Endecameron, der Tag nach der letzten Geschichte …

Ende­ca­me­ron – Die Ver­letz­lich­keit als gefähr­li­cher, aber außer­ge­wöhn­li­cher Reichtum.

Die Fes­tung Roc­ca Sini­bal­da, ist ein tau­send Jah­re altes Natio­nal­denk­mal in der Nähe von Rie­ti (Ita­li­en) und ein in Euro­pa sehr sel­te­nes Bei­spiel einer Fes­tung mit zoo­mor­phi­schen Figu­ren: Ihr Grund­riss wur­de von der Form eines Skor­pi­ons inspi­riert. Sie rühmt sich, Intel­lek­tu­el­le und Künst­ler beher­bergt zu haben: von Care­se Crosby bis Peg­gy Gug­gen­heim, von Gre­go­ry Cor­so zu Ezra Pound, und Gre­go­ry Mar­ko­pou­los über Judith Mali­na zu Mar­tin Amis, um nur eini­ge zu nen­nen. Vor eini­gen Jah­ren haben die Eigen­tü­mer Enri­co Poz­zi und Cris­ti­na Cen­ci dort das Pro­jekt Künst­ler­haus Ende­ca­me­ron ein­ge­weiht, wobei Bezug genom­men wird auf den Deca­me­ron, eine Samm­lung von hun­dert Novel­len von Gio­van­ni Boc­c­ac­cio aus dem 14. Jahr-hun­dert: Eine Grup­pe von Jugend­li­chen, sie­ben Mäd­chen und drei Kna­ben, die sich zehn Tage lang die Zeit in einer abge­schie­de­nen Vil­la außer­halb von Flo­renz ver­trei­ben, um in einem Rei-gen von Geschich­ten, Gesel­lig­keit, guter Spei­sen und Ero­tik der schwar­zen Pest zu entfliehen.

”Was geschieht mit der Welt, und in der Vil­la, wenn der Deca­me­ron zu Ende ist, wenn alle Geschich­ten erzählt sind und wir die schwar­ze Pest nicht mehr fern­hal­ten kön­nen? Aus die­ser Fra­ge­stel­lung erhebt sich ein wei­te­rer sub­ti­le­rer und wich­ti­ger Zwei­fel, der sich aus mei­ner Arbeit als Ana­ly­ti­ker ergibt. Tob­te wirk­lich die Pest da drau­ßen? Oder waren es nicht immer schon die Gäs­te aus Stein im Inne­ren der Vil­la, die­se stil­le, gespens­ti­sche und doch inva­si­ve Gegen­wart und stän­di­ger Bezugs­punkt all des­sen, was gesagt und getan wur­de? Anders aus­ge­drückt: Ist das Böse, vor dem wir flie­hen wol­len, drau­ßen oder irgend­wie bereits innen? Aus die­sen Gedan­ken­spie­len ent­stand die Idee des Ende­ca­me­ron, des elf­ten Tages, des Tages nach dem Ende der Geschich­ten und der Rück­kehr der Pest, mit allen mög­li­chen Vari­an­ten die­ses Tags danach.”

Das The­ma des Ende­ca­me­ron ergibt sich auch aus der Wahr­neh­mung der Fes­tung als Bruch zwi­schen inne­rer und äuße­rer Wirk­lich­keit. Mit ihrer archi­tek­to­nisch star­ken, mäch­ti­gen, auf der Ebe­ne der Psy­cho­lo­gie und des gesell­schaft­li­chen Lebens intru­si­ven Form stellt sie eine Zäsur dar zwi­schen sich selbst und dem, was sie umgibt, ähn­lich wie das Leben auf einer Insel. Es gibt die Umge­bung und das Inne­re, die Macht der Mau­ern und des­sen, was von außer­halb ein-drin­gen möch­te, aber auch des­sen, was vom Inne­ren nach Drau­ßen gelangt. Die Unter­su­chung die­ser Bezie­hung war ein ers­ter, bestim­men­der Aus­gangs­punkt für die Glie­de­rung des Projekts.

Ende­ca­me­ron 2020, © Ves­tAnd­Pa­ge, Sara Simeoni, Mari­lyn Arsem, Vere­na Sten­ke in Una per vol­ta – Stir­ring, spin­ning, swee­ping (1992/2020), Video still

In wel­cher Form wird in die­sem Jahr die Welt um uns her­um, das Böse, in der Fes­tung anwe­send sein? Und wie wird es das Para­dox einer jeden Fes­tung ver­mei­den können? 

”Dar­über hin­aus ist ein wei­te­rer, sub­jek­ti­ver Aspekt zu beach­ten. Von Berufs wegen drin­ge ich in die gedank­li­chen Räu­me ande­rer, aber auch mei­ner selbst ein, und die­ses Ein­drin­gen ver­an­lasst mich folg­lich dazu, zu hin­ter­fra­gen, was in mir selbst, und was in den ande­ren vor­geht, und stellt mir das Pro­blem des Inne­ren aus einer ande­ren, weni­ger beru­hi­gen­den Per­spek­ti­ve. Und dann gibt es da noch eine ande­re wich­ti­ge Fra­ge, das dif­fu­se Gefühl eines weit­hin dys­to­pi­schen Uni­ver­sums. Wenn es mir noch vor eini­gen Jahr­zehn­ten so vor­kam, als hät­te ich die Uto­pie erlebt, so kommt es mir seit eini­gen Jah­ren so vor, als wür­de ich die Dys­to­pie leben. Vie­les von dem, was ich lese, und was geschrie­ben wird, han­delt vom Ende der Welt. Und auch von den ver­schie­de­nen For­men des Bösen, das sich der Welt bemächtigt.”

Inner­halb der Fes­tungs­mau­ern, im Inne­ren die­ser Raum-Insel, ver­flech­ten sich die Ge-schich­ten inein­an­der: kul­ti­sche, musi­ka­li­sche, ver­ba­le und per­for­ma­ti­ve Erzäh­lun­gen, die zum Leben erwa­chen, als wären sie eine Art von Vari­an­ten des Deca­me­ron von Boc­c­ac­cio. Mit Ver­su­chen und Irr­tü­mern, zufäl­li­gen Mon­ta­gen und Kom­bi­na­tio­nen ver­su­chen die Künst­ler Ord­nung ins Cha­os zu brin­gen, das schluss­end­lich nichts ande­res ist als die Mani­fes­ta­ti­on des Bösen. Sie stre­ben den Kos­mos an, den Auf­bau einer geord­ne­ten Welt, in der den Objek­ten durch flie­ßen­de Sym­bo­le pro­vi­so­ri­sche For­men gege­ben wer­den. Kein for­ma­les Spiel um sei­ner selbst wil­len, kei­ne Kunst als Selbst­zweck, son­dern eine ästhe­ti­sche und künst­le­ri­sche Art und Wei­se, über die Wirk­lich­keit nach­zu­den­ken und ihr einen Sinn zu geben. Ihrer Iden­ti­tät getreu, als Ort des Den­kens anstel­le eines Ortes zum Andenken an längst ver­gan­ge­ne Zei­ten, von ech­ten oder fal­schen Rüs­tun­gen, von aus­ge­stopf­ten Köp­fen oder Burg­fah­nen gewinnt die Fes­tung ihre ursprüng­li­che Funk­ti­on wie­der, als die Hof­da­men und Höf­lin­ge ver­schie­de­ne poe­ti­sche und musi­ka­li­sche For­men erdach­ten und wird zum Ort, an dem Wis­sen und Bewusst­sein erzeugt wer­den. Sie wird sozu­sa­gen zu einem Labor, das dem Nach­den­ken gewid­met ist, und an dem auch der teil­nimmt, der kein Künst­ler ist.

Das Pro­jekt der Künst­ler­häu­ser begann im Jahr 2008 mit der ers­ten Aus­ga­be, die von der Erzäh­lung „Die Mas­ke des Roten Todes” des ame­ri­ka­ni­schen Schrift­stel­lers Edgar Allan Poe inspi­riert war. Es wur­de im nach­fol­gen­den Jahr fort­ge­führt, um einen Gedan­ken von Italo Cal­vi­no auf­zu­neh­men und über den Tag nach dem Ende der „unsicht­ba­ren Städ­te” nach­zu­den­ken. Und dar­aus wur­de 2020, mit­ten im Sze­na­ri­um der Pan­de­mie eine Digi­tal Edi­ti­on unter der künst­le­ri­schen Lei­tung der Video­künst­le­rin und Per­for­me­rin Fran­ce­s­ca Fini eine vir­tu­el­le Resi­denz, die sich in einer rea­len Loca­ti­on ent­wi­ckel­te und in der die künst­le­ri­sche Refle­xi­on von der meta­mor­phen Iden­ti­tät der Fes­tung aus­ging. Eine ein­zig­ar­ti­ge Labor­er­fah­rung, in der der Kör­per immer im Mit­tel­punkt stand, obwohl er doch nie da war. Oder bes­ser gesagt, nur mit­tels Ver­sinn­bild­li­chung, Meta­phern, Schat­ten, Phan­tas­men, digi­ta­le Defor­ma­tio­nen oder Rekon­struk­tio­nen vor­han­den war.

”Der Kör­per ist in jedem Augen­blick unse­res Lebens unser sehr inti­mer Weg­ge­fähr­te. Er ist eine tie­fe Dis­tor­si­on unse­rer Exis­ten­zen, die den Kör­per in einen Dritt­ge­gen­stand ver­wan­delt, den wir sozu­sa­gen von außen bewirt­schaf­ten, ver­wal­ten, regie­ren, beglei­ten, pfle­gen, lie­ben und has­sen müs­sen. Und es ist merk­wür­dig, dass der Kör­per für mich eine Ent­de­ckung auf ver­ba­ler, kogni­ti­ver und sogar wis­sen­schaft­li­cher Ebe­ne ist. Nach eini­gen Jah­ren als Sozio­lo­ge und Sozi­al­psy­cho­lo­ge und eini­gen Jah­ren als Psy­cho­ana­ly­ti­ker, der sich mit unbe­weg­li­chen Kör­pern auf einer Couch befasst, die trotz­dem so inten­siv, leben­dig und dyna­misch anwe­send sind, habe ich fest­stel­len müs­sen, dass die Sozio­lo­gie des Kör­pers nicht exis­tiert. Die Sozio­lo­gie hat sich nie mit dem Kör­per befasst, und so habe ich denn vor vie­len Jah­ren den ers­ten ita­lie­ni­schen Essay zum The­ma (“Für eine Sozio­lo­gie des Kör­pers”) genau des­halb geschrie­ben, weil ich ent­deck­te, dass es da ein ver­las­se­nes, ein von den Sozi­al­wis­sen­schaf­ten auf­ge­ge­be­nes Gebiet gab, das „zufäl­lig” genau die­se Kör­per­lich­keit war. Davon aus­ge­hend habe ich die tie­fe Inten­si­tät der Bezie­hung zum Kör­per wie­der­ge­won­nen. Es gibt kei­nen aus­schließ­lich fleisch­li­chen Kör­per. Es ist die Zusam­men­fas­sung mit Quer­ver­weis, wenn auch oft flüch­tig, von allem, was uns umgibt, was gesell­schaft­lich gese­hen vor­fällt, all das, was in unse­rem All­tag pas­siert, all das, was pas­sie­ren könn­te und wor­an uns der Kör­per erin­nert, dass es pas­sie­ren soll­te. All das ist der Kör­per, folg­lich ist die­se Obses­si­on für den Kör­per kom­plex. Offen­sicht­lich per­sön­lich, wis­sen­schaft­lich, psy­cho­lo­gisch und emo­tio­nal. Der Kör­per hat mit gro­ßer Anstren­gung den Platz wie­der­ge­fun­den, den er nie­mals hät­te ver­lie­ren dürfen.”

Wenn also der Kör­per in der Ende­ca­me­ron 20 Digi­tal Edi­ti­on tat­säch­lich abwe­send, nicht erreich­bar, schul­dig, defor­miert, in jedem Fall jedoch nicht von unmit­tel­ba­rer Bedeu­tung war, so gab es doch einen all­ge­gen­wär­ti­gen drit­ten Prot­ago­nis­ten: die Fes­tung. Die nach Hal­tung, Ergeb­nis­sen und Her­an­ge­hens­wei­se unter­schied­li­chen Künst­ler, eine Aus­wahl, die von An-fang an immer die for­ma men­tis eines jeden mit­ein­be­zie­hen und das Ori­gi­nel­le der indi­vi­du­el­len Wege her­vor­he­ben woll­te, hat­ten die Auf­ga­be, die Vor­schlä­ge auf Grund­la­ge der ihnen zuge­wie­se­nen Zim­mer in der Fes­tung auf ver­schie­de­nen seman­ti­schen Ebe­nen zu beein­flus­sen. Die­se wur­den in jeder Hin­sicht zu Orten, die nicht neu­tral, son­dern erfüllt mit einer star­ken Iden­ti­tät waren, mit der sich jeder der Semi­onau­ten aus­ein­an­der­set­zen musste.

Für 2021 stel­len wir uns vor, ein kom­ple­xes und krea­ti­ves Geflecht zwi­schen Kör­pern und Phan­tas­men von Kör­pern umzu­set­zen. Abwe­sen­de und anwe­sen­de Kör­per. Kör­per, die mit Kör­pern inter­agie­ren und Kör-per, die mit ande­ren Kör­pern inter­agie­ren, die offen­sicht­lich nur Schat­ten von Bytes sind. Für mich bleibt dabei die gro­ße Aus­gangs­fra­ge­stel­lung im Mit­tel­punkt: In wel­cher Form wird in die­sem Jahr die Welt um uns her­um, das Böse, in der Fes­tung anwe­send sein? Und wie wird es das Para­dox einer jeden Fes­tung ver­mei­den kön­nen? Denn offen­sicht­lich beschützt die Fes­tung, und genau des­halb, weil sie vor dem Bösen, vor der Außen­welt schützt, bringt sie dich um. Mit die­ser Idee sind wir auch in der Zeit, in der wir leben kon­fron­tiert: inwie­weit sind wir geschützt, und inwie­weit, muss ich mich fra­gen, sind wir tod­ge­weiht, gera­de weil wir so beschützt sind? Mit ande­ren Wor­ten: Die Ver­letz­lich­keit als gefähr­li­cher, aber außer­ge­wöhn­li­cher Reichtum.“

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geschrieben von

ist Autorin, unabhängige Kuratorin und Performerin. Sie schreibt für verschiedene Zeitschriften über zeitgenössische Kunst, kuratiert Kunstbücher, Ausstellungskataloge, Ausstellungen der Fotografie und der zeitgenössischen Kunst und verfasst Videokunstkritiken. Seit 2016 ist sie als Performerin tätig. Sie hat an mehreren Videoperformances teilgenommen und öffentliche Performances realisiert, an Kurzfilmen und Filmen mit experimentellem Charakter mitgewirkt, die auf internationalen Festivals präsentiert wurden.

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