Endecameron – Die Verletzlichkeit als gefährlicher, aber außergewöhnlicher Reichtum.
Die Festung Rocca Sinibalda, ist ein tausend Jahre altes Nationaldenkmal in der Nähe von Rieti (Italien) und ein in Europa sehr seltenes Beispiel einer Festung mit zoomorphischen Figuren: Ihr Grundriss wurde von der Form eines Skorpions inspiriert. Sie rühmt sich, Intellektuelle und Künstler beherbergt zu haben: von Carese Crosby bis Peggy Guggenheim, von Gregory Corso zu Ezra Pound, und Gregory Markopoulos über Judith Malina zu Martin Amis, um nur einige zu nennen. Vor einigen Jahren haben die Eigentümer Enrico Pozzi und Cristina Cenci dort das Projekt Künstlerhaus Endecameron eingeweiht, wobei Bezug genommen wird auf den Decameron, eine Sammlung von hundert Novellen von Giovanni Boccaccio aus dem 14. Jahr-hundert: Eine Gruppe von Jugendlichen, sieben Mädchen und drei Knaben, die sich zehn Tage lang die Zeit in einer abgeschiedenen Villa außerhalb von Florenz vertreiben, um in einem Rei-gen von Geschichten, Geselligkeit, guter Speisen und Erotik der schwarzen Pest zu entfliehen.
”Was geschieht mit der Welt, und in der Villa, wenn der Decameron zu Ende ist, wenn alle Geschichten erzählt sind und wir die schwarze Pest nicht mehr fernhalten können? Aus dieser Fragestellung erhebt sich ein weiterer subtilerer und wichtiger Zweifel, der sich aus meiner Arbeit als Analytiker ergibt. Tobte wirklich die Pest da draußen? Oder waren es nicht immer schon die Gäste aus Stein im Inneren der Villa, diese stille, gespenstische und doch invasive Gegenwart und ständiger Bezugspunkt all dessen, was gesagt und getan wurde? Anders ausgedrückt: Ist das Böse, vor dem wir fliehen wollen, draußen oder irgendwie bereits innen? Aus diesen Gedankenspielen entstand die Idee des Endecameron, des elften Tages, des Tages nach dem Ende der Geschichten und der Rückkehr der Pest, mit allen möglichen Varianten dieses Tags danach.”
Das Thema des Endecameron ergibt sich auch aus der Wahrnehmung der Festung als Bruch zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit. Mit ihrer architektonisch starken, mächtigen, auf der Ebene der Psychologie und des gesellschaftlichen Lebens intrusiven Form stellt sie eine Zäsur dar zwischen sich selbst und dem, was sie umgibt, ähnlich wie das Leben auf einer Insel. Es gibt die Umgebung und das Innere, die Macht der Mauern und dessen, was von außerhalb ein-dringen möchte, aber auch dessen, was vom Inneren nach Draußen gelangt. Die Untersuchung dieser Beziehung war ein erster, bestimmender Ausgangspunkt für die Gliederung des Projekts.
In welcher Form wird in diesem Jahr die Welt um uns herum, das Böse, in der Festung anwesend sein? Und wie wird es das Paradox einer jeden Festung vermeiden können?
”Darüber hinaus ist ein weiterer, subjektiver Aspekt zu beachten. Von Berufs wegen dringe ich in die gedanklichen Räume anderer, aber auch meiner selbst ein, und dieses Eindringen veranlasst mich folglich dazu, zu hinterfragen, was in mir selbst, und was in den anderen vorgeht, und stellt mir das Problem des Inneren aus einer anderen, weniger beruhigenden Perspektive. Und dann gibt es da noch eine andere wichtige Frage, das diffuse Gefühl eines weithin dystopischen Universums. Wenn es mir noch vor einigen Jahrzehnten so vorkam, als hätte ich die Utopie erlebt, so kommt es mir seit einigen Jahren so vor, als würde ich die Dystopie leben. Vieles von dem, was ich lese, und was geschrieben wird, handelt vom Ende der Welt. Und auch von den verschiedenen Formen des Bösen, das sich der Welt bemächtigt.”
Innerhalb der Festungsmauern, im Inneren dieser Raum-Insel, verflechten sich die Ge-schichten ineinander: kultische, musikalische, verbale und performative Erzählungen, die zum Leben erwachen, als wären sie eine Art von Varianten des Decameron von Boccaccio. Mit Versuchen und Irrtümern, zufälligen Montagen und Kombinationen versuchen die Künstler Ordnung ins Chaos zu bringen, das schlussendlich nichts anderes ist als die Manifestation des Bösen. Sie streben den Kosmos an, den Aufbau einer geordneten Welt, in der den Objekten durch fließende Symbole provisorische Formen gegeben werden. Kein formales Spiel um seiner selbst willen, keine Kunst als Selbstzweck, sondern eine ästhetische und künstlerische Art und Weise, über die Wirklichkeit nachzudenken und ihr einen Sinn zu geben. Ihrer Identität getreu, als Ort des Denkens anstelle eines Ortes zum Andenken an längst vergangene Zeiten, von echten oder falschen Rüstungen, von ausgestopften Köpfen oder Burgfahnen gewinnt die Festung ihre ursprüngliche Funktion wieder, als die Hofdamen und Höflinge verschiedene poetische und musikalische Formen erdachten und wird zum Ort, an dem Wissen und Bewusstsein erzeugt werden. Sie wird sozusagen zu einem Labor, das dem Nachdenken gewidmet ist, und an dem auch der teilnimmt, der kein Künstler ist.
Das Projekt der Künstlerhäuser begann im Jahr 2008 mit der ersten Ausgabe, die von der Erzählung „Die Maske des Roten Todes” des amerikanischen Schriftstellers Edgar Allan Poe inspiriert war. Es wurde im nachfolgenden Jahr fortgeführt, um einen Gedanken von Italo Calvino aufzunehmen und über den Tag nach dem Ende der „unsichtbaren Städte” nachzudenken. Und daraus wurde 2020, mitten im Szenarium der Pandemie eine Digital Edition unter der künstlerischen Leitung der Videokünstlerin und Performerin Francesca Fini eine virtuelle Residenz, die sich in einer realen Location entwickelte und in der die künstlerische Reflexion von der metamorphen Identität der Festung ausging. Eine einzigartige Laborerfahrung, in der der Körper immer im Mittelpunkt stand, obwohl er doch nie da war. Oder besser gesagt, nur mittels Versinnbildlichung, Metaphern, Schatten, Phantasmen, digitale Deformationen oder Rekonstruktionen vorhanden war.
”Der Körper ist in jedem Augenblick unseres Lebens unser sehr intimer Weggefährte. Er ist eine tiefe Distorsion unserer Existenzen, die den Körper in einen Drittgegenstand verwandelt, den wir sozusagen von außen bewirtschaften, verwalten, regieren, begleiten, pflegen, lieben und hassen müssen. Und es ist merkwürdig, dass der Körper für mich eine Entdeckung auf verbaler, kognitiver und sogar wissenschaftlicher Ebene ist. Nach einigen Jahren als Soziologe und Sozialpsychologe und einigen Jahren als Psychoanalytiker, der sich mit unbeweglichen Körpern auf einer Couch befasst, die trotzdem so intensiv, lebendig und dynamisch anwesend sind, habe ich feststellen müssen, dass die Soziologie des Körpers nicht existiert. Die Soziologie hat sich nie mit dem Körper befasst, und so habe ich denn vor vielen Jahren den ersten italienischen Essay zum Thema (“Für eine Soziologie des Körpers”) genau deshalb geschrieben, weil ich entdeckte, dass es da ein verlassenes, ein von den Sozialwissenschaften aufgegebenes Gebiet gab, das „zufällig” genau diese Körperlichkeit war. Davon ausgehend habe ich die tiefe Intensität der Beziehung zum Körper wiedergewonnen. Es gibt keinen ausschließlich fleischlichen Körper. Es ist die Zusammenfassung mit Querverweis, wenn auch oft flüchtig, von allem, was uns umgibt, was gesellschaftlich gesehen vorfällt, all das, was in unserem Alltag passiert, all das, was passieren könnte und woran uns der Körper erinnert, dass es passieren sollte. All das ist der Körper, folglich ist diese Obsession für den Körper komplex. Offensichtlich persönlich, wissenschaftlich, psychologisch und emotional. Der Körper hat mit großer Anstrengung den Platz wiedergefunden, den er niemals hätte verlieren dürfen.”
Wenn also der Körper in der Endecameron 20 Digital Edition tatsächlich abwesend, nicht erreichbar, schuldig, deformiert, in jedem Fall jedoch nicht von unmittelbarer Bedeutung war, so gab es doch einen allgegenwärtigen dritten Protagonisten: die Festung. Die nach Haltung, Ergebnissen und Herangehensweise unterschiedlichen Künstler, eine Auswahl, die von An-fang an immer die forma mentis eines jeden miteinbeziehen und das Originelle der individuellen Wege hervorheben wollte, hatten die Aufgabe, die Vorschläge auf Grundlage der ihnen zugewiesenen Zimmer in der Festung auf verschiedenen semantischen Ebenen zu beeinflussen. Diese wurden in jeder Hinsicht zu Orten, die nicht neutral, sondern erfüllt mit einer starken Identität waren, mit der sich jeder der Semionauten auseinandersetzen musste.
“Für 2021 stellen wir uns vor, ein komplexes und kreatives Geflecht zwischen Körpern und Phantasmen von Körpern umzusetzen. Abwesende und anwesende Körper. Körper, die mit Körpern interagieren und Kör-per, die mit anderen Körpern interagieren, die offensichtlich nur Schatten von Bytes sind. Für mich bleibt dabei die große Ausgangsfragestellung im Mittelpunkt: In welcher Form wird in diesem Jahr die Welt um uns herum, das Böse, in der Festung anwesend sein? Und wie wird es das Paradox einer jeden Festung vermeiden können? Denn offensichtlich beschützt die Festung, und genau deshalb, weil sie vor dem Bösen, vor der Außenwelt schützt, bringt sie dich um. Mit dieser Idee sind wir auch in der Zeit, in der wir leben konfrontiert: inwieweit sind wir geschützt, und inwieweit, muss ich mich fragen, sind wir todgeweiht, gerade weil wir so beschützt sind? Mit anderen Worten: Die Verletzlichkeit als gefährlicher, aber außergewöhnlicher Reichtum.“