Entwürfe für die neue Welt

Der Künstler Giuseppe Stampone im Gespräch mit Azzurra Immediato

Gegen­wart, Ver­gan­gen­heit, Zukunft. Medi­en, Sym­bo­le, Vor­her­be­stim­mung. Träu­me, Ängs­te, Wün­sche, Bedürf­nis­se. Das Unbe­kann­te. Sie bezie­hen sich auf das Unbe­wuss­te und das ratio­na­le Den­ken, sie tref­fen sich in der von emo­tio­na­ler Intel­li­genz dik­tier­ten Schwe­be, in der die Kunst und die Künst­ler fähig sind, die Dyna­mik der Welt und unse­res Lebens auf eine ein­zig­ar­ti­ge, uralte und zugleich vor­her­sa­gen­de Wei­se zu betrach­ten. In die­sen Para­dig­men kön­nen wir einen Teil der Recher­chen von Giu­sep­pe Stam­po­ne erken­nen, der anläss­lich der 59. Inter­na­tio­na­len Kunst­aus­stel­lung zur Bien­na­le di Vene­zia zurück­kehrt, um mit Rafa­el Vil­la­res und Kcho den Kuba-Pavil­lon zu bespie­len. Ter­ra Igno­ta (Ent­wür­fe für eine neue Welt) ist das vom Kura­tor Nel­son Rami­rez de Arel­lano Con­de gewähl­te The­ma, bei dem Raum und Zeit Per­spek­ti­ven defi­nie­ren, die in der Lage sind, den Blick vom Selbst abzu­wen­den, um eine nicht-ego­is­ti­sche Ziel­ge­ra­de im Hin­blick auf eine neue Welt zu defi­nie­ren. Vor­mals Korea-Pavil­lon, jetzt Kuba-Pavil­lon: In bei­den Fäl­len wur­de Stam­po­ne auf­ge­for­dert, über die Gestal­tung der Zukunft und aktu­el­le Ereig­nis­se nach­zu­den­ken, die er bereits in Pro­jek­ten »vor­her­ge­se­hen« hat­te, die aus­ge­hend von bekann­ten Iko­nen nicht greif­ba­re Sze­na­ri­en (nach)gezeichnet haben. Die Geschich­te der Kunst ist die Geschich­te des Men­schen: Kann die Bien­na­le 2022 ein Hil­fe­ruf an die Künst­ler sein für ein Ver­ständ­nis dar­über, was uns die Zukunft brin­gen wird und gege­be­nen­falls kor­ri­gie­rend einzugreifen?

Giu­sep­pe Stam­po­ne, ©Dome­ni­co Stinellis

Die Welt hat sich in den letz­ten zwei Jah­ren ver­än­dert, in die­sen Tagen wird Ost­eu­ro­pa von einem Krieg heim­ge­sucht. Ist die Welt, in der wir zukünf­tig leben wer­den, ein »unbe­kann­tes und beängs­ti­gen­des Land?

GIUSEPPE STAMPONE: Was hier geschieht, ist die Meta­mor­pho­se eines kran­ken Den­kens, das aus einer posi­ti­vis­ti­schen Kon­zep­ti­on her­aus ent­stan­den ist, von der Renais­sance bis heu­te, seit der Mensch sich selbst begriff­lich und phy­sisch in den Mit­tel­punkt des Uni­ver­sums gestellt hat, um die Welt zu beherr­schen, sie zu mes­sen, die gemein­sa­me Zeit und den gemein­sa­men Raum anzu­hal­ten. Dies liegt eher in der Natur des Men­schen als in der Natur der Din­ge. Aus der Renais­sance stam­men Guten­bergs Per­spek­ti­ve und Druck, die ich als Ver­nich­tungs­waf­fen betrach­te, die der Atom­bom­be gleich­kom­men – Instru­men­te, die die Welt kata­lo­gi­siert haben. Die Per­spek­ti­ve ist nichts ande­res als eine poli­ti­sche Visi­on der Welt, in der wir die empi­ri­sche, rea­le, emo­tio­na­le Visi­on ver­lo­ren und sie per­spek­ti­visch in einen Käfig ver­wan­delt haben. Das Glei­che gilt für Guten­bergs Schrift­zei­chen: Sie been­de­ten die Erfah­rung des gespro­che­nen Wor­tes, das über Gene­ra­tio­nen hin­weg wei­ter­ge­ge­ben wur­de; die erfah­rungs­be­ding­te Ratio­na­li­sie­rung der zwei­di­men­sio­na­len Kon­struk­ti­on eines Blat­tes, der Aus­rich­tung des Schrei­bens und Lesens dar­in, hat der empi­ri­schen Ent­de­ckung einen Stein in den Weg und den Grund­stein dafür gelegt, was wir heu­te erle­ben: der Mensch im Kon­flikt, der weder in Har­mo­nie mit sich selbst, mit ande­ren oder mit der Natur lebt.

Das macht mir kei­ne Angst, ich neh­me die­se Rea­li­tät seit Jah­ren in einer »Nicht-Har­mo­nie « mit dem popu­lis­ti­schen Den­ken die­ser Welt wahr. Ich beob­ach­te die Mytho­ma­nie, den extre­men Wunsch, im Mit­tel­punkt zu ste­hen und alles dafür zu opfern. Dar­aus ent­stand eine neue Rea­li­tät. Was mich erschreckt, ist die Reak­ti­on vie­ler Men­schen, die sich erst jetzt der feh­len­den Har­mo­nie zwi­schen Mensch und Mensch, Mensch und Natur bewusst wer­den. Der von Russ­land gewoll­te Krieg in der Ukrai­ne ist eine Fol­ge des Kal­ten Krie­ges, den wir ver­ges­sen glaub­ten. Gren­zen, Pri­vat­ei­gen­tum, Macht­miss­brauch sind ana­chro­nis­ti­sche Ele­men­te, wie uns die aktu­el­len Ereig­nis­se leh­ren, es sind Kin­der eines längst ver­ges­se­nen Kolo­nia­lis­mus. Viel­leicht hat Euro­pa noch eine Chan­ce: und zwar die Ent­wick­lung einer ein­zig­ar­ti­gen Visi­on von Frei­heit und Akzep­tanz, indem es sich gegen­über der Welt und sogar Russ­land ins Spiel bringt, um eine neue wah­re Har­mo­nie ent­ste­hen zu las­sen. Wie ich schon vor Jah­ren im Pro­jekt EUROPA VS EUROPA ver­an­schau­licht habe, ist Euro­pa ein Feind sei­ner selbst, das nie­mals geeint, geteilt, par­ti­zi­pa­tiv, kon­struk­tiv ist; es stand immer nur das wirt­schaft­li­che Poten­ti­al im Vordergrund.

Heu­te möch­te ich zwei Schlüs­sel­the­men unter­su­chen: Har­mo­nie und Gleich­ge­wicht im phi­lo­so­phi­schen und kon­zep­tio­nel­len Sin­ne. Dimen­sio­nen, die durch die Meta­pher des Atmens, einer Hand­lung zur Sau­er­stoff­ver­sor­gung des Geis­tes, erreicht wer­den kön­nen. Die Span­nung des Kapi­ta­lis­mus, des Euro­zen­tris­mus, beschleu­nigt die Atmung, das Herz und den Orga­nis­mus und ver­gif­tet sie schließ­lich. Wir müs­sen wie­der ein- und aus­at­men, neue Ideen, neu­es Leben ein­at­men und durch Aus­at­men das her­aus­las­sen, was nutz­los ist. Wir steu­ern zwei­fel­los auf etwas Unbe­kann­tes und Ver­ängs­ti­gen­des zu, eine Ursa­che unse­rer gefürch­te­ten Rea­li­tät; die Natur wird ihren Lebens­raum zurück­er­obern und die Zyklen von Zeit und Raum wer­den wie­der auf­ge­nom­men wer­den. Viel­leicht wird das für uns Men­schen ein erschre­cken­des Erleb­nis wer­den, aber für die Natur wird es eine wah­re Wie­der­ge­burt sein; ohne die Bedräng­nis durch den erobern­den Men­schen, den Zer­stö­rer der Harmonie.

Ihre Prä­senz auf der Kunst­bi­en­na­le in Vene­dig – nach den Erfah­run­gen der Archi­tek­tur­bi­en­na­le 2021, auf der Sie im korea­ni­schen Pavil­lon prä­sent waren – ist geprägt von dem Dia­log mit fer­nen Rea­li­tä­ten, die sich aber über alle Gren­zen hin­weg durch die Kunst zie­hen und es schaf­fen, sich Ihrem kon­zep­tu­el­len Modus Ope­ran­di anzu­pas­sen, mit dem Sie die Gren­zen von Raum und Zeit spren­gen, um den Wert des Ver­ste­hens zu kon­kre­ti­sie­ren. Wel­chen Ansatz ver­folg­ten Sie letz­tes Jahr und wel­chen wer­den Sie bei der dies­jäh­ri­gen Bien­na­le verfolgen?

Ich wür­de die bei­den Län­der wie folgt beschrei­ben: Korea, Har­mo­nie und Aus­ge­gli­chen­heit; Kuba, Dyna­mik und Ener­gie. Die zwan­zig­jäh­ri­ge Ver­bun­den­heit mit Korea ent­stand wäh­rend der Bien­na­le von Gwan­ju: Es ist eine tie­fe Bezie­hung zu einem Gebiet, einer Phi­lo­so­phie, einer Art, die Welt, das Leben, die Natur wahr­zu­neh­men, kurz gesagt, es ist eine »Art zu atmen«, die ich ver­in­ner­licht habe. Die ori­en­ta­li­sche Kul­tur hat mei­ne »west­li­che Auf­re­gung« gebremst, sie hat es mir ermög­licht, eine neue Bezie­hung zu mir selbst, zu ande­ren und zur Natur auf­zu­bau­en. Die For­ma­li­sie­rung im Korea-Pavil­lon der Archi­tek­tur­bi­en­na­le 2021 war ein Gemein­schafts­pro­jekt mit der Künst­le­rin Maria Cri­s­pal, Mit­be­grün­de­rin des Netz­werks Solstizio.org und bie­tet einen bewusst­seins­bil­den­den Ansatz mit­tels Didak­tik. Die GLOBAL EDUCATION ist eine neo­di­men­sio­na­le Schu­le, in der über Neue Medi­en Fra­gen der öko­lo­gi­schen Dring­lich­keit und des Schut­zes der Mensch­heit über eine Didak­tik ange­spro­chen wer­den, die als »Archi­tek­tur der Intel­li­genz« bezeich­net wird. Es han­delt sich aus pro­jekt­tech­ni­schen Gesichts­punk­ten nicht um eine fest­ge­fah­re­ne und dik­ta­to­ri­sche Didak­tik, die den Ein­woh­nern gebo­ten wird, son­dern sie ist eher flie­ßend und ver­bin­dend. Ein Zusam­men­spiel aus Geist | Kör­per | Raum / Geist | Kör­per | Netz­werk, das mit­tels der Erfah­rung des Indi­vi­du­ums par­ti­zi­pa­ti­ve und gemein­sa­me Struk­tu­ren ent­ste­hen lässt, ange­fan­gen bei den neu­en Gene­ra­tio­nen, wie den Kin­dern. Die Besu­cher wur­den daher ein­ge­la­den, mit den Tätig­kei­ten die­ser neo­di­men­sio­na­len Schu­le zu inter­agie­ren. Auch das Pro­jekt 2022 hat sei­nen Ursprung in der pri­vi­le­gier­ten Bezie­hung zu die­ser Nati­on, die auf mei­ne Teil­nah­me an der Bien­na­le in Kuba zurück­geht. Ich war sofort von die­ser ande­ren, vita­len Denk­wei­se ange­tan, einer ange­stamm­ten Vor­stel­lung von der Ver­bun­den­heit zwi­schen Mensch und Natur, Mensch und Mensch. Trotz sei­ner Geschich­te ist Kuba kein Gefan­ge­ner men­tal toxi­scher und indi­vi­du­el­ler Über­struk­tu­ren; wäh­rend sich Korea heu­te wie­der auf sei­ne Bezie­hung zur Natur kon­zen­triert, pro­ji­ziert sich Kuba auf den idea­len Traum der Ver­west­li­chung, des glo­ba­len kapi­ta­lis­ti­schen Dor­fes, spürt aber noch nicht die Gefahr, die davon aus­geht, im Ver­gleich zu jener Frei­heit, die bis­her sei­ne Ret­tung war.

Giu­sep­pe Stam­po­ne, Games of Child­ren, 2012, Bic pen on wood, 200x200 cm, Cour­te­sy of Pro­me­teo Gallery
Giu­sep­pe Stam­po­ne, Lam­pe­du­sa, 2020, Bic pen on wood, 35x29,5 cm, Cour­te­sy of Pro­me­teo Gal­lery, Ida Pisa­ni Milan – Lucca 
Giu­sep­pe Stam­po­ne, Phal­lic erec­tion, 2014, Bic pen on wood, 200x220 cm, Cour­te­sy of Pro­me­teo Gallery 

In Bezug auf das All­tags­le­ben ist Ihre Arbeits­wei­se eher aty­pisch: Auf die blin­de und buli­mi­sche Rase­rei von Bil­dern, Vor­stel­lun­gen und Infor­ma­tio­nen reagie­ren Sie mit Aus­deh­nung von Zeit und Raum, es scheint, als woll­ten Sie den Begriff »Kunst machen« neu erfin­den. Wie passt das in die Visi­on einer noch unge­schrie­be­nen Zukunft?

Eine ent­schei­den­de Fra­ge, denn das, was in der Regel aus mei­ner Arbeit her­vor­geht, ist das end­gül­ti­ge Werk und zwar nur die ästhe­ti­sche, ethi­sche, jedoch kei­ne pro­zes­sua­le Form­ge­bung. Ja, aber was mich wirk­lich inter­es­siert, ist die Zeit und deren Ana­ly­se mit­tels Mäeu­tik. Wie Sie schon gesagt haben, bedeu­tet »schaf­fen« für mich die Wie­der­an­eig­nung der Zeit; durch das Sym­bol, die Zeich­nung set­ze ich den Ebe­nen von Räu­men und Zei­ten mei­nen Stem­pel auf. Heut­zu­ta­ge muss man auch im Kunst­markt im Zuge der Glo­ba­li­sie­rung, des Kapi­ta­lis­mus, der Geschwin­dig­keit, die uns vom Inter­net auf­er­legt wird, stän­dig pro­du­zie­ren. Ich leh­ne aber das Dik­tat die­ser Fak­to­ren ab. Ich bin der Künst­ler und ent­schei­de selbst, wie vie­le Wer­ke ich schaf­fe. Und zwar mit Arbeit, die kein manie­ris­ti­sches, son­dern ein kon­zep­tu­el­les, pro­zes­sua­les Ele­ment ist. Die­se Phi­lo­so­phie, die bereits in mir schlum­mer­te, mani­fes­tier­te sich gera­de im Ori­ent, wo die Beob­ach­tung des­sen, was sich mit Weis­heit und Auf­merk­sam­keit wie­der­hol­te, dazu ten­dier­te, die Ges­te zur Per­fek­ti­on zu erhe­ben. Tat­säch­lich besteht mein Arbeits­vo­ka­bu­lar aus Begrif­fen wie Pro­zess – und nicht Art und Wei­se –, Zeit, Atem, Wie­der­an­eig­nung, Unge­hor­sam, Pri­vat­sphä­re, Gleich­ge­wicht – auch das zwi­schen Künst­ler und Werk. Wie wird die Zukunft aus­se­hen? Heu­te glaubt der Mensch, dass er das Schei­tern nicht zu ver­mei­den braucht – es gibt sie nicht, sie ist nur eine ein­fa­che men­ta­le Kon­struk­ti­on, eine Recht­fer­ti­gung für den Men­schen, eine selbst­zer­stö­re­ri­sche phal­li­sche Reak­ti­on – son­dern dass wir in gewis­sem Sin­ne in der Zukunft wie­der auf­at­men, ein rich­ti­ges Gleich­ge­wicht zwi­schen Mensch und Natur reak­ti­vie­ren und uns das Selbst wie­der aneig­nen müs­sen. Die­sen Pro­zess voll­zie­he ich mit den Medi­en, mit Ges­ten, flie­ßen­der Har­mo­nie und ver­mei­de gif­ti­ge Ein­flüs­se von außen: Alles wird zu einem neu­en Atem­zug, einer Zukunftsvision.

Das Künst­ler­au­ge weiß die Zukunft vor­aus­zu­se­hen. Und das nicht, weil es Glück hat, son­dern weil es die unbe­wuss­te Fähig­keit besitzt, die Welt durch die emo­tio­na­le Intel­li­genz betrach­ten zu kön­nen; der pro­phe­ti­sche Wert der Erfor­schung kol­lek­ti­ver Dyna­mi­ken erzeugt einen Gra­ben, in dem der mäeu­ti­sche Akt und das Werk eine ande­re Bedeu­tung haben als nur den Wert des hic et nunc. Wor­auf läuft Ihr »Ent­wurf für eine neue Welt« hinaus?

Der Ent­wurf für eine neue Welt, lie­be Azzur­ra, muss von Ihnen selbst aus­ge­hen, von jeder ein­zel­nen Erfah­rung, und zwar noch bevor er sich in eine Ver­än­de­rung der Mas­se ver­wan­delt. Wenn jeder von uns eini­ge klei­ne täg­li­che Ges­ten ändert, ver­mei­den wir irrepa­ra­ble Schä­den. Wir müs­sen uns alle indi­vi­du­ell dazu erzie­hen, Ver­ant­wor­tung zu tra­gen, den homo­lo­gi­sie­ren­den Strom der Mas­se ver­las­sen, der beschleu­nigt und zer­stört. Keh­ren wir zurück zum Respekt gegen­über unse­rem Kör­per, unse­rem Geist, unse­rem Raum – das Kon­zept der Archi­tek­tur der Intel­li­genz kehrt zurück, Geist | Kör­per | Raum / Geist | Kör­per | Netz­werk – durch den Atem sen­ken wir die Erre­gun­gen der Mas­se und rege­ne­rie­ren das Gleich­ge­wicht. Für eine Neue Welt wün­sche ich mir eine Glo­bal Edu­ca­ti­on, ver­stan­den als sub­jek­ti­ve Rück­erzie­hung der Mas­se: eine Art und Wei­se, sich von die­ser Welt rück­zu­er­zie­hen, durch das Atmen im Ein­klang mit Mut­ter Erde und durch Selbst­kri­tik, um uns vor dem Wahn­sinn, der uns gegen­wär­tig umgibt, zu ret­ten. Wir sind nur Gäs­te auf die­sem Pla­ne­ten, aber wir tun so, als sei­en wir sei­ne Erobe­rer und gestal­ten ihn nach unse­rem Bil­de; ich glau­be ehr­lich gesagt nicht an die uto­pi­sche Staats­po­li­tik, son­dern nur an die Fähig­keit des Ein­zel­nen zur Selbstbestimmung.

Ihre Kunst ist poli­tisch ori­en­tiert und Sie haben die Diar­chie von Frie­den und wirt­schaft­li­cher Macht mit­ein­an­der ver­bun­den, die in die­sen Stun­den vor unse­ren Augen abläuft. Sozia­le Medi­en haben die Regeln der inter­na­tio­na­len Dis­kus­si­on geän­dert und die Sze­na­ri­en mit Sym­bo­len und deren Bedeu­tun­gen haben sich ver­än­dert. Doch in die­sem Mag­ma scheint sich die Geschich­te zu wie­der­ho­len. Wie bau­en Sie die­se Ver­än­de­run­gen in Ihr Werk ein?

Mei­ne Arbeit ist eine Ankla­ge der Welt, wie wir sie ken­nen und die wir fast zer­stört haben; alle mei­ne Stu­di­en wei­sen auf den Wunsch nach Ver­än­de­rung hin, denn ich leh­ne es ab, alles für trü­ge­ri­sche Schnell­le­big­keit und kol­lek­ti­ve Ver­ro­hung zu opfern. Ich sehe in der Wie­der­an­eig­nung des per­sön­li­chen Raums und der Zeit durch den Schaf­fens­pro­zess, der wah­ren Ver­wirk­li­chung, den ein­zi­gen Weg, um zu einem not­wen­di­gen Gleich­ge­wicht zurück­zu­fin­den. Mei­ne Arbei­ten hal­ten uns dies stän­dig vor Augen, sie wider­set­zen sich dem phal­li­schen Wahn­sinn unse­rer Zeit. Mein künst­le­ri­scher Schaf­fens­pro­zess drückt die Wei­ge­rung aus, am welt­wei­ten Wahn­sinn teil­zu­neh­men. Eine Wei­ge­rung, die sich in eine pri­vi­le­gier­te Bezie­hung zum Schaf­fen – der Kunst – umsetzt, und zwar auf einer phi­lo­so­phi­schen und mate­ri­el­len Ebe­ne eines har­mo­ni­schen Mit­ein­an­ders im vol­len Bewusst­sein von Raum und Zeit gegen die zeit­ge­nös­si­sche Schizophrenie.

Was wer­den wir vom Kuba-Pavil­lon 2022 lernen?

Das Kuba-Pro­jekt wird sich ganz der Umwelt wid­men und das Bewusst­sein durch ein­ma­li­ge Erfah­run­gen schär­fen, die erst dann par­ti­zi­pa­tiv wer­den. Der Titel DIE NATUR DER DINGE. WELCOME TO GRAN SASSO ist die Zusam­men­fas­sung einer Rei­he von Aus­flü­gen, die ich in den Abruz­zen, in mei­nem Land, auf »mei­nem« Gran Sas­so gemacht habe: Es ist der Berg, den ich täg­lich betrach­te, der durch die Umwelt­ver­schmut­zung gefähr­det ist, denn die ers­ten Glet­scher zie­hen sich bereits zurück. Also ver­su­che ich, ein »Archiv der Zukunft« durch Erkun­dun­gen zu erstel­len, die ich mit einem Freund, einem fach­kun­di­gen Füh­rer, Ales­san­dro Di Fran­ces­co, und einem Foto­gra­fen, Gino Di Pao­lo, durch­füh­re. Mona­te­lang haben wir den Berg erlebt und Pfa­de, Pflan­zen, ein­hei­mi­sche Blu­men kata­lo­gi­siert, um das Bewusst­sein für die Natur zu wecken. Der Inhalt des Pro­jekts wur­de von mir als Künst­ler geschaf­fen, steht dem Betrach­ter jedoch als Mög­lich­keit der Betei­li­gung durch Ideen des Schut­zes und der Erhal­tung zur Ver­fü­gung. Das Publi­kum muss sich in der Tat mit Wer­ken befas­sen, die nicht die natür­li­che Rea­li­tät wie­der­ge­ben, son­dern sozu­sa­gen Dar­stel­lun­gen eines che­mi­schen Pro­zes­ses sind – ver­wirk­licht im Dia­log zwi­schen Gra­phit­bild und Pan­to­ne-Rah­men im Druck – ein Kunst­griff, der die Men­schen dazu ver­lei­ten soll, die irrea­len Bil­der auf den Bild­schir­men zu ver­ges­sen und Orte in der frei­en Natur zu erle­ben, wie­der­zu­ent­de­cken und zu beschützen.

Die Ent­schlüs­se­lung der Ver­gan­gen­heit wird heu­te in Sze­ne gesetzt; dies geschieht gemäß einem Archiv, das eine bewuss­te und selbst­kri­ti­sche Nost­al­gie der Zukunft ist. Stam­po­ne setzt die­ser Ent­schlüs­se­lung den uti­li­ta­ris­ti­schen Sinn für die zwang­haf­te see­len­lo­se Repro­du­zier­bar­keit kol­lek­ti­ver Dyna­mi­ken und Hand­lun­gen ent­ge­gen, die die Welt zer­stört haben, auf der wir woh­nen. Das Unbe­kann­te, das uns so nahe und doch so unklar ist, ist viel­leicht der neue, wah­re Weg der Wie­der­ge­burt, und eine neue Welt kann nur aus dem ent­ste­hen, das wir noch nicht ken­nen, und uns zu einem Null­punkt der Bezie­hung zurück­füh­ren, mit har­mo­ni­scher, ethi­scher und varia­bler Geo­me­trie; die Kunst, die Land­kar­ten der Künst­ler, zei­gen einen Weg, den es zu beschrei­ten gilt, nicht aus Angst vor Ent­de­ckung, son­dern als geeig­ne­tes Instru­men­ta­ri­um für die Rei­se, die wir unbe­dingt unter­neh­men müssen.

Giu­sep­pe Stam­po­ne, Made in Ita­ly, 2012, Bic pen on wood, 220x120 cm, Cour­te­sy of Pro­me­teo Gallery
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ist Kunsthistorikerin, Kuratorin und Kritikerin, Senior Partnerin und Kuratorin von Arteprima Progetti. Redakteurin für ArtsLife, Photolux Magazine, Il Denaro, Ottica Contemporanea, Rivista Segno und andere Zeitschriften. Sie untersucht multidisziplinäre künstlerische Projekte mit den Schwerpunkten Fotografie, darstellende Kunst und Videokunst und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des IAR-Projekts, International Artist Residency. Sie gehört zu den Förderern und Unterzeichnern des Art Thinking Manifesto. Seit 2018 ist sie künstlerische Leiterin der Sektion Fotografie des Festivals VinArte und gemeinsam mit Massimo Mattioli Initiatorin des Projekts Imago Murgantia. Darüber hinaus hat sie im Jahr 2020 eine Zusammenarbeit mit der Kanzlei Studio Jaumann srl begonnen, wobei sie die Welt der Kunst mit der des Rechts und des geistigen Eigentums verbindet.

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