Interview mit Bettina von Zwehl
Schloss Ambras in Innsbruck gilt als das älteste Museum der Welt und enthält die einzige noch am Ort erhaltene Kunst- und Wunderkammer der Renaissance. Sie repräsentiert den Beginn des modernen Museumswesens. Bettina von Zwehl setzte sich im Rahmen der Reihe INN SITU mit der Geschichte, Architektur und den Werken der Ambraser Sammlung auseinander und portraitierte für die Umsetzung ihrer eigenen Interpretation einer Wunderkammer Schülerinnen eines Fachgymnasiums in Innsbruck. Sowohl die Auseinandersetzung mit der Institution Museum als auch der Prozess des Abbildens stehen für zwei Hauptstränge in der Arbeit der Künstlerin.
Die Wundkammern der Bettina von Zwehl sind ihr Atelier und die Dunkelkammer. Hier wird akribisch entwickelt, aber auch spontan gerissen oder geschnitten, gestaltet und zerstört. Wir erreichen Bettina von Zwehl in London, wo sie lebt und arbeitet, um in einem Interview mehr über das aktuelle Projekt Wunderkammer und Ihre Arbeit zu erfahren.
Dieses Jahr war für alle außergewöhnlich. Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir alle einen Lockdown erlebt. Wie sind Sie damit umgegangen bzw. wie würden Sie die Situation in London derzeit beschreiben?
BETTINA VON ZWEHL: Meine Arbeitsroutine hat sich nicht dramatisch verändert. Als Künstlerin bin ich sowieso ziemlich isoliert, weil ich im Studio oder in meiner Dunkelkammer arbeite, in der ich die meiste Zeit allein verbringe oder mit unserem Dackel „Lucy“. Andererseits hat diese isolierte Arbeitsweise den Nachteil, dass es keinen Austausch mit anderen Künstler*innen gibt, keine Studiobesuche, und keine Diskussionen – die sonst ein wichtiger Bestandteil in meinem Arbeitsrhythmus sind. Es schwebt nach wie vor totale Ungewissheit in der Luft, gemischt mit der Angst vor einem zukünftigen Planeten, der durch den Klimawandel unbewohnbar wird. Aber Kunst und Künstler*innen sind widerstandsfähig – das zeigt uns die Kunstgeschichte.
Ihre unverwechselbaren Profilansichten und Silhouetten machten Sie international bekannt. Können Sie uns Ihre Herangehensweise zu einem Porträt skizzieren?
BETTINA VON ZWEHL: Meine Absicht ist es, diese Herangehensweise immer wieder zu hinterfragen und zu verändern. Die Profilansicht und die Silhouette ziehen sich wie ein roter Faden durch meine Arbeiten der letzten 20 Jahre und mit jedem Profil suche ich eine neue Verbindungslinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Profilansicht des Gesichts, die so viel verbirgt, wie sie offenbart, entzieht sich unserer Tendenz, einen inneren Geisteszustand anhand von äußeren Merkmalen zu interpretieren. Wir leben in einer Zeit, wo alles ins Licht gerückt wird durch Social Media, CCTV und Google weiß inzwischen mehr über uns als unsere Eltern – da scheint es mir besonders relevant, der Person im Studio eine gewisse Art von Dunkelheit zu erlauben. In dieser Hinsicht hat die Silhouette (mit Detail im Schattenbereich) als Darstellung einer Person etwas Unkompliziertes und Privates. Schloss Ambras in Innsbruck gilt als das älteste Museum der Welt und enthält die einzige noch am Ort erhaltene Kunst- und Wunderkammer der Renaissance.
Sie sind Liebhaberin der Miniaturporträts aus dem 16ten Jahrhundert, wie jene von Hans Holbein, Nicholas Hilliard oder Isaac Oliver. Was fasziniert Sie daran?
BETTINA VON ZWEHL: Ich bin den Miniaturportraits von Hans Holbein zum ersten Mal im Victoria und Albert Museum begegnet, das war 2011, als ich dort Artist in Residence war und mich dort auf das Thema der Miniaturen spezialisierte. Die Miniatur bringt das Foto zu seinen frühesten Inkarnationen zurück, verdichtet Informationen, verfeinert sie zu einer Detaildichte, die den*die Betrachter*in näherbringt, und erinnert uns daran, dass die Geschichte des fotografischen Objekts mit Halten und Berühren verbunden ist. Dann fasziniert mich daran auch die Geschichte der Miniaturportraits – als Geschenk, als Geheimnis oder als Mittel zur Propaganda am Königshof von Tudor England. Mich interessiert auch die dunklere, blutige Vergangenheit dieser Objekte: Versteckt ist sie in dem Material, auf dem Miniaturen seit Beginn des 18. Jahrhunderts gemalt wurden – Elfenbein – das wiederum ist mit Elefanten-Abschlachtung und Sklavenhandel der Kolonialzeit verstrickt. Hinter jedem Miniaturportrait steckt eine komplexe Geschichte, die uns über Rasse, Repräsentation und Macht nachdenken lässt.

Egal welches Thema die Kunst behandelt, dahinter verbirgt sich eine andere unbewusste Wahrheit, die selbst dem*der Künstler*in verschlossen bleibt.
Porträts wurden in der Vergangenheit (z. B. Kaiser Maximilian) und werden auch heute noch für Propaganda eingesetzt. Was gilt es bei der Inszenierung eines Porträts zu beachten und welche Verantwortung kommt auf Sie als Künstlerin in so einem Prozess zu?
BETTINA VON ZWEHL: Die Verantwortung in dem Prozess besteht vielleicht darin, die Echos der Kolonialzeit, der sozialen Elite und der Aristokratie zu verschmelzen und zu betonen, sie aber auch zu verschlüsseln, um jedes Portrait und die Installation als Ganze, in eine kraftvolle zeitgenössische Aussage umzuwandeln. Formal achte ich sehr auf Symmetrie und klare Linien, eine Lichtquelle reicht meistens. Etwas zu schaffen, was über die Person im Bild und mich als Künstlerin herauswachsen kann und die Würde des Menschen beibehält – auch, wenn das Bild angerissen und angeschnitten und in gewissem Sinne „zerstört“ ist.
Ein Museum repräsentiert die Herrschaft des gesellschaftlichen Machtdiskurses – wer darin gezeigt wird und wer oder was abwesend ist. Was ist in Ihrer Wunderkammer anders als in jener in Ambras und welche Verbindung lässt sich dennoch herstellen?
BETTINA VON ZWEHL: Als die Wunderkammer in Ambras entstanden ist, wussten die Menschen noch sehr wenig über das Meer, die Natur, die Wissenschaft und unseren Planeten. Die ideale Kunstkammer stellte den Versuch dar, auf engem Raum ein Gesamtbild der Welt zu erzeugen. In meiner Interpretation der klassischen »männlichen« Kunst- und Wunderkammer werden Themen wie Kindheit, die menschliche Psyche sowie die Unvollkommenheit und Zerbrechlichkeit des Menschen und unseres Planeten thematisiert. Wenn die Kunst- und Wunderkammern der Renaissance enzyklopädisch und universell waren und versuchten, das gesamte Wissen der Zeit widerzuspiegeln, schlägt meine Version etwas ganz anderes vor, nämlich, dass unsere individuelle und kollektive Erfahrung partiell und unvollständig ist, und in Wirklichkeit so wenig erfassen kann! Tatsächlich gibt es jedoch eine Vielzahl von Verbindungslinien zwischen der Renaissance-Wunderkammer, speziell jener in Ambras, und meinem Werk: Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit dem Thema des Sammelns und Ausstellens im Museumsbereich. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit ist die Auseinandersetzung mit Renaissance-Porträts, die sich teilweise konkret auf Bilder des Kunsthistorischen Museums in Wien (KHM) bezieht, zu dem die Sammlung Ambras gehört.
In der Innsbrucker Wunderkammer befinden sich vier Marmor-Reliefs der ersten zwölf römischen Imperatoren aus dem 16. Jahrhundert, und Münzen, die ebenfalls Profile zeigen, eines der Hauptthemen meiner Arbeit. Dazu kommen Porträts von Tieren – viele Hunde in den Habsburgerporträts, aber auch das monumentale Bild eines Schweins –, die seit Jahren im Zentrum verschiedener, meiner Werkserien stehen.
Lassen Sie uns an dieser Stelle auch gerne noch auf die Rolle der Frau in der Kunst eingehen. Ihre Wunderkammer ist auffallend weiblich. Gibt es dafür eine spezielle Begründung?
BETTINA VON ZWEHL: Es gab soviel ich weiß keine Kunst- und Wunderkammer in der Renaissance, die von einer Frau allein gestaltet wurde und dementsprechend Frauen und Männer gleichermaßen repräsentiert hätte. Ich arbeite schon lange hauptsachlich mit weiblichen Modellen. Die Rolle der Frau in der Kunstgeschichte interessiert mich besonders, ob als Künstlerin, Sammlerin, Model oder Kunst Mäzenin – die Geschichtsbücher wurden von Männern geschrieben über Männer. In der National Gallery in London eröffnet jetzt die erste (!) Einzelausstellung des Museums für eine historische Künstlerin: Artemisia Gentilleschi. Der unbequeme Weg zur Gleichberechtigung und Diversität in der Kunstwelt steht jetzt mehr als je zuvor im Rampenlicht. Ja – also, wenn die Kunst- und Wunderkammer der Renaissance das Ziel hatte, all das Wissen der Zeit unter einem Dach zu vereinen, dann ist meine Wunderkammer ein Ausdruck dessen wer ich bin. Eine Ansammlung von Werken und Objekten, die meinen Standpunkt skizzieren und sich durch Sammlungen ausdrücken, die ein Mosaik des Unbewussten darstellen, das unvollständig bleiben muss.
Interessant finden wir, dass an einer Wand auch die Uhr aus Ihrer Dunkelkammer Platz findet. Spielt die Zeit bzw. die Uhr als Messgerät in Ihren Arbeiten eine Rolle?
BETTINA VON ZWEHL: Ja, eine große Rolle! Einmal aus technischen Gründen, das heißt die genaue Belichtungszeit, Entwicklungszeit, Wässerungszeit – der Bruchteil einer Sekunde ist wichtig. Mich interessieren dabei auch die relative Langsamkeit der analogen Fotografie und die Langsamkeit, die erfordert wird von den Besucher*innen meiner Wunderkammer. In einer der Vitrinen gibt es noch einen zweiten Verweis auf die Zeit. Da liegt unter anderem ein Printing-Block von der weltweiten Klimabewegung Extinction Rebellion. Das Symbol repräsentiert das Aussterben. Der Kreis stellt die Erde dar und die Sanduhr symbolisiert, dass für viele Lebewesen auf der Erde die Zeit abläuft.
Sie haben es nun schon angedeutet: Vieles in Ihrer Wunderkammer mutet geheimnisvoll an bzw. ist nicht alles auf den ersten Blick verständlich. Ist das Teil des Konzepts?
BETTINA VON ZWEHL: Ja, was mich am meisten an der Kunst interessiert, ist der Ursprung der Kreativität in der menschlichen Psyche, und genau das ist unantastbar und geheimnisvoll. Der Drang Kunst zu schaffen kommt von unserem Unbewussten, jedenfalls viel davon, und wir kommunizieren auf eine Weise, die uns nicht völlig bewusst ist. Egal, welches Thema die Kunst behandelt, dahinter verbirgt sich eine andere unbewusste Wahrheit, die selbst dem*der Künstler* in verschlossen bleibt.
Das Dreidimensionale, Plastische ist ein relativ neuer Aspekt in Ihrem Werk. Die Cut-outs lassen eine starke Verbindung zur Bildhauerei anmuten. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
BETTINA VON ZWEHL: Mich interessiert besonders die Spannung zwischen dem Zerstören und dem Reparieren, welche eine wesentliche Rolle in meinem kreativen Prozess spielt. Die Cut-outs sind Teil einer Entwicklungslinie, die 2015 begann mit der Serie The Sessions, einer Installation von 50 fragmentierten Portraits derselben Person. Das Reißen von Fotomaterial in Bruchteile hat sich dann über die abstrakten Followers 2017–2018 bis zu den Cut-outs weiterentwickelt, an denen ich immer noch arbeite. Die Inspiration kam von den gleichnamigen, unverwechselbaren Cut-outs, die Matisse gegen Ende seiner Laufbahn geschaffen hat. Mir gefällt dabei besonders die experimentelle Manipulation der Fotografie mit der Schere – ich mache bei dem Prozess keine Skizzen, damit das Ergebnis unberechenbar bleibt. Der perfekte Silbergelatineabzug auf Barytpapier ist nur der Anfang. Durch das Ausschneiden und Zerschneiden und Analysieren entstehen neue Ebenen in der Silhouette, und das Fotopapier als Objekt wird lebendig und wirft Schatten. Außerdem öffnet sich ein neuer Raum für Assoziationen, der im ursprünglichen Bild nicht vorhanden war. Die gerissenen Konturen der Bildfragmente bei der Installation The Sessions oder der negative Raum bei den Cut-outs verweisen auf die Unmöglichkeit einer eindeutigen Identitätsbestimmung.
Für Ihr Wunderkammer-Projekt haben Sie mit einer Gruppe von Schülerinnen eines Fachgymnasiums in Innsbruck gearbeitet. Das war nicht das erste Mal für Sie. Für die Serie „Meditations in an Emergency“ haben Sie mit High School Schüler*innen in New York gearbeitet. Worum ging es in der Serie?
BETTINA VON ZWEHL: Bei der Arbeit geht es um Jugend Aktivismus in Amerika. Genauer gesagt, es geht um die Schüler*innen der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida, die eine nationale Welle von Streiks anführten und strengere Kontrollen des Waffenbesitzes forderten, nachdem am 14. Februar 2018 siebzehn Menschen an ihrer Schule ermordet wurden. Ich habe mit Teenager*innen in New York zusammengearbeitet, um ihre Porträts in direktem Bezug auf die Die-In-Pose zu inszenieren, die bei öffentlichen Demonstrationen gegen Waffengewalt angenommen wurde. So entstand die 17-teilige Installation „Meditations in an Emergency“ im Rahmen einer Artist Residency an der New York Historical Society.
Herzlichen Dank für diesen Einblick in Ihre spannende Arbeit.