sowohl instinktiv als auch mäeutisch – be-schlossen, vermeintliche und vorurteilsbedingte Grenzen dank des Beitrags einer faszinierenden und bewundernswerten semantischen Praxis zu überschreiten und den Vektor der Forschung und Konstruktion eines Projekts zu verlassen. Dies ist der Fall bei USA/MI Project: Die Mischung aus den Akronymen für Mailand (Milano) – der Stadt, in der er lebt und arbeitet – und für die Vereinigten Staaten hat eine erstaunliche und faszinierende Karte zum Leben erweckt, die in der Vereinigung der Perspektiven von zwei Hemisphären auf amerikanischem Boden Orte zum Vorschein gebracht hat, die noch beispielhafter für das Konzept der Abwesenheit von terrestrischen und darüberhinausgehenden Grenzen sind. Verwirrende Szenarien, Landschaften kinematographischen Ursprungs mit traum-ähnlicher und befremdlicher Anziehungskraft vermischen die Reiseerzählung mit der Melancholie einer nicht offenbarten Präsenz, vielleicht verborgen von der Grenze des Vergessens oder schon weit entfernt von dem, was unser Auge sehen kann. BE-YOND BORDERS ist es da-her in Fabio Ricciardiellos Poesie und Nachforschung keine Herausforderung, die mit Eifer zu bewältigen ist, sondern der Weg, den der Künstler hinter sich nachverfolgt hat und weitergeht, um den Betrachter bei einer metarealen Immersion zu begleiten, bei einer Geographie der Seele ohne Ketten, die bereit ist, sich ins Unermessliche der Unendlichkeit zu entfalten. Desiderio wurde zu einem redaktionellen Projekt: THEBOOK, das zusammen mit dem Studio Jaumann durchgeführt wurde und das Ricciardiellos Fotografie zu einem Schauplatz einer kollektiven, persönlichen und universellen Reise machte, auf der die Beziehung zwischen Kunst, Fotografie und Wahrnehmung, zwischen dem Sicht-baren und dem Visuellen ihren Stillstand beendet hat, um dank ungewöhnlicher Verführungs- und Zauberkraft ein fließendes Ergebnis zu erhalten.
Jenseits jeder Grenze, also, nach einem Inhalt, der durch das Abtasten neuer Horizonte – philosophischer und wahrgenommener – untermauert wird, ‚schafft Ricciardiello verstörende und surreale Universen, Überbringer einer »Illusion der Realität mit einem guten Ausgang«, durch die er einen Durchgang zu unergründlichen, befremdlichen Dimensionen eröffnet, die als Ermunterung zu endlosen Reisen dienen.‘ So weit das Auge eines Künstlers reicht.