Die Vielfalt und Einheit des Seins

Lena Salavei: Die Architektur in der Kunst oder die Kunst in der Architektur?

Das gra­fi­sche Werk der Archi­tek­tin und Künst­le­rin Lena Sala­vei ist ein ori­gi­nel­les Phä­no­men in der bil­den­den Kunst. Die post­mo­der­ne Wahr­neh­mung der Welt, eine induk­ti­ve Schaf­fens­me­tho­de, ein Rück­griff auf das phi­lo­so­phi­sche Ver­ständ­nis des Seins, ver­bun­den mit Ori­gi­na­li­tät und Inno­va­ti­on des Stils, ver­lei­hen ihren gra­fi­schen Wer­ken eine Fri­sche und die Nicht­tri­via­li­tät der künst­le­ri­schen Inter­pre­ta­ti­on. Sie defi­niert eine fei­ne Linie zwi­schen dem rea­len und dem abs­trak­ten Bild, die auf der Suche nach dem pri­mä­ren Ele­ment allen Seins beruht. Sala­vei kopiert nicht die umge­ben­de Wirk­lich­keit, son­dern stellt jene figu­ra­ti­ven Struk­tu­ren wie­der her, die unbe­wusst ent­ste­hen, wäh­rend sie die Ele­men­te der umge­ben­den Welt wahrnimmt.

Das Wesen der Natur und das Wesen einer bestimm­ten Per­son finden ihre voll­stän­di­ge, ganz­heit­li­che Ver­kör­pe­rung im Zei­chen – dem seman­ti­schen Korn, in dem das Mys­te­ri­um des Lebens sei­nen Ursprung hat. Die von Sala­vei vor­ge­schla­ge­ne Rea­li­tät erscheint in ihren grafi­schen Arbei­ten als kom­plex, leben­dig, facet­ten­reich, gewebt aus dis­pa­ra­ten Phä­no­me­nen, die zu einem ein­zi­gen Gewe­be eines künst­le­ri­schen Bil­des ver­wo­ben sind.

METAMORPHOSEN

In der Arbeit „Meta­mor­pho­sen“ stel­len Col­la­ge und Mosa­ik der kom­po­si­to­ri­schen Struk­tur die umge­ben­de Wirk­lich­keit als eine Men­ge uni­ver­sel­ler Codes dar, die im Zusam­men­spiel mit­ein­an­der ein inte­grier­tes, facet­ten­rei­ches Sys­tem des Seins bil­den. Bil­der von Men­schen und Tie­ren, durch­setzt mit Buch-sta­ben und Text­frag­men­ten, erlau­ben uns, über die Inter­tex­tua­li­tät von „Meta­mor­pho­sen“ zu spre­chen. In sti­lis­ti­scher und metho­do­lo­gi­scher Hin­sicht steht sie dem grafi­schen Werk des deut­schen Expres­sio­nis­ten Otto Dix und der „ana­ly­ti­schen Kunst“ von Pavel Filonov nahe.

Meer­jung­frau­en und Vögel, 2018, 300x200 cm (Tusche, Papier)

Sala­vei kopiert nicht die umge­ben­de Wirk­lich­keit, son­dern stellt jene figu­ra­ti­ven Struk­tu­ren wie­der her, die unbe­wusst ent­ste­hen, wäh­rend sie die Ele­men­te der umge­ben­den Welt wahrnimmt. 

Lena Sala­vei

MEERJUNGFRAUEN UND VÖGEL

Mann und Frau … Bezie­hun­gen, Ein­heit und Kampf der Gegen­sät­ze. Ein ewi­ges The­ma, das die Künstler*innen ver­schie­dens­ter Epo­chen als Grund­la­ge für ihre Bild­mo­ti­ve wähl­ten. In ihrem Werk „Meer-jung­frau­en und Vögel“ bewegt sich Sala­vei von der all­ge­mei­nen Ebe­ne auf eine beson­de­re, ver­sucht nicht den Unter­schied der Anti­po­den, son­dern die dua­le Natur jeder Per­son zu zei­gen, in der männ­li­che und weib­li­che Prin­zi­pi­en auf der phy­si­schen und psy­chi­schen Ebe­ne inter­agie­ren. Das Ver­ständ­nis der Moder­ne durch die Folk­lo­re­t­ra­di­ti­on erlaubt es, tie­fer in die Ursprün­ge des Seins ein­zu­drin­gen und so die struk­tu­rel­len Bezie­hun­gen zwi­schen Indi­vi­du­um, Gesell­schaft und Natur, Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart aufzudecken.

TROPISCHE SERIE

Die „Tro­pi­sche Serie“ ist eine Syn­the­se von Wer­ken, die paar­wei­se in sechs seman­ti­sche Blö­cke unter­teilt sind. Mono­chrom-Foto­grafien und grafi­sche Dar­stel­lun­gen von Bäu­men und Pflan­zen, die kom­ple­xe und manch­mal wider­sprüch­li­che Pro­zes­se und „Bezie­hun­gen“ in der Natur auf­zei­gen. Mit der Skru­pel­lo­sig­keit eines wis­sen­schaft­li­chen For­schers ana­ly­siert Sala­vei im Detail die sub­tils­ten Ener­gie­strö-me der Natur – die Struk­tu­ren, in denen die Keim­bil­dung, Ent­wick­lung und Aus­lö­schung von Leben stat­tfin­den. Die Foto­grafien der Tro­pen­rei­he zei­gen einen Gene­ral­plan des Objekts, der als Grund­la­ge für wei­te­re phi­lo­so­phi­sche und künst­le­ri­sche Über­le­gun­gen dient. Grafi­schen Bil­dern wird die­ser Gedan-ke kon­kre­ti­siert, erfüllt von einem spi­ri­tu­el­len, meta- phy­si­schen Prinzip.

So wird eine bio­lo­gi­sche Zel­le, die hier in der Viel­falt und Varia­bi­li­tät ihrer Arten dar­ge­stellt wird, mit dem Stamm­va­ter aller Din­ge gleich­ge­setzt und ist daher mit einer beson­de­ren sym­bo­li­schen Bedeu­tung aus­ge­stat­tet. Die Viel­falt und Ein­heit des Seins mani­fes­tie­ren sich hier im Prin­zip in der engen Ver­flech­tung von Makro- und Mikro­welt, ergän­zen, in der Ein­zig­ar­tig­keit jedes Ele­ments. Die Natur, so die Künst­le­rin, ist ein leben­di­ger Orga­nis­mus, die durch die glei­chen Ent­wick­lungs­sta­di­en wie jene der Men­schen gekenn­zeich­net ist.

SERIE „MOUNTAINS“

Die Grund­la­ge der the­ma­ti­schen Rei­he „Ber­ge“ bil­den die phi­lo­so­phi­schen Gedan­ken der Künst­le­rin über die Ein­heit von Leben und Tod, über die Zer­brech­lich­keit und Unend­lich­keit aller Din­ge, über den Fluss natür­li­cher Lebens­for­men in eine ande­re ener­ge­ti­sche Legie­rung, über die Unbe­re­chen­bar­keit des spi­ri­tu­el­len Weges. In den Augen Sala­veis hat jeder Berg, wie eine Per­son, eine beson­de­re Ein­zig­ar­tig­keit, ein eige­nes ein­präg­sa­mes „Gesicht“. Die tech­ni­sche Sei­te der Auf­füh­rung ist mit einer Viel­zahl von rhyth­mi­schen Struk­tu­ren gespickt.

Sie ver­bin­det har­mo­nisch die Sub­ti­li­tät der tona­len Fle­cken mit einem mäan­dern­den, dyna­mi-schen Anschlag. Alle Lini­en grei­fen in der wir­beln­den Bewe­gung inein­an­der. Die Prä­senz ver­ti­ka­ler, hori­zon­ta­ler und dia­go­na­ler Lini­en in den Wer­ken wird sym­bo­lisch mit den onto­lo­gi­schen Kon­zep­ten des Oben und Unten, des Gött­li­chen und des Welt­li­chen ver­gli­chen, zwi­schen denen das wirk­li­che Leben von Natur und Mensch fließt. Der arche­ty­pi­schen Logik fol­gend, inter­pre­tiert Sala­vei den Berg als eine Welt­ach­se, die mit dem bibli­schen Baum der Erkennt­nis iden­ti­fi­ziert wird. Auf der ande­ren Sei­te sind in den gra­fi­schen Wer­ken der Künst­le­rin der Ein­fluss öst­li­cher Kul­tu­ren, ins­be­son­de­re des Bud­dhis­mus und Tao­is­mus, spür­bar. Medi­ta­ti­on, Kon­tem­pla­ti­on, spi­ri­tu­el­les Wachs­tum und damit das Erwa­chen, bestim­men den Sym­bol­cha­rak­ter der Gra­fi­ken. Iko­no­gra­phisch ste­hen die Wer­ke der Serie dem Gen­re der tra­di­tio­nel­len chi­ne­si­schen Male­rei, dem Shan-Shui („Was­ser­ber­ge“), nahe, in dem die Land­schaft nicht nur ein Spie­gel­bild der Natur war, son­dern auch ein phi­lo­so­phi­sches Bild der Welt ver­kör­per­te. So ver­kör­per­te der lee­re Raum um natür­li­che Objek­te (Ber­ge, Flüs­se) die Idee des Tao, die nach den Leh­ren des Lao­tse Tzu „neb­lig und unbe­stimmt ist, aber die Din­ge sind in ihrem Nebel und ihrer Unge­wiss­heit ver­bor­gen.“ In den Wer­ken von Sala­vei ist der Raum ein lee­res Blatt und dient als pri­mä­res Medi­um, in dem gra­fi­sche Bil­der gebo­ren wer­den. The­ma­tisch knüpft die Serie „Ber­ge“ an das Werk von Vin­cent Van Gogh, Niko­laj Kon­stan­ti­no­vic Roe­rich, Kat­su­shi­ka Hoku­sai, Utag­awa Hiro­shi­ge an, was wie­der­um den Wer­ken der Künst­le­rin einen beson­de­ren Nach­ge­schmack und ästhe­ti­schen Reiz verleiht.

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geschrieben von

Sie ist Kunstkritikerin, Kulturologin und Mitglied des Belarussischen Künstlerverbandes.

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