Ein Gespräch mit Hubert von Goisern
Was ist wahr? Was ist falsch? Was sitzt schief – und wird es je wieder gerade? Im Lied „Meiner Seel‘“ singt Hubert von Goisern über das Verschwimmen von Wahrheit und Meinung, dass Schwarz und Weiß manchmal eben nur Farben sind, dass man Vertrauen haben soll. Hubert von Goisern vertraut vor allem sich selbst, er geht seinen Weg, auch mit dem neuen Album „Zeichen und Zeiten“, das von Operngesang bis Rap so ziemlich alle musikalischen Genres verbindet. Er ist seit Jahrzehnten einer der bahnbrechenden Liedermacher, hat Ideen, die sonst keiner hat und er inspiriert andere Menschen dazu, ebenfalls ihren eigenen Weg zu gehen. Hubert von Goisern verkörpert den authentischen Pioniergeist eines Künstlers.
Im virtuellen Raum haben wir ihn während der Vorbereitungen dieser Ausgabe getroffen und uns mit ihm über seine Reisen, Erfahrungen, Projekte und die aktuelle Situation unterhalten, die er nutzt, um Zeit in der Natur zu verbringen, in der er aber auch die sozialen Kontakte und Begegnungen misst: „Das Gegenüber zu spüren, das geht mir ab.“ Das Zeitgeschehen beschäftigt ihn als Künstler, aber noch viel mehr als Mensch und mit Nachdruck weist er darauf hin, was die Menschheit jetzt braucht: „Ein neues solidarisches Gefühl, das sich über die ganze Welt erstreckt. Wir hängen alle zusammen, wir haben dieselben Ängste, Hoffnungen und Wünsche, wir wollen eine bestimmte Sicherheit, Aufgaben, die uns fordern und ab und zu ein Fest feiern. Egal wo auf der Welt ich war und bin, wollen die Menschen dasselbe, da brauchen wir keine Feindbilder aufzubauen.“ Bereits als 5‑Jähriger hatte Hubert Achleitner, so lautet sein Geburtsname, den Traum, Dirigent eines Blasmusikorchesters zu werden. Heute ist er zwar nicht Dirigent eines Orchesters, aber er koordiniert viele Musiker um sich herum, die ihn dabei unterstützen, seine Visionen musikalisch umzusetzen. Ein Leben als Dirigent hätte stationär verlaufen müssen, um in einer Dorfgemeinschaft kontinuierlich mitzuwirken. Dazu wäre der junge Hubert nicht fähig gewesen. „Ich bin ein unruhiges Reisewesen und nach wie vor, wenn ich nichts zu tun habe, den-ke ich sofort drüber nach, wo ich denn hingehen könnte, wo es etwas zu tun gibt für mich.“ Genau mit diesem Thema beginnen wir auch unser Gespräch, mit der Reiselust eines Pioniers.
Anfang Ihrer Zwanzigerjahre sind Sie schon um die Welt gereist und haben sich das Reisen – auch in durchaus exotische Gebiete – bis heute beibehalten. Inwiefern ist dieses Kennenlernen anderer Kulturen essentiell für Ihre Musik und Kompositionen?
HUBERT VON GOISERN: Ich weiß gar nicht, in-wieweit es für meine Musik wichtig war, dass ich diese Reisen gemacht habe, aber für mich, für mein Lebensgefühl, für mein Verständnis für diese Welt war es schon wichtig zu sehen, was noch alles möglich ist und diese Buntheit der Welt zu erfahren, diese Verbundenheit zu spüren. Ich denke, dass manche Menschen das nicht benötigen, um ein Weltgefühl aufzubauen, aber ich habe es gebraucht. Es gibt sicher auch Menschen, die ihre Reisen im Kopf machen, Bücher lesen. Ich habe Freunde, die nur kleine Kreise ziehen und ein großartiges Mitgefühl für andere Kulturen haben. Für mich war es wichtig, es am eigenen Leib zu erfahren. Ich mag es gerne, wohin zu gehen, wo ich gezwungen bin, mich an-zupassen und ganz wach zu sein, um zu sehen, was erlaubt ist und was nicht. Zuhause ist das Leben manchmal wie ein Autopilot, man weiß, wo man aufpassen muss und wo man frech sein darf. Wenn man aber woanders ist, sind alle Sinne gefordert und das mag ich sehr. Ich lausche gerne den Geschichten der Menschen und wenn sie neugierig sind, erzähle ich auch gerne meine Geschichte.
Sehen Sie da vielleicht doch eine Brücke zur Musik?
HUBERT VON GOISERN: Beim Komponieren kommt das raus, was in einem drinnen steckt. Es ist ein Lebensgefühl, das sich einen Ausdruck verschafft. Es gibt natürlich viele Instrumente und Klänge, die man auf Reisen hört. Ich mag es aber nicht, alles zu vermischen. Es muss nicht immer eine gegenseitige Befruchtung geben, vielmehr eine gegenseitige Neugier und Respekt. Wohin zu fahren, um dann einen Mikrokosmos zu suchen, wo es so ist, wie man es gewohnt ist, das ist für mich absolut die falsche Art zu reisen.
Auch Tibet und der Dalai Lama sind Teil Ihres Lebens – wie kam es zu dieser Begegnung mit dieser Kultur und was verbinden Sie mit Tibet?
HUBERT VON GOISERN: Zufall. Ich war Ende 1995 in einem Hotel in Saalfelden und habe Musik produziert. Damals gab es noch Fax und jeden Tag eine ganze Wurst Thermofaxrolle mit Zuschriften, die mir Leute geschickt haben, weil sie glaubten, ich sollte mich damit beschäftigen und habe diese an der Rezeption mitgenommen und in den Papierkorb gestopft, ohne irgendetwas zu lesen. Eines Tages stand ein Stück aus dem Mistkübel raus und ich las darauf Tibet. Den Teil habe ich heraus-genommen und ein paar Tage später durchgelesen. Es handelte sich um die Anfrage einer tibetischen Organisation einer Tibeterin, die mich gebeten hat, die Schirmherrschaft für eine Gruppe tibetischer Künstlerinnen und Künstler, Musiker, Tänzer zu übernehmen und zwar auf ihrer Tour durch Österreich. Ich habe dann angerufen und der Dame erklärt, dass ich denke, dass es nicht viel bringen wird, nur meinen Namen auf das Plakat zu setzen, und ihr vorgeschlagen, die Tour als Gastgeber zu begleiten. Das erste Konzert wurde in Telfs gespielt und ich war hin und weg. Zwei Wochen bin ich mit der Künstlergruppe durch Österreich gefahren und je mehr Auftritte ich gesehen habe, desto weniger hatte ich das Gefühl zu verstehen, worum es da geht. Am Anfang war es mystisch, fremd, exotisch und sehr erhebend, aber ich bin nicht dahinter gekommen, wie diese Künstler musizieren und wie sie ihre Kompositionen anlegen und wie sie sich koordinieren, aber ich war fasziniert. Allesamt waren im Exil geboren, also schon ihre Eltern waren nach der Annexion durch China geflüchtet. Diese Leute haben mir viele Geschichten über Tibet erzählt und ich habe gesagt: „Ihr wart selbst noch nie dort und ihr erzählt, wie schlimm die chinesische Herrschaft ist, aber so wie ihr das schildert, ist das sicher übertrieben.“ Als die Tour vorüber war, nur zwei Wochen später, stand ich in Tibet, weil ich neugierig war. Es war leider noch viel schlimmer als in den Erzählungen. Ja, Tibet ist ein großartiges Land und die Tibeter sind es ebenso, aber dieses beklemmende Gefühl der Unfreiheit ist omnipräsent: diese unglaubliche Arroganz der chinesischen Besatzung, ich erlebte die meisten als chauvinistische Kotz-brocken, so wie sie mit den Einheimischen um-gingen. Jeder Chinese ist nur dort, um gutes Geld zu verdienen. Aber das Land ist bei aller Schön- und Erhabenheit karg und hart, wenn du das nicht magst, dann bekommt es dir nicht gut. Die Chinesen haben das Land gehasst. Tibet ist eine große Wunde, und leider nicht die einzige dieser Welt.
Als Pionier muss man immer bereit sein, ein Tabu zu brechen. Einige Leute fühlen sich dann unter Umständen bedroht, weil sie denken, es ist ein augenzwinkernder Aufruf, dieser Idee ebenfalls zu folgen, was es aber nicht ist.
IIhre Kunst hat eindeutig Pioniergeist, weshalb wir Sie als Gesprächspartner zu dieser Ausgabe eingeladen haben. Pioniere haben es ja in der Regel nicht einfach, weil sie sich getrieben von Neugier auf Wege begeben, die noch nicht existieren. Da stößt man auch manch-mal auf Widerstand, Kritik und Unverständnis. Würden Sie dem zustimmen oder war Ihr Weg als Pionier anders?
HUBERT VON GOISERN: Dem stimme ich schon zu, aber es ist kein Leidensweg! Das ist eben das Milieu, in dem man als Pionier lebt. Ich kann nicht damit rechnen, dass ich etwas mache, was noch keiner gemacht hat und es dann alle ganz toll finden und sagen: „Ja unbedingt, das brauchen wir!“ Bei manchen löst es Neid aus, weil sie auch gerne auf diese Idee gekommen wären und da hätte man dann lieber, dass sich alle an diese Tabus halten. Als Pionier muss man immer bereit sein, ein Tabu zu brechen. Einige Leute fühlen sich dann unter Umständen bedroht, weil sie denken, es ist ein augenzwinkernder Aufruf, dieser Idee ebenfalls zu folgen, was es aber nicht ist. Ich möchte meinen Ideen folgen, musizieren und komponieren, wie ich das möchte. Ich bin froh, wenn ich der Einzige bin, der so einen Stil verfolgt und dass ich einige Menschen inspiriere und zwar dazu, den eigenen Weg zu gehen und nicht den meinen.
So war es doch auch mit der Ziehharmonika – die ist doch durch Ihr Zutun in ein anderes Licht gerückt worden. Wie haben Sie sich mit diesem Instrument angefreundet?
HUBERT VON GOISERN: Ja, das ist bekannt, dass ich dafür lange gebraucht habe, weil die Ziehharmonika für mich das Sinnbild des ewig Gestrigen und Verstaubten war. Inzwischen hat sich das schon verändert und ich glaube, da habe ich vielleicht einen kleinen Beitrag dazu geleistet, dieses Instrument rauszuholen aus seiner verstaubten Ecke. Das war am Anfang auch unser Spruch: „Wir ziehen den Rechten die Lederhosen aus und nehmen ihnen die Ziehharmonika weg.“ Das war natürlich ein Blödsinn, dieser Spruch, aber er hat uns damals gefallen. Ich möchte niemandem irgendetwas wegnehmen und schon gar nicht eine Hose ausziehen. Ich glaube, dass musikalische Traditionen so etwas wie Sprachen sind, manche erstarren und sterben aus, manche verändern sich und leben weiter. Mich interessiert das Weiterführende, also die Veränderung der Traditionen.
Sie schaffen es, mit wertvoller authentischer Musikkultur die Charts zu stürmen – das ist nicht einfach, denn Massen bewegt man in der Musikszene zunehmend einfacher mit banalen Melodien und einfachen Liedtexten. Wie schaffen Sie das, Ihre Zuhörer zwar zu fordern, aber nicht zu überfordern – was ist das Geheimnis?
HUBERT VON GOISERN: Ich habe kein Geheimnis und das bestätigt sich auch mit dem aktuellen Album, denn das überfordert die meisten Leute, auch so manchen Kritiker. Gott sei Dank nicht alle! Ich habe die Menschen immer gefordert, weil ich mich selbst auch herausfordere. Ich möchte nicht in ein Konzert gehen, wo ich genau weiß, was da passiert. Ich mag mich verzaubern lassen und um verzaubert zu werden, braucht es auch die eigene Anstrengung. Das wird ohne eigenes Zutun nicht passieren und das empfinden dann manche Menschen als Anstrengung, aber eine Anstrengung ist einfach unumgänglich. Wir kommen ohne Anstrengung gar nicht zur Welt. Die Geburt ist eine unglaubliche Anstrengung sowohl für die Mutter als auch für das Kind. Auf einen Berg zu gehen und oben zu stehen und dieses erhabene Gefühl zu erleben, das geht ohne Anstrengung nicht. Bei der Kunst ist es genauso. Du musst dich in dein Kunstwerk hineinarbeiten, durch Zuhören, durch Aufmachen und durch die Bereitschaft, dass mit dir jetzt auch etwas passiert. Ich glaube das letzte Album ist genau so – in jede Komposition ist eine Aufgabe verwoben. Ich mag Musik, die man sich öfter anhören muss und immer wieder etwas entdecken kann, und ich schreibe Musik, die mir selbst gefällt, und die ist eben etwas anstrengend. Ab und zu passiert mir so etwas wie „Heast es net“ oder „Weit, weit weg“ oder „Brenna tuat‘s schon lang“ – aber die meisten Sachen sind nicht so schlüpfrig. (lacht)
Lassen Sie uns gerne beim aktuellen Album „Zeiten & Zeichen“ bleiben. Es ist freudvoll und dynamisch, aber auch durchaus kritisch. Welche Ideen bündeln Sie darin? Es klingt ja danach, als hätten Sie eine Vorahnung gehabt, was auf die Menschheit zukommt?
HUBERT VON GOISERN: Ja, das Gefühl hatte ich dann auch, wie alles fertig war – sehr prophetisch, aber ich weise den Gedanken von mir, dass ich etwas Prophetisches habe. Ich glaube, dass alle Künstler und auch sensible Menschen so etwas wie den Pulsschlag des Weltgeists fühlen und man hatte ja wirklich schon ein paar Jahrzehnte das Gefühl, es kann nicht so weitergehen. So wie wir uns beim Verkehr immer dachten, es kann nicht „mehr“ werden und dann ist es trotzdem immer mehr geworden. So ist es auch mit der Umweltzerstörung, oder wie viele Leute auf der Strecke bleiben und eben nichts von dieser Globalisierung haben, die Schere geht immer weiter auseinander. Es kann nicht so weitergehen! Es fühlt sich manchmal so an, als würde sich die Welt als Organismus wehren, die sich sagt: „Jetzt fahren wir da mal mit einem Virus rein.“ Ohne Leidensdruck passiert bei den Menschen gar nichts, die meisten fangen erst zum Beten an, wenn sie wissen, dass sie bald sterben. Ich habe als Künstler das, was da war, umgesetzt in Texte und in Musik und dass es dann so treffsicher ist, was dann ein halbes Jahr später eintritt, ist erstaunlich, aber nichts, worauf ich mir was einbilde, denn ich hätte es auch lieber anders.
Das Album Cover von „Zeiten & Zeichen“ hat uns überrascht, Hubert von Goisern verewigt auf einem Graffiti an einer bröckelnden Hauswand – können Sie uns dazu etwas sagen, warum wurde dieses Sujet gewählt?
HUBERT VON GOISERN: Ich wollte das genauso haben. Ich wollte ein Graffiti haben, passend zum Titel des Albums, Zeichen an den Wänden. Ich bin ein großer Fan von Banksy, mir gefällt dieses Zweidimensionale, in dem man als Betrachter erst die dritte Dimension dazu bringt. Robert Rottensteiner hat das Graffiti entworfen und Stefan Wascher das Composing umgesetzt. Ich freue mich sehr, dass diese Idee so aufgegangen ist und dass die kreativen Grafiker auch etwas damit anfangen konnten. Am liebsten hätte ich es tatsächlich gerne als Original auf der Wand, aber das ist zu aufwendig, weil dieses Gebäude, das eine alte Brauerei ist, wahrscheinlich bald weggerissen wird.
Auf Ihrem Album tauschen Sie sich auch intensiv mit anderen Künstlern aus – das war doch wahnsinnig aufwendig, oder?
HUBERT VON GOISERN: Das hat sich alles ergeben. Mit vielen Künstlern wollte ich schon länger etwas gemeinsam machen und manche Begegnungen haben dann zu Möglichkeiten geführt, die ich ergriffen habe. Als würde man einen großen Fluss mit Stromschnellen hinuntertanzen und die Chance unterzugehen ist eigentlich viel größer, als dass man da durchkommt, und trotzdem ging alles wie von selbst. Das ist richtig geflutscht. Es gab wenige Produktionen, die unter einem so guten Stern standen, als letzten Endes diese Covid-Geschichte während des Mischens dazu kam, dachte ich mir, hab ich ein Glück, dass ich mich mit dieser Musik komplett zurückziehen und sie ohne Ablenkung fertig-stellen kann. Die Kompositionen sind über einen langen Zeitraum entstanden, ich würde sagen, vier Jahre, wo ich mir die Ideen notiert habe, die ich hatte. Als die Produktion startete, habe ich mir mit meinem Koproduzenten und Toningenieur zusammen die Songideen durchgehört und die Entscheidung getroffen, was aufs Album kommt. Die älteste Idee ist die Goethe Vertonung „Glück ohne Ruh“, die geht zurück auf 1988.
Flüchtig“ ist der Titel des ersten Romans aus der Feder von Hubert Achleitner. Es ist bekannt, dass Sie sehr gerne schreiben und sehr belesen sind – wieso haben Sie sich für die Romanform entschieden, wie lange haben Sie daran gearbeitet und welche Herausforderungen sind damit einhergegangen?
HUBERT VON GOISERN: Es waren zwei Jahre Schreibarbeit, wo ich eigentlich nichts anderes gemacht habe als an diesem Roman zu arbeiten. Meine Gedanken sind zwei Jahre nur um diesen Roman gekreist. Was aber nicht heißt, dass es nur die zwei Jahre waren. Ich habe mir in den Jahren zuvor während der Tour und während des Musizierens immer wieder Gedanken gemacht, wie ich das angehen könnte. Dass ich einen Roman schreiben wollte, das war mir bereits seit 20 Jahren klar, dass ich das probieren möchte, aber am Anfang war ich mir nicht sicher, ob ich es auch kann. Eine Geschichte erfinden, Charaktere kreieren, die eine Rolle spielen lassen, das wäre schön. Irgendwann habe ich mir dann gesagt – kein Problem, das mache ich, aber dann hat es noch einige Jahre gedauert, bis es tatsächlich zur Umsetzung kam. Diese Herausforderung war es mir wert, mich zurück-zuziehen und daran zu arbeiten. Ähnlich einer Expedition, um einen richtig großen Berg zu besteigen. Man bereitet sich darauf vor und dann liegt es an der Disziplin, was noch lange nicht heißt, dass etwas raus kommt, das auch brauch-bar ist. Das wusste ich bis zum Schluss tatsächlich nicht.
Ist es eine einmalige Aktion oder werden noch weitere Romane erscheinen?
HUBERT VON GOISERN: Ich weiß es nicht. Auf den Geschmack des Schreibens bin ich schon gekommen, weil es eine Tätigkeit ist, bei der man sich mit niemandem koordinieren muss. Natürlich mit der Familie, mit der Frau, aber ansonsten ist es toll. Wenn du alleine bist und niemandem Rechenschaft schuldig bist, ist das Arbeiten ein anderes. Jetzt habe ich ehrlich gesagt etwas Schiss davor, weil der erste Roman so gut aufgegangen ist und ich nicht weiß, ob ich das jemals wieder hinbekomme, es ist auch noch zu nahe. Hinter mir liegen ein paar Jahre intensives Schreiben und Produzieren und jetzt mit dieser pandemischen Stimmung habe ich auch das Gefühl, dass es gerade um was anderes geht als fiebrige Produktivität, nämlich um mehr Gelassenheit.
Als Künstler möchten Sie Geschichten erzählen, die Zuhörer auf eine Reise mitnehmen. Gerade in Zeiten wie diesen ist es wichtig, dass Kunst und Musik nicht verstummen, sondern für Menschen zugänglich bleiben. Wie sehen Sie die Rolle der Künstlerschaft aktuell?
HUBERT VON GOISERN: Da bin ich befangen. Wenn du den Schuster fragst, wie er sein Gewerbe sieht, dann wird er sagen, dass es ganz wichtig ist, dass jeder einen guten Schuh trägt. Das ist auch gar nicht von der Hand zu weisen, dass das so ist. In der Kunst ist alles un-greifbarer und nicht genau einzugrenzen, was es denn bedeutet. Es gibt anscheinend 5 % der Menschen, die mit Musik überhaupt nichts an-fangen können – egal, was man vorspielt, es löst nichts aus. Das gibt es. Das ist jetzt sicher keine klare Trennlinie. Es bedeutet manchen sehr viel und anderen eben weniger. Es ist schwer zu sagen, dass Kunst wichtig ist. Für mich ist es das schon und ich glaube, dass es für die Menschheit wichtig ist, weil Künstler sind schon so was wie eine Art von Medizinmann, Medizinfrau. Es ist halt eine andere Form von Medizin, die die Kunst überreicht. Jetzt gibt es aber so schon viele Leute, die mit der Homöopathie nichts anfangen können und nochmals so viele wird es geben, die mit der Kunst nichts anfangen können. Tatsache ist schon, dass es Dinge gibt, die jenseits des Greifbaren und Erklärbaren liegen und da setzt die Kunst an. Die Kunst ist ein Fenster in der Mauer des Verstehens. Kunst hat mit Polaritäten zu tun, mit Schwingungen, Rhythmus und ineinanderfließenden Mustern. Die Kunst der Kunst ist nicht, was es ist, sondern was es mit dir macht. Sie ist eine Möglichkeit, über den Schatten des Greifbaren und Erklärbaren zu springen.
Der Artikel ist in der Print-Ausgabe 1.21 Pioneering erschienen.