Andreas Gursky im MdbK Leipzig
Andreas Gurskys Œuvre, das bisher weit über 200 Werke umfasst, visualisiert komplexe Konstruktionen der Realität, die mit gesellschaftlichen Fragestellungen verknüpft sind. Arbeit, Freizeit, Konsumverhalten, Großereignisse wie auch Finanzsysteme thematisiert er in seinen Fotografien seit Jahrzehnten. Gurskys Blick ist sachlich, präzise und stets subjektiv. Seine Kompositionen sind technisch und bildnerisch einzigartig.
Die Werke visualisieren eine facetten- und assoziationsreiche Sicht auf unsere globalisierte Welt. Sein Interesse an abstrakten Bildformen führt den Künstler zu Bildern der Fülle und Leere zugleich. In einem Interview 1998 vergleicht Gursky seine Werke mit Malerei: „Es wäre vielleicht für euch Kunsthistoriker interessant herauszufinden, warum ein kunstgeschichtlich unbedarfter Künstler wie ich trotzdem Zugriff auf dieses Formenvokabular hat.“(1) Sein Selbstverständnis als Foto-graf und Maler tritt noch deutlicher hervor, als er 1992 beginnt, digitale Bilder durch Montagen demonstrativ zu bearbeiten. Sein 1993 entstandenes Werk mit dem Titel Montparnasse vereint alle Möglichkeiten, die Gursky aus der digitalen Fotografie schöpft: ornamentale Struktur, Menschenmassen, homogene Oberflächen. „Die Welt der Bilder überflutet uns heute allerorts, und es müssen sehr besondere Bilder sein, die eine eigene Kraft in sich tragen und uns bewegen, unser Empfinden und Denken anrühren, wollen sie nicht gleich wieder in unserem Gedächtnis verbrennen“, gibt Udo Kittelmann in einem Essay über den Künstler zu bedenken und fährt fort: „Genau eine solche Art von Bilderfindungen gelingen Gursky.“(2)
Sein neuer Werkkomplex, der im Herbst bei Sprüth Magers in Berlin zu sehen war, führt seine kontinuierliche Beschäftigung mit gesellschaftlichen Fragestellungen unserer Zeit thematisch und motivisch fort: die Konstruktion unserer Umwelt, der Einfluss des Menschen auf die Natur und der dadurch bedingte Wandel. Die monumentale Fotografie Kreuzfahrt (2020) erscheint als Symbol für unsere aktuelle Lebensrealität, in der gesellschaftliche Normen des Miteinanders und die damit zusammenhängenden Konzeptionen von Raum und Abstand neu definiert werden. Bereits vor drei Jahren begann Gurskys Arbeit an diesem Abbild einer immensen schwimmenden Stadt als Sinnbild für Opulenz und Konsum und deren Auswirkung auf unser Ökosystem. Damals konnte noch niemand voraussehen, dass dieses Motiv einmal ein starkes Symbol für die Angst und Verwirrung zu Beginn der gegenwärtigen globalen Krise sein würde. Nicht zuletzt erinnert Kreuzfahrt formal an das wegweisende Werk Paris, Montparnasse (1993), welches vor fast 30 Jahren eines der größten Sozialwohnungsprojekte Frankreichs als architektonisch definierten, gitterhaften Mikrokosmos portraitierte. Heute wie damals wirft Andreas Gursky die Frage auf, wie wir leben, unseren Lebensraum gestalten und dieser im Rückschluss unser Leben formt.
Als Sohn des Werbefotografen Willy Gursky (1921–2016) und Enkel des Fotografen Hans Gursky (1890–1969) in Leipzig geboren, wuchs Andreas Gursky ab 1956 in Düsseldorf auf, wo er sein Studium der Fotografie an der Kunstakademie 1987 als Meisterschüler bei Bernd Becher (1931– 2007) abschloss. In einem Gespräch mit Jeff Wall beschreibt Gursky seine Erfahrung in der Klasse von Bernd Becher wie folgt: „In der Klas-se von Becher haben wir uns nicht mit Fragen der Fototechnik beschäftigt. Bernd wusste als Konzeptkünstler nicht sehr viel über Technik. Was er stringent einsetzte, waren im Wesentlichen Kompositionen und Stilmerkmale: Aus-gewogenes Licht ohne Schatten, zentrierte Perspektive, Distanz und ein sorgfältiger Ausschnitt. Das Ganze wurde auf einem sehr präzise belichteten 13x18 Zentimeter großen Schwarz-Weiß-Negativ festgehalten, das aus einer leicht erhöhten Perspektive fotografiert wurde. An sich gab es nicht viel zu lernen, aber vom Bildinhalt her viel zu begreifen.“(3)Heute lebt und arbeitet Gursky in Düsseldorf und auf Ibiza. Mit seinem neuem Werkkomplex bricht Andreas Gursky mit Sehgewohnheiten, hinterfragt die Erwartungshaltungen der Betrachter*innen und thematisiert die existenziellen Fragen unserer Gegenwart.
Über einen Zeitraum von mehreren Monaten beobachtete Andreas Gursky Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Politik II zeigt eine Gruppe von dreizehn Politiker*innen in ihrem Alltag – vom angeregten Gespräch bis hin zur Lektüre der Tageszeitung. Die horizontale Anordnung der Akteur*innen, die Anzahl der Personen sowie die abgewandte 13. Figur erinnern an eine Darstellung des biblischen Abendmahls. An Stelle der zentralperspektivischen Architektur, welche den Hintergrund von da Vincis Meisterwerk aus dem 15. Jh. gestaltet, ist der Hintergrund von Politik II mit dem Gemälde einer überdimensionalen Uhr von Ed Ruscha ausgefüllt, das hier wie ein Memento Mori über der Zusammenkunft schwebt. Zugleich visualisiert Gursky eine Momentaufnahme der Verteilung von Macht.
Die Werkgruppe Hong Kong Shanghai Bank zeigt das von Sir Norman Foster entworfene Hauptquartier der HSBC Bank in Hongkong. In Hong Kong Shanghai Bank II (2020) scheint die Fassade das aktuelle Geschehen vor dem Gebäude widerzuspiegeln: Ein Meer aus bunten Schirmen, mit Mustern, Gesichtern und Slogans, ruft sofort Bilder der Regenschirm-Bewegung von 2014 ins Gedächtnis und weist auf die noch immer aktuellen Forderungen nach freien Wahlen. In Hong Kong Shanghai Bank III (2020) ziehen sich Spruchbänder über die gesamte Höhe der Fassade. Indem sie unter anderem auf kulturelle Persönlichkeiten und brisante politische Themen verweisen, laden sie die Betrachter*innen dazu ein, jene mächtigen Strukturen zu hinterfragen, die unser Verständnis von historischen Ereignissen prägen. Das Hinterfragen von Machtstrukturen und wirtschaftlichen Monopolen sowie die Thematisierung unseres Zeitalters der Information visualisiert Gursky mit dem Werk Apple (2020). Vor dem Hintergrund der beeindruckenden Architektur des Hauptsitzes des Technologieunternehmens sind auf Sockeln iPhones und verschiedene Generationen von Apple-Computern entlang der geschwungenen Fensterfront inszeniert.
Der urbane Lebensraum, die ständige Abwägung von Reduktion und Qualität in unserer Gesellschaft thematisiert Gursky unter anderem mit dem Werk Bauhaus (2020). Einen industriellen Zweckbau mit dem Logo des bekannten Baumarkts zeigt der Künstler in seiner kühlen Ästhetik und abstrakt malerisch anmutenden Schönheit, die zugleich an die Konzepte der berühmten Kunstschule aus Weimar erinnert.
Wenngleich Gursky als einer der weltweit erfolgreichsten zeitgenössischen Fotograf*innen gilt, wurde er bisher in Leipzig noch mit keiner Einzelausstellung gewürdigt. Im Sommer 2017 fanden erste Gespräche über eine große Ausstellung im MdbK statt. Zur Vorbereitung hat der Künstler das Museum seitdem mehrmals besucht und ist von der zeitgenössischen Architektur fasziniert. Insbesondere die Vielfalt und Großzügigkeit der wohlproportionierten Räume nimmt er als inspirierende Einladung wahr. Die Werkauswahl hat Gursky als einen sehr persönlichen Rückblick angelegt: „Meine Bilder sind immer von zwei Seiten komponiert. Sie sind aus extremer Nahsicht bis ins kleinste Detail lesbar. Aus der Distanz werden sie zu Megazeichen.“ Im MdbK werden sowohl ältere ikonische Werke, die sich in das Bildgedächtnis eingeprägt haben, wie „99 Cent“ (1999), das Andreas Gursky zum teuersten Fotografen der Gegenwart machte (im Mai 2006 wurde es bei Sotheby’s in New York für den Rekordpreis von 2,25 Millionen US-Dollar versteigert), als auch bisher noch nie museal ausgestellte, neue Werke gezeigt.
1 Kunstmuseum Basel, Beate Söntgen, Nina Zimmer (Hrsg.): Andreas Gursky. 3. Auflage. Hatje Cantz Verlag
2 Kittelmann, Udo (Hrsg.) (2015): Andreas Gursky, Ausstellungskatalog zur Ausstellung im Museum Frieder
Burda, Baden-Baden. Göttingen: Steidl Verlag.
3 Andreas Gursky, Hayward Gallery Publishing (2018)
Andreas Gursky
Ab 25.03.2021 bis 22.08.2021
Museum der bildenden Künste Leipzig
www.mdbk.de