Existenzielle Risiken für die Menschheit

Reihe: Wissenschaft an der Kunstgrenze, Teil 3
Herausgegeben von Roland Benedikter, Center for Advanced Studies von Eurac Research

Welt­un­ter­gangs­sze­na­ri­en bzw. sol­che, die als exis­ten­zi­el­les Risi­ko – zumin­dest für die Mensch­heit – ein­ge­stuft wer­den, gibt es zahl­rei­che: eini­ge davon sind men­schen­ge­macht, ande­re kön­nen auf „höhe­re Gewalt“ zurück­ge­führt wer­den. Dank Wis­sen­schaft und Tech­nik, die uns den heu­ti­gen Umfang und die Geschwin­dig­keit, mit der wir Men­schen welt­weit inter­agie­ren, erst ermög­licht haben, kön­nen sich auch Epi­de­mien schnel­ler ver­brei­ten und zu Pan­de­mien her­an­wach­sen. Trägt der wis­sen­schaft­li­che Fort­schritt also letzt­lich eine Mit­schuld an der Coro­na­kri­se? Viel­leicht. Durch blin­des Ver­trau­en in die Wis­sen­schaft haben wir uns womög­lich all­zu oft in fal­scher Sicher­heit gewo­gen. Ande­rer­seits ist die Wis­sen­schaft durch ihre stren­gen Kri­te­ri­en und den Anspruch auf objek­ti­ve Gül­tig­keit auch unser mäch­tigs­tes kogni­ti­ves Werk­zeug, um Lösun­gen her­bei­zu­füh­ren. Sofern wir es schaf­fen, die­se Kri­se zu über­win­den, dann frei­lich auch oder gera­de durch wis­sen­schaft­li­che For­schung – zumin­dest was das Virus als Gefahr für Leib und Leben betrifft. Oder etwas anders for­mu­liert: Über­zo­ge­ne Wis­sen­schafts- und Tech­nik­gläu­big­keit hat uns in die­se Situa­ti­on gebracht, sie hät­te es aber auch ver­hin­dern kön­nen – zumin­dest, wenn wir unse­re Ein­stel­lung gegen­über Risi­ken zuvor ver­än­dert hätten.

DIE APOKALYPSE IN DER KUNST

Künstler*innen haben über die Jahr­hun­der­te sehr unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen des Welt­un­ter­gangs und der letz­ten Tage der Mensch­heit ent­wor­fen. Albrecht Dürer lässt in sei­nen Holz­schnit­ten die vier apo­ka­lyp­ti­schen Rei­ter als Boten des Jüngs­ten Gerichts, so, wie es in der Offen­ba­rung des Johan­nes erzählt wird, aus bro­deln­den Wol­ken her­vor­brau­sen, wobei der vier­te Rit­ter, der Tod, auf einem fah­len Pferd Men­schen aus allen sozia­len Schich­ten in den Höl­len­schlund bzw. die Unter­welt beför­dert. Weni­ger bekannt, aber genau­so beein­dru­ckend, sind die Mosai­ke der West­sei­te der Basi­li­ka San­ta Maria Ass­un­ta auf der Insel Tor­cel­lo in der Lagu­ne von Vene­dig: auf der lin­ken Sei­te die Aus­er­wähl­ten und auf der rech­ten Sei­te die Ver­damm­ten, die im Höl­len­feu­er schmo­ren und deren Schä­del von Wür­mern zer­fres­sen wer­den. Dar­über die Heto­ima­sia, der lee­re Thron Chris­ti und Engel, die ihn bewa­chen bzw. Posau­nen bla­sen, um die Toten auf­zu­we­cken. Im obe­ren Teil des Mosa­iks sitzt der Wel­ten­rich­ter in einer Man­dor­la und als Über­win­der der Höl­le. Die im neu­en Tes­ta­ment beschrie­be­nen Kata­stro­phen und der Kampf guter und böser Mäch­te, aber auch die Erlö­sung und Escha­to­lo­gie, die Leh­re von den letz­ten Din­gen, wer­den hier beun­ru­hi­gend rea­lis­tisch dar­ge­stellt. Ähn­lich dra­ma­tisch sind auch eini­ge der Dar­stel­lun­gen im Kup­pel­mo­sa­ik im Bap­tis­te­ri­um in Florenz.

Die­se Fas­zi­na­ti­on für Kata­stro­phen­sze­na­ri­en und das Ende der Mensch­heit kann einer­seits moti­vie­ren, Schlim­me­res zu ver­hin­dern, ande­rer­seits kann sie sich auch läh­mend auf die Psy­che aus­wir­ken: Anstatt sich mit der Lösung bzw. dem Abwen­den von Kata­stro­phen zu beschäf­ti­gen, ergibt man sich dem schein­bar unab­wend­ba­ren Schick­sal und begnügt sich mit der Befrie­di­gung ego­is­ti­scher Trie­be und kurz­fris­ti­gen Vergnügungen. 

Die jet­zi­ge Pan­de­mie stellt unmit­tel­bar kein exis­ten­zi­el­les Risi­ko für die Mensch­heit dar, aber sie zeigt, wie schnell Sys­te­me kol­la­bie­ren kön­nen. Den­noch, durch den Ver­lust der räum­li­chen Tren­nung ist die Aus­rot­tung einer gan­zen Spe­zi­es durch zuneh­mend gefähr­li­che­re Erre­ger mög­lich. Genau­so wenig, wie die meis­ten Men­schen das Ein­tre­ten und das Aus­maß die­ser Epi­de­mie vor­her­ge­se­hen haben, ist es auch schwie­rig, deren Aus­wir­kun­gen für die nächs­ten Jah­re vor­her­zu­sa­gen. Die hohe Sterb­lich­keit in eini­gen Indus­trie­staa­ten ist ver­mut­lich auf Infek­tio­nen in den ers­ten Mona­ten des Aus­bruchs zurück­zu­füh­ren, in denen Wissenschaftler*innen und Politiker*innen wider­sprüch­li­che Bot­schaf­ten zur Lage und dem Risi­ko ver­brei­te­ten. Dies führ­te zur Über­las­tung der Gesund­heits­ein­rich­tun­gen und zu einer Allo­ka­ti­ons­pro­ble­ma­tik der vor­han­de­nen mate­ri­el­len und per­so­nel­len Res­sour­cen, und einer damit not­wen­dig gewor­de­nen ethi­schen Prio­ri­sie­rung, etwa durch die Tria­ge, Alter oder ande­re Kri­te­ri­en und Ansät­ze aus der Kata­stro­phen­me­di­zin. Pro­ble­ma­tisch ist aber auch das teil­wei­se feh­len­de Ver­trau­en der Men­schen in die medi­zi­ni­sche For­schung und deren Empfehlungen.

SCHLAFWANDELND IN DEN EIGENEN UNTERGANG?

Aber die Pan­de­mie könn­te rein hypo­the­tisch zu einem exis­ten­zi­el­len Risi­ko wer­den, also einem, das durch sei­nen Umfang und sein Aus­maß intel­li­gen­tes oder gar jeg­li­ches Leben auf der Erde aus­zu­lö­schen ver­mag oder in sei­ner Ent­wick­lung wesent­lich zurück­wer­fen wür­de – und wenn nur als wei­te­res Glied in einer Kau­sal­ket­te von Ereig­nis­sen, wie das etwa die Anhänger*innen der „Kol­lap­so­lo­gie“ sehen. Laut die­ser, von dem Agrar­in­ge­nieur Pablo Ser­vi­gne und Raphaël Ste­vens initi­ier­ten Bewe­gung aus Frank­reich, steht uns durch eine Ver­ket­tung kata­stro­pha­ler, punk­tu­el­ler Ereig­nis­se wie etwa Pan­de­mien, Dür­ren, poli­ti­sche Wir­ren und der Implo­si­on des Finanz­sys­tems sowie dem Über­schrei­ten kri­ti­scher Grenz­wer­te, soge­nann­ter öko­lo­gi­scher Kipp­punk­te, ein sys­te­mi­scher und glo­ba­ler Zusam­men­bruch bevor und es bleibt uns nichts ande­res übrig, als uns dar­auf vor­zu­be­rei­ten, wäh­rend wir das letz­te Motorstot­tern unse­rer Zivi­li­sa­ti­on erle­ben. Ein sol­cher Kol­laps kann von einer Gene­ra­ti­on auch unbe­wusst erlebt wer­den: ein öko­lo­gi­scher „Kol­laps“ kann sich als schlei­chen­der Pro­zess, als Zeit­lu­pe­n­er­eig­nis über hun­der­te oder tau­sen­de von Jah­ren abspie­len; ein­zel­ne Kata­stro­phen kön­nen einen Kol­laps oder gar Welt­un­ter­gang zwar vor­ah­nen las­sen, die­ser kann aber so lang­sam vor sich gehen, dass die Mensch­heit fast schlaf­wan­delnd aus­ster­ben könnte.

Nach dem Welt­un­ter­gang spielt alles ande­re kei­ne Rol­le mehr, dar­um kann plau­si­bel behaup­tet wer­den, dass kein öffent­li­ches Gut mora­lisch wich­ti­ger ist als die Reduk­ti­on exis­ten­zi­el­ler Risi­ken, selbst wenn deren Ein­tre­ten unwahr­schein­lich ist. Zur Ver­an­schau­li­chung fol­gen­des Gedan­ken­ex­pe­ri­ment des Phi­lo­so­phen Derek Par­fit: Ange­nom­men sei­en drei unter­schied­li­che Ereig­nis­se, näm­lich Frie­den, ein Nukle­ar­krieg, der 99 Pro­zent der Mensch­heit ver­nich­tet, und ein Nukle­ar­krieg, der 100 Pro­zent der Mensch­heit ver­nich­tet. Offen­sicht­lich wäre das zwei­te Ereig­nis schlim­mer als das ers­te und das drit­te Ereig­nis schlim­mer als das zwei­te. Aber wel­cher Unter­schied wiegt grö­ßer? Laut Par­fit jener zwi­schen dem zwei­ten und dem drit­ten Ereig­nis: der Unter­schied bedeu­tet näm­lich die Zer­stö­rung der Zukunft der Mensch­heit schlecht­hin. Zu den übli­chen Bei­spie­len für sol­che Ereig­nis­se wer­den Aste­ro­iden- und Kome­ten­ein­schlä­ge, Super­vul­kan­aus­brü­che, Erd­be­ben und Tsu­na­mis, Gam­ma­blit­ze, Krieg und des­sen Fol­gen, wie etwa ein nuklea­rer Win­ter, Hun­gers­nö­te, Graue Schmie­re, künst­li­che Super­in­tel­li­genz und ande­re tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lun­gen, der Kli­ma­wan­del, Umwelt­ka­ta­stro­phen und das damit ein­her­ge­hen­de sechs­te Mas­sen­aus­ster­ben gezählt. All die genann­ten Bei­spie­le kön­nen gro­ßen Scha­den anrich­ten, den­noch könn­te sich das Leben auf der Erde von einem sol­chen Ereig­nis erho­len. Soll­te die Mensch­heit ein sol­ches Ereig­nis über­ste­hen, wür­de zumin­dest die Ent­wick­lung des Men­schen wesent­lich sta­gnie­ren: vie­le Errun­gen­schaf­ten wären womög­lich für immer ver­lo­ren. Im schlimms­ten Fal­le könn­ten zumin­dest eini­ge der Bei­spie­le auch zur voll­stän­di­gen Ver­nich­tung des Lebens füh­ren. Die Fan­ta­sie, dass es wie zu Noahs Zei­ten eine hypo­the­ti­sche Arche geben könn­te – ein galak­ti­sches Raum­schiff – mit dem sich eine klei­ne Schar von Men­schen auf einen Exo­pla­ne­ten zu ret­ten imstan­de wäre, um dort einen Neu­be­ginn ein­zu­lei­ten, hilft vie­len Men­schen, die Rea­li­tät zu ver­drän­gen. Wenn man sich aber nicht mit Fan­ta­sien zufrie­den­ge­ben will, stellt sich die Fra­ge, wel­che kon­kre­ten Emp­feh­lun­gen man heu­te der Poli­tik geben kann, um den schwer­wie­gen­den Kon­se­quen­zen unse­rer Indif­fe­renz bes­ser zu begeg­nen? Bevor man auf die­se Fra­ge ein­geht, muss man sich bewusst wer­den, dass die Men­schen dem Fas­zi­no­sum des Unter­gangs und der damit ein­her­ge­hen­den Angst­lust leicht erlie­gen: Hol­ly­wood hat dar­aus eine eige­ne Bran­che der Film­in­dus­trie gemacht. Die­se Fas­zi­na­ti­on für Kata­stro­phen­sze­na­ri­en und das Ende der Mensch­heit kann einer­seits moti­vie­ren, Schlim­me­res zu ver­hin­dern, ande­rer­seits kann sie sich auch läh­mend auf die Psy­che aus­wir­ken: Anstatt sich mit der Lösung bzw. dem Abwen­den von Kata­stro­phen zu beschäf­ti­gen, ergibt man sich dem schein­bar unab­wend­ba­ren Schick­sal und begnügt sich mit der Befrie­di­gung ego­is­ti­scher Trie­be und kurz­fris­ti­gen Vergnügungen.

EMPATHIE, BEWUSSTSEIN, VERANTWORTUNG UND MUT

Inwie­fern kön­nen Wis­sen­schaft und Kunst dazu bei­tra­gen, die oben gestell­te Fra­ge nach poli­ti­schen Wei­chen­stel­lun­gen zu beant­wor­ten? Was die Wis­sen­schaft von ihren erkennt­nis­theo­re­ti­schen Ursprün­gen her aus­zeich­net, ist ihre Fähig­keit zur Selbst­kri­tik, einer Form von intel­lek­tu­el­ler Red­lich­keit. Wis­sen­schaft muss die­se refle­xi­ve Neu­gier­de in der Gesell­schaft wie­der wecken und das bes­te Anti­dot gegen den oft als aus­ufernd emp­fun­de­nen Reduk­tio­nis­mus der Wis­sen­schaft ist die Kunst: Wis­sen­schaft darf nicht län­ger pro­gram­ma­tisch den Anschein erwe­cken, in allen Belan­gen das letz­te Wort zu haben. Je mehr wir über die Welt erfah­ren, des­to mehr Mys­te­ri­en tun sich auf. Die für uns Men­schen wesent­li­chen The­men kön­nen nicht aus einer ein­zel­nen Per­spek­ti­ve erfasst wer­den. Apo­ka­lyp­se bedeu­tet „Ent­hül­lung“, also die Offen­ba­rung einer unbe­que­men Wahr­heit: die Wahr­heit ist, dass wir nicht wis­sen, was mor­gen gesche­hen wird, aber wir kön­nen ver­su­chen, exis­ten­zi­el­le Risi­ken zu mini­mie­ren und nicht kampf­los auf­zu­ge­ben. Dafür braucht es auch Empa­thie für unse­re Umwelt, für ande­re Men­schen und ande­re Lebe­we­sen, aber auch das Bewusst­sein, Teil die­ser Bio­sphä­re zu sein und damit auch Ver­ant­wor­tung für zukünf­ti­ge Gene­ra­tio­nen zu über­neh­men. Nur im gemein­sa­men Dia­log und aus einer mul­ti­dis­zi­pli­nä­ren Meta­per­spek­ti­ve kön­nen wir unse­re kogni­ti­ven Gren­zen aus­lo­ten und auch mit­hil­fe der Kunst unse­re Ehr­furcht, Empa­thie und Demut für das Leben wecken und dafür Sor­ge tra­gen, dass es auch mor­gen noch eine Zukunft gibt. Unse­rem Schick­sal kön­nen wir uns dann immer noch erge­ben. In die­sem Sin­ne könn­te Coro­na tat­säch­lich ein his­to­ri­sches Ereig­nis gewe­sen sein, das Wis­sen­schaft an die Kunst­gren­ze gebracht hat – und Kunst an die Wissenschaftsgrenze.

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Er hat Philosophie studiert und forscht am Center for Advanced Studies von Eurac Research in Bozen. Kontakt: michael.derachewiltz@eurac.edu

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