Ernesto Estévez

Zwischen Zauber und Rätsel

Ein Werk wie „Das gol­de­ne Tal“ von Ernes­to Esté­vez Gar­cía (Havan­na, Kuba, 1967) zu betrach­ten, kann zu einem Akt der Samm­lung oder zu einem Fest für die See­le wer­den; denn die Land­schaf­ten, die aus sei­nen Pin­seln her­vor­ge­hen, haben eine sub­li­me Fähig­keit, die Auf­merk­sam­keit auf sich zu zie­hen – vom erfah­rens­ten Kri­ti­ker bis zum uner­fah­rens­ten Betrach­ter. Tief in der Lie­be zu mei­nem Land ver­wur­zelt hat­te ich das Glück, mich vie­le Male von der Schön­heit unglaub­li­cher, fast para­die­si­scher Orte, unter ande­rem in der Sier­ra Maes­tra, der Gebirgs­ket­te de los Órga­nos oder El Escam­bray gefan­gen­neh­men zu las­sen; und nicht sel­ten habe ich mich ange­sichts der Pracht die­ser von Esté­vez neu erfun­de­nen Land­schaf­ten (von denen ich weiß, dass sie bei ihm nach Lust und Lau­ne sprie­ßen) ganz klein gefühlt, denn er weiß – defi­ni­tiv – wie man die­se Kraft der Natur erfasst.

Obwohl sei­ne Aus­bil­dung als Maler im Wesent­li­chen auto­di­dak­tisch war, zeigt sich bei der Betrach­tung sei­ner Gemäl­de ein stän­di­ges Inter­es­se am Stu­di­um der gro­ßen Meis­ter, die ihm vor­aus­ge­gan­gen sind, in einer Geschich­te, die mehr als zwei­hun­dert Jah­re zurück­reicht. Die Land­schafts­ma­le­rei in Kuba hat ihren Ursprung in der Kolo­ni­al­zeit, mit den Wer­ken der – meist fran­zö­si­schen – Illus­tra­to­ren, die auf die Insel kamen und von ihrer Natur fas­zi­niert waren: Feder­i­co Mial­he, Edu­ar­do Laplan­te oder Víc­tor Patri­cio Land­a­lu­ze (um nur die wich­tigs­ten zu nennen).

Nach der Grün­dung der Aka­de­mie der Schö­nen Küns­te San Ale­jan­dro im Jahr 1818 durch Jean-Bap­tis­te Ver­may fass­te die­ses Bild­gen­re Fuß und fand im Lau­fe der Jah­re in Künst­lern vom For­mat eines Este­ban Chart­rand, Leo­pol­do Roma­ñach, Arman­do Meno­cal, Dom­in­go Ramos, Tibur­cio Loren­zo und Este­ban Val­der­ra­ma meis­ter­haf­te Bewah­rer. In der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts wur­de dies auch von Künst­lern auf­ge­grif­fen, die die so genann­te kuba­ni­sche bild­ne­ri­sche Avant­gar­de bil­de­ten (wenn auch mit ihren eige­nen Merk­ma­len), wie Víc­tor Manu­el und Car­los Enrí­quez. Ab der zwei­ten Hälf­te jedoch über­schat­te­ten und ver­dräng­ten die Ein­flüs­se der Post­mo­der­ne und des Kon­zep­tua­lis­mus, die in Kuba Ein­zug hiel­ten, die so genann­te Gen­re­ma­le­rei und die tra­di­tio­nel­len Her­an­ge­hens­wei­sen an die­se, indem sie mit Adjek­ti­ven wie; »reti­nal« oder »zucker­süß« (vor allem von denen, die die Wir­kung der soge­nann­ten kon­zep­tio­nel­len Kunst bevor­zug­ten) ver­bannt wur­de. Sicher ist jedoch, dass nicht weni­ge kuba­ni­sche Künst­ler trotz aller Infra­ge­stel­lung die Land­schafts­ma­le­rei in ihrer gan­zen Pracht wei­ter kul­ti­vier­ten– und legi­ti­mier­ten – wie Loren­zo Lina­res in Cama­güey, Car­los Mata in Tri­ni­dad oder der inter­na­tio­nal aner­kann­te Tomas Sán­chez, die ihren Ein­fluss auf spä­te­re Land­schafts­ma­ler wie Les­ter Cam­pa, Edu­ar­do Rive­ra und Ernes­to Esté­vez selbst hin­ter­las­sen haben, um nur eini­ge der jun­gen Künst­ler zu nen­nen, die die Land­schaft zum Prot­ago­nis­ten ihrer male­ri­schen Pra­xis machen.

Der Künst­ler in sei­nem Ate­lier, bei der Arbeit – alle Bil­der mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Künstlers

Esté­vez zählt aber auch rus­si­sche Land­schafts­ma­ler wie Iwán Schisch­kin und Iwán Aiwa­sow­sky zu sei­nen Ein­flüs­sen, auf die er – erin­nert er sich – sich bezog, als ver­schie­de­ne kul­tu­rel­le Mate­ria­li­en aus der ehe­ma­li­gen Sowjet­uni­on nach Kuba kamen, sowie den Eng­län­der Joseph M. Wil­liam Tur­ner und die ame­ri­ka­ni­sche Kunst­rich­tung der Hud­son River School (aus der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts). »Ich glau­be« – so sag­te er – »dass ich mich allen ver­pflich­tet füh­le, weil ich von allen etwas gelernt habe, da ich ver­sucht habe, das Werk eines jeden zu studieren.«

Für Ernes­to ist die opti­sche Wahr­neh­mung seit sei­ner Geburt ein wich­ti­ger Teil sei­nes Lebens. Sein Vater, ein Foto­graf, und sei­ne Mut­ter, eine Film- und Fern­seh­re­dak­teu­rin, waren das Tor zu einer krea­ti­ven Umge­bung, in der die Welt der Bil­der in den Fami­li­en­ge­sprä­chen im Mit­tel­punkt stand und Teil des täg­li­chen Gesche­hens war. Es ist daher leicht zu ver­ste­hen, dass er bereits im Alter von 18 Jah­ren – um 1985 her­um – als Foto­jour­na­list begann und bereits 1988 den ers­ten Preis in der Kate­go­rie Far­be im Natio­na­len Foto­sa­lon gewann, mit einem Werk, das aus sei­nen Rei­sen durch die Höh­len von Mat­anz­as und Pinar del Río als Mit­glied einer Grup­pe jun­ger Men­schen her­vor­ging, mit denen er Höh­len­for­schung prak­ti­zier­te. Bei­de Prak­ti­ken – der Foto­gra­fie und der Höh­len­for­schung – führ­ten zu sei­ner Wahr­neh­mung der könig­li­chen Dimen­si­on der kuba­ni­schen Natur.

Gegen Ende der acht­zi­ger Jah­re traf Esté­vez auch auf ande­re jun­ge Künst­ler wie Leo D’Lá­za­ro, der ihm die Grund­kennt­nis­se zur Beherr­schung der Ölpa­let­ten ver­mit­tel­te, Far­ben zu mischen und eine Lein­wand vorzubereiten…so begann das Aben­teu­er der Male­rei und die Foto­gra­fie hör­te auf sein Ziel zu sein und wur­de zu einem not­wen­di­gen Werk­zeug, das ihm ermög­lich­te, Hun­der­te von Bil­dern anzu­sam­meln, die ihm beim Kom­po­nie­ren und Struk­tu­rie­ren eines Bil­des den Aus­tausch von Ele­men­ten im krea­ti­ven Pro­zess ermöglichten.

In einem Inter­view mit María Grant, Chef­re­dak­teu­rin der Zeit­schrift Opus Haba­na, sag­te Esté­vez Gar­cía: Durch die Male­rei konn­te ich die Natur nicht nur betrach­ten, son­dern sie offen­bar­te sich mir und es war mein Wunsch, mei­ne Per­spek­ti­ve und Visi­on bekannt zu machen, so dass der Betrach­ter die glei­chen Emo­tio­nen emp­fin­den kann wie ich, wenn ich vor die­ser Land­schaft ste­he. Das war etwas, was ich mit der ein­fa­chen Foto­gra­fie nicht errei­chen konn­te. So hat­te ich auch die Mög­lich­keit, zu modi­fi­zie­ren, mehr Gewicht auf das eine oder ande­re Ele­ment zu legen, indem ich sie ent­fern­te oder hin­zu­füg­te, das Licht, die Nebel und die Far­ben mani­pu­lier­te und den Bil­dern Dra­ma­tik oder Freu­de gab, wie ich es wollte.

Die meis­ten Kri­ti­ker und Spe­zia­lis­ten stim­men dar­in über­ein, dass das Licht die Quel­le des Rät­sels der Land­schaf­ten ist, die es malt; und in der Art, wie es sich den Sin­nen prä­sen­tiert, bedeu­tet es eine stän­di­ge Pro­vo­ka­ti­on die­ser. Wenn wir einen visu­el­len Rund­gang durch sei­ne Bil­der machen wür­den, könn­ten wir die (fast mys­ti­sche) Atmo­sphä­re, die er erreicht, als Ansich­ten aus einer ande­ren Dimen­si­on (viel­leicht der der See­le) betrach­ten und – mehr als auf magi­schen Rea­lis­mus – auf die Magie sei­nes eige­nen Rea­lis­mus ver­wei­sen, Frucht sei­ner Vor­stel­lungs­kraft oder der Ein­flüs­se einer geleb­ten Erfah­rung. Auf jeden Fall sind sei­ne Bil­der von ver­füh­re­ri­scher Schönheit.

Es ist nicht not­wen­dig, Stu­fen in sei­ner Schöp­fung zu defi­nie­ren, denn er malt ein­fach das, was sein Ver­stand uns sehen las­sen möch­te. In »Wan­der­weg in der Sier­ra« zum Bei­spiel wird die so sug­ges­ti­ve Art des »Lichts« betrach­tet, mit dem die Son­ne auf den Blät­tern der Bäu­me und den Büschen der Pal­men reflek­tiert wird, als wäre es nur ein sehr kur­zer Moment, in dem die ver­schie­de­nen Tex­tu­ren her­vor­sprie­ßen, die durch die Ver­wen­dung der ver­schie­de­nen Tönun­gen und Farb­be­rei­che erreicht wer­den, die in Kuba auf dem Land zu fin­den sind – ent­spre­chend der dar­ge­stell­ten Vege­ta­ti­on; und in dem Volu­men, das der Wir­kung ihrer eige­nen Schat­ten den Stei­nen auf dem Weg gege­ben wird. Der Umgang mit der Per­spek­ti­ve und die Viel­falt der bis ins Detail durch­dach­ten visu­el­len Zeich­nun­gen spre­chen für die sorg­fäl­ti­ge Gestal­tung des Bild­raums, die auch in Wer­ken wie »Escam­bray« vor­han­den ist.

Die Nacht hat auch in den Wer­ken von Esté­vez eine beson­de­re Art, sich durch das Licht zu prä­sen­tie­ren. Das Laby­rinth der Rät­sel schafft zum Bei­spiel einen Voll­mond, der in sei­ner gan­zen majes­tä­ti­schen Art eine räum­li­che Span­nung mit der klei­nen – fast unnö­ti­gen – Later­ne des Boo­tes eines Fischers schafft, des­sen Kat­ze vom Blick des Betrach­ters über­rascht zu sein scheint. Das Uner­mess­li­che der Land­schaft wider­steht der mensch­li­chen Prä­senz, die in sei­nen Wer­ken nur sehr sel­ten ver­tre­ten ist.

Die Ver­wen­dung von Bil­dern, die der Foto­gra­fie oder dem Kino eigen sind, ist ein wei­te­res Merk­mal der Wer­ke von Esté­vez. Er scheint die gro­ßen all­ge­mei­nen und pan­o­r­ami­schen Plä­ne zu bevor­zu­gen, obwohl er Stü­cke wie der Gebirgs­bach und der Fluss der Far­ne aus­führt, in denen er näher­kommt, um neue Details zu ent­hül­len und ver­schie­de­ne Win­kel des­sel­ben Ortes zu erkun­den scheint.

Sei­ne Wer­ke spie­geln auf viel­fäl­ti­ge Wei­se die Ele­men­te der Natur wider. Jen­seits von Licht, Vege­ta­ti­on und Was­ser. Er bezieht den Wind und die Bri­se ein, die unsicht­bar, aber in den Baum­kro­nen spür­bar sind (bis zu dem Punkt, an dem sie mensch­li­che Gestalt anzu­neh­men schei­nen), und dann wird alles Dar­ge­stell­te ent­spre­chend die­ser Strö­mun­gen ange­ord­net, ein Effekt, den er durch die Art und Wei­se ver­voll­stän­digt, wie er die Hin­ter­grün­de im Kon­trast zu den prä­zi­sen Pin­sel­stri­chen ver­wischt, um den Ele­men­ten am Boden Kör­per zu geben, wie in Auf dem Weg zum Sturm, wo Erde, Stei­ne und sogar Res­te von tro­cke­ner und dif­fu­ser Vege­ta­ti­on, Wur­zeln oder abge­fal­le­ne Äste die Gestal­tung im unte­ren Bereich des Stücks stüt­zen. In Stür­mi­sche Däm­me­rung hin­ge­gen stellt er einen Son­nen­un­ter­gang dar, der von einem Sturm beherrscht wird, der ein ein­sa­mes Bohío*(1) anzu­grei­fen droht, das als Prot­ago­nist die­ser Land­schaft – kaum beglei­tet von einem Busch und einer könig­li­chen Pal­me – wider­steht, um den sich nähern­den Regen zu empfangen.

Dr. Euse­bio Leal Speng­ler, His­to­ri­ker der Stadt Havan­na, der ein Bewun­de­rer der Arbeit von Ernes­to Esté­vez war, sag­te:… er ver­steht es, die umge­ben­de Rea­li­tät zu erfas­sen, um ori­gi­nel­le und etwas ande­re Kunst zu schaf­fen… Gleich­zei­tig hält er die Palet­te, ent­ringt ihr das magi­sche Geheim­nis der Far­ben und bringt sie auf die Lein­wand, damit die idyl­li­schen Land­schaf­ten unse­res Lan­des, die durch die Anwe­sen­heit des Men­schen kaum gestört sind, in der Zeit bestehen blei­ben: die male­ri­schen Bohí­os, die hoch­mü­ti­ge Cei­ba, das schwer fass­ba­re Tal zwi­schen Wol­ken, die Berg­ket­te, die in Klip­pen zum Meer hin­ab­steigt, die Mor­gen­däm­me­rung, die den Wol­ken­man­tel auf dem geheim­nis­vol­len und poe­ti­schen Berg zerstreut…

Rei­nes Gefühl und Intui­ti­on wer­den zwi­schen dem Zau­ber, mit dem die­se Land­schaf­ten fas­zi­nie­ren, und dem Rät­sel, das sie ent­hal­ten, wahr­ge­nom­men, als ob der Künst­ler selbst in die­se Dimen­si­on ein­tritt, in der er malt und wie­der her­aus­kommt, um die Details zu über­prü­fen und zu per­fek­tio­nie­ren… und schließ­lich… ist das Resul­tat sei­ner Tätig­keit kost­bar, er erfreut sich an der Schön­heit fast bis zur Eksta­se; vor allem aber ist er ehr­lich mit sei­ner Ein­stel­lung zum Leben und weiß, was für den Geist not­wen­dig ist, auch als War­nung, damit wir über das nach­den­ken, was wir ver­lie­ren kön­nen, wenn wir die Kraft der Natur nicht ach­ten und respek­tie­ren. Hin­ter so viel ästhe­ti­scher Voll­kom­men­heit ste­hen – nicht ohne Dra­ma­tik – mora­li­sche Wer­te und Begrif­fe, die mit sei­ner Lebens­phi­lo­so­phie ver­wandt sind: Die Natur ist nicht das Ergeb­nis des Zufalls, und durch die­ses Den­ken bin ich von klein auf zu Gott gelangt. Ich ver­su­che ein wenig, die­se Prä­senz in allen Ele­men­ten aus­zu­drü­cken, die ich in mei­ne Bil­der ein­be­zie­he. Mein reli­giö­ses Bekennt­nis beein­fluss­te auch mei­ne Vor­lie­be für die Land­schafts­ma­le­rei. Durch mein Werk möch­te ich die gött­li­che Schöp­fung, die in jedem Stein, Bach, Him­mel, Baum ist, bekannt machen.

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geschrieben von

(Havanna, 1959), Abschluss in Journalismus an der Universität von Havanna, 1981. Als Drehbuchautorin, Dokumentarfilmerin und Regisseurin von Fernsehprogrammen ist sie seit 1980 in der audiovisuellen Produktion tätig. Im Jahr 2000 konzipierte sie die Fernsehsendung SIGNOS über zeitgenössische kubanische bildende und plastische Kunst, die sie bis heute leitet. Sie hat an weiteren Ausstellungen und Projekten im Bereich der bildenden Kunst und der Poesie mitgewirkt. Im Jahr 2020 erhielt sie den »Pequeña Pantalla Award« für ihr Lebenswerk.

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