Ein Besuch in der Collezione Gaddi
Der toskanische Notar Vittorio Gaddi sammelt seit Anfang der 90er Jahre zeitgenössische Kunst. Sein erster Ankauf war die Skulptur „Die Tochter der Sonne“ des italienischen Künstlers Giò Pomodoro. Danach verlagerte sich seine Aufmerksamkeit auf international aufstrebende Künstler*innen. Darunter ein bemerkenswerter Anteil von über 40 % an weiblichen Positionen.
Vittorio Gaddi hat sich in den letzten 30 Jahren eine umfangreiche zeitgenössische Sammlung von insgesamt rund 400 Werken aufgebaut, darunter Fotografie, Video, Skulptur, Installation, Malerei und auch standortspezifische Projekte. Sein Interesse wird weniger durch einen bestimmten Stil oder ein bestimmtes Medium ausgelöst als vielmehr durch den aktuellen Bezug und die Relevanz eines*r Künstlers*in. Von Anfang an wollte Gaddi seine Sammlung für interessiertes Publikum zugänglich machen. Gegenwärtig ist sie auf dem Jugendstilanwesen aus den 1920er Jahren in der Stadt Lucca und den insgesamt zwei Gebäuden des Landsitzes in Vorno, ganz in der Nähe von Lucca, verteilt und kann an beiden Standorten auf Anfrage besichtigt werden.
Diese Gelegenheit haben wir für die Recherchen zu dieser Ausgabe auch wahrgenommen und sind der Einladung des Sammlers, uns vor Ort ein Bild zu machen, sehr gerne gefolgt. Mehrere Stunden benötigt man, um sich intensiv, sowohl in den Räumlichkeiten in Lucca als auch in jenen in Vorno, mit den Positionen auseinanderzusetzen. Vittorio Gaddi führt professionell durch die Räumlichkeiten – weiß natürlich auch die eine oder andere Anekdote zu erzählen, und man spürt, wie sehr das Sammeln zeitgenössischer Kunst sein Leben erfüllt. Die Rituale des Sammelns sind ihm alle seit Jahrzehnten vertraut: Recherchieren in internationalen Fachmedien, Studieren der Künstler*innenbiographien samt Netzwerk, regelmäßige Besuche auf internationalen Kunstmessen, in Galerien und in Museen, Netzwerkpflege zu anderen Sammler*innen, Kontaktaufnahme zu Künstler*innen, Beratungsgespräche mit anerkannten Galerist*innen und, und, und. Wenn er sich für den Kauf einer Position entscheidet, dann spielt neben der Begeisterung auch die „Vita“ des Werks eine Rolle. Aber auch dieses Gespür für Feinheiten musste sich der Notar erst während seiner Sammlertätigkeit aneignen. Dank der Begegnung mit Bruna Aickelin im Jahr 1997 und seiner Freundschaft zu ihr konnte sich Gaddi zu einem aktiven internationalen Kunstsammler entwickeln. Es war in einer Ausstellung von Vanessa Beecroft.
„Alle Werke waren bereits verkauft, aber nach einiger Zeit gelang es mir, eines zu kaufen, das vom Direktor des Museums von Seattle blockiert worden war, dessen Kauf aber vom Verwaltungsrat des Instituts nicht genehmigt wurde“, erinnert sich Gaddi, vor dem Werk von Beecroft stehend. Der wirtschaftliche Wert eines Werkes ist für den Sammler sekundär, da er nur Werke kauft, die ihn begeistern. Es fällt ihm gerade deshalb auch schwer zu bestimmen, welche er als „zentrale“ Werke seiner Sammlung identifiziert, denn er hätte ein großes Schuldgefühl gegenüber den anderen künstlerischen Positionen. Ein Auswahlkriterium, das er sehr wohl anwendet, ist der Versuch, Künstler*innen auszuwählen, die keine vorübergehenden Phänomene sind, sondern im Laufe der Zeit anerkannt werden. Dabei meint Gaddi nicht so sehr die Anerkennung durch den Markt, sondern durch die Kunstkritiker*innen. „In der Regel wähle ich Künstler*innen aus, die eine Ausstellungsgeschichte haben, auch wenn sie jung sind. Zudem ist mir wichtig, dass sie von soliden Galerien vertreten werden“, erklärt er und fährt fort: „In einem Buch von Angela Vettese habe ich einmal gelesen: ‚Man soll nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Verstand kaufen‘. Ich verfolge eher das Prinzip, dass sowohl der Verstand, als auch das Herz eine Rolle bei der Entscheidung spielen.“ Komplexe Konzeptkunst findet man in seiner Sammlung nicht, denn für ihn muss die bildende Kunst beim Betrachten Emotionen wecken, auch ohne ein vollständiges Verständnis ihrer Bedeutung. Vergleichen lässt sich das für den kunstaffinen Notar mit der Musik von Beethoven. „Wenn ich mir ein Crescendo in seiner Sinfonie anhöre, dann kann mich das an eine Schlacht, ein Gewitter oder an eine eilende Herde von Wildpferden erinnern, aber das Ergebnis ändert sich nicht, in jedem Fall ist es ein Meisterwerk, auch wenn jeder, basierend auf seinen persönlichen Empfindungen, dem Werk eine andere Bedeutung zuordnen kann.“
Wenn ich die Position einmal identifiziert habe, an der ich interessiert bin, muss ich in der Konsequenz auch die Werke identifizieren, die mir besonders gut gefallen, und das sind dann halt häufig die Hauptwerke.
Das grundlegende Interesse Vittorio Gaddis für Kunst ist wohl auf seine Mutter zurückzuführen. „Sie war Malerin, nicht professionell, aber sie hat gemalt. Ich begleitete sie zu Ausstellungsbesuchen großer Künstler wie Mirò und Picasso, und als ich achtzehn Jahre alt war, fühlte ich mich dann besonders von Fontanas und Burris Werk angezogen, das ich zum ersten Mal in der Galerie Falsetti in Prato sah. 1982 unternahm ich dann schließlich meine erste Reise nach Venedig und besuchte die Biennale“, erklärt Gaddi. Genau dort erkannte er seine Sympathie für die Avantgarde, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht ans Sammeln dachte. Während wir die Werke von Künstler*innen wie Mathilde ter Heijne, Liam Gillick, Tony Cragg, Grayson Perry, Peter Halley, Anselm Reyle, Dorothy Iannone, Elisabetta Benassi, Thomas Ruff, Wolfgang Tillmans, Philippe Parreno, Peter Halley, Alicjia Kwade, Mario Garcia Torres, Olafur Eliasson, Alex Da Corte, Anne Imhof, Angela Bulloch, Sue Williams, Isa Genzken, Anri Sala, Kader Attia, Danny McDonald, Leandro Erlich u.v.m. bestaunen, wird uns die Sammlungsstrategie des Vittorio Gaddi im Gespräch mit ihm immer bewusster. Er vermeidet es, Nebenwerke von top-gerankten Künstler*innen zu kaufen, bevorzugt jedoch das Hauptwerk einer weniger berühmten, aber dennoch gültigen und anerkannten Position. „Wenn ich die Position einmal identifiziert habe, an der ich interessiert bin, muss ich in der Konsequenz auch die Werke identifizieren, die mir besonders gut gefallen, und das sind dann halt häufig die Hauptwerke.“ Es ist wie ein inneres Gefühl, das dem Sammler dann ganz klar sagt: „Deve essere mia.“ (Das Werk muss mir gehören.) Manchmal ist es aber auch andersrum, und Gaddi entdeckt beispielsweise auf einer Messe ein Werk, das seine Aufmerksamkeit erregt. Dann folgt das Sammeln der Informationen über den*die Künstler*in. Seine Ambition ist es, Werke von aufstrebenden Künstler*innen zu kaufen, die sich dann mit der Zeit konsolidieren, wie beispielsweise Athena Papadopoulos, Giulia Cenci und Olivia Erlanger.
„Es gibt sehr viele gute Künstler, aber wenige erreichen dann auch tatsächlich den internationalen Durchbruch und können sich über lange Zeit auf hohem Niveau halten.“ Vittorio Gaddi ist sich sicher, dass der Erfolg eines*r Künstler*in nicht nur vom eigenen Talent abhängt, sondern von einer Serie an Faktoren, wie dem Netzwerk, in dem sie sich bewegen, aber auch ein Stück weit vom Glück, das einem widerfährt. Letztendlich ist es eine Mischung aus Reflexion und Passion, die diese beachtliche Sammlung heute ausmacht.
Selbstverständlich sprechen wir mit dem Sammler auch über die Pandemie und ihre Folgen auf den Kunstmarkt: „Dieser Umstand hat jeden Aspekt unseres Lebens revolutioniert und unweigerlich zu erheblichen Veränderungen in der Kunstwelt geführt, und insbesondere, da Sie mich nach meiner Meinung als Sammler fragen, hat sie den Kunstmarkt in all seinen Erscheinungsformen durcheinander gebracht, indem der physische Kontakt zu Werken ausgeschlossen und durch einen digitalen Ansatz ersetzt wurde, die einzig mögliche Form des Überlebens des Marktes zu diesem Zeitpunkt, da die Messen abgesagt wurden und die Galerien erst jetzt und mit einiger Mühe beginnen, neue Ausstellungen zu planen.“ Insbesondere die „Online”- Messen erschienen Gaddi nach den ersten Erfahrungen eher „seelenlos” und den einzige Vorteil, den er erkennen konnte bestand darin, sofort Zugang zu den Preisen aller ausgestellten Werke zu bekommen. Dennoch hat der Sammler auf einer Online-Messe gekauft und zwar das Werk einer kroatischen Künstlerin, Nora Turato, die er vorher nicht kannte und mit dem er sehr zufrieden ist.
Der Notar sieht aber auch die Entwicklung der Jahre vor der Pandemie aus heutiger Sicht kritisch: „Die Kunstwelt in den letzten Jahren hat sich in einer Weise entwickelt, die in vielerlei Hinsicht kritisiert werden kann: Die Ausbreitung von Messen hat beispielsweise Künstler, die von ihren Galerien unter Druck gesetzt wurden, zu einer Überproduktion von Werken auf Kosten der Qualität gezwungen. Darüber hinaus hatte die Abkürzung des Besuchs der Messen (die es erlauben, die Werke vieler Künstler aus aller Welt schnell zu sehen) einen anderen Aspekt benachteiligt, der meiner Meinung nach für das Verständnis der Arbeit von Künstlern wesentlich war: den Besuch von Einzelausstellungen in den Galerien, die in vielen Fällen schon vor der Schließung am Eröffnungstag überfüllt und in den folgenden Tagen fast menschenleer waren. Ohne zu bedenken, dass im Laufe der Zeit, sowohl bei den Messen als auch bei den Eröffnungen der Ausstellungen in den Galerien, der „Society“-Aspekt allmählich eine immer wichtigere Rolle übernommen hatte, zum Nachteil des wirklichen Interesses, das die Messen und Ausstellungen beim Sammler wecken sollten, d.h. die Erforschung und Entdeckung neuer Werke, in die man sich verlieben sollte, um sie in die Sammlung aufzunehmen.“ Vittorio Gaddi hofft, dass die durch die Pandemie verursachte Marktkrise auch positive Auswirkungen hat, eine Verringerung der Zahl der Messen und folglich weniger Druck seitens der Galerien auf die Künstler, damit diese sich freier und weniger seriell ausdrücken können und eine stärkere Beteiligung des Publikums in den Galerien, auch außerhalb des Eröffnungstages, anlässlich von Einzelausstellungen, bei denen es möglich ist, die Kenntnisse über das Werk eines Künstlers zu vertiefen, ohne sich auf die Vision eines einzelnen Werkes zu beschränken. Zudem unterstreicht der Sammler ausdrücklich, dass die Bedeutung des digitalen Angebots auch in der zukünftigen „Post-Pandemie”-Perspektive nicht geleugnet werden kann: „Dies würde bedeuten, den Fortschritt zu verleugnen. Es wäre schön, alle Ausstellungen und Messen, die uns in allen Teilen der Welt interessieren, physisch besuchen zu können, aber dies stellt eine nicht realisierbare Utopie dar. Daher ist es sicherlich ein Vorteil, die Möglichkeit zu haben, mit einem einfachen Klick „virtuell” die Ausstellungen zu besuchen, die an den verschiedensten Orten der Welt stattfinden, und von den Galerien die Bilder der verfügbaren Werke der Künstler zu erhalten, die uns interessieren. Die „physische” Herangehensweise an die Arbeit ist jedoch etwas ganz anderes. Dies gilt insbesondere für bestimmte „Medien” wie die Malerei, bei denen ein enger Kontakt für eine angemessene Bewertung meines Erachtens nahezu unverzichtbar ist.“ Insofern wird Gaddi es auch in Zukunft vorziehen Werke zu kaufen, die er aus der Nähe und nicht nur virtuell sehen kann.
Die „Collezione Gaddi“ verfügt über keine kuratorische Unterstützung. Vittorio Gaddi führt selbst Regie, weil er es eben auch gerne macht. Er entscheidet, was er wann bei wem kauft, wo in den Räumlichkeiten die Werke umgestellt oder umgehängt werden, und wo neue Ankäufe ihren Platz finden. „Ich denke, es ist eine logische Konsequenz, dass die Figur des Sammlers zu der eines Kurators führt. Es sei denn, man ist die Art von Sammler, der sich auf andere verlässt. Wenn ich dabei bin, eine Arbeit zu kaufen, fange ich an darüber nachzudenken, wo ich sie in meinen Räumlichkeiten positionieren könnte. So bereitete mir beispielsweise eine Arbeit von Nairy Baghramian einige Probleme. Zuerst dachte ich daran, die Arbeit im Schlafzimmer im ersten Stock unterzubringen, aber als ich feststellte, dass sie fast 400 Kilo wog, musste ich meine Meinung ändern und über einen anderen Ort nachdenken.“
Auch dafür konnte er eine Lösung finden. Gaddi ist diese kreative Phase vor und während des Aufbaus eines Kunstwerks sehr wichtig, deshalb kuratiert er gerne selbst. Schon beim Ankauf überlegt er nämlich, wie das neue Werk einen Dialog zu jenen Kunstwerken aufbauen kann, die schon da sind, also schon vorher „eingezogen“ sind. Dieser Dialog soll auf ästhetischer Ebene geführt werden. „Bei meiner Inszenierung geht es nicht um eine Assonanz von Bedeutungen, daran bin ich nicht interessiert. Auch aus diesem Grund verlasse ich mich nicht auf externe Kuratoren. Ich möchte federführend sein, zumindest in dieser kreativen Phase möchte ich mir dieses Recht vorbehalten.“ Unser Besuch bei Vittorio Gaddi war ein nachhaltiges Erlebnis, von dem wir und auch alle anderen Besucher*innen noch lange zehren werden. Bemerkenswert ist, wie viel Energie und Leidenschaft dieser Mann in seine Sammlung steckt und welche Wertschätzung er damit jeder einzelnen Position entgegenbringt. Es ist schon jetzt ein Lebenswerk mit zeitgenössischer und zeitgeschichtlicher Relevanz.