Die Staatsoper muss sich radikal öffnen

Interview mit Bogdan Roščić

Für die­se collector’s choice edi­ti­on hat die Gast­re­dak­ti­on den Direk­tor der Wie­ner Staats­oper Bog­dan Roščić zum Inter­view gela­den. Bog­dan Roščić wur­de in Bel­grad gebo­ren, sei­ne Fami­lie emi­grier­te 1974 nach Öster­reich. Roščić stu­dier­te in Wien Phi­lo­so­phie und Musik­wis­sen­schaft. Nach Sta­tio­nen bei öster­rei­chi­schen Tages­zei­tun­gen als Jour­na­list und im Hör­funk als Pro­gramm­chef von Ö3, wech­sel­te Roščić 2001 in die Musik­in­dus­trie. Zuerst als Geschäfts­füh­rer von Uni­ver­sal Music Aus­tria, danach als künst­le­ri­scher Lei­ter der Deut­schen Gram­mo­phon Gesell­schaft in Ham­burg und Direk­tor von Dec­ca Records in Lon­don. Die letz­ten zehn Jah­re lei­te­te er von New York und Ber­lin aus die welt­wei­ten Klas­sik-Akti­vi­tä­ten von Sony Clas­si­cal. Seit Juli 2020 wirkt Bog­dan Roščić als Direk­tor der Wie­ner Staats­oper und lei­tet eine Deka­de des Wan­dels ein.

Trotz der inten­si­ven Vor­be­rei­tung auf die Spiel­plan-Prä­sen­ta­ti­on für 2021/22 hat sich Roščić für uns Zeit genom­men und spricht mit Bern­hard Hainz und Mag­da­le­na Fro­ner über den Reiz des Thea­ters, die »zeit­ge­nös­si­sche Insze­nie­rung«, sei­ne Samm­ler­lei­den­schaft für die öster­rei­chi­sche Nach­kriegs-Avant­gar­de und die radi­ka­le Öff­nung der Wie­ner Staats­oper. Eben dort wird der­zeit geprobt, es fin­den Auf­füh­run­gen und Pre­mie­ren statt, obwohl das Publi­kum nicht vor Ort anwe­send sein kann. Roščić hat sich für einen Weg ent­schie­den, der unter Umstän­den nicht ein wirt­schaft­li­cher ist, aber dafür dem Kul­tur­auf­trag eines sol­chen Hau­ses viel näher­steht, die Kul­tur wei­ter­le­ben zu las­sen. Wir fin­den das bewun­derns­wert und fra­gen nach.

War es für Sie von Anfang an klar, die­sen Weg zu beschrei­ten oder stan­den auch Alter­na­ti­ven im Raum?

Bog­dan Roščić: Die­ser Weg war für mich alter­na­tiv­los. Einer­seits, was den Auf­trag der Staats­oper betrifft. Die­ser kann nicht ein­fach aus­ge­setzt wer­den. Und gera­de in die­ser nie­der­schmet­tern­den Zeit ist es viel­leicht beson­ders wich­tig, dem Publi­kum trotz allem wei­ter die Aus­ein­an­der­set­zung mit Meis­ter­wer­ken zu ermög­li­chen. Aber es ist auch wirt­schaft­lich not­wen­dig. Die vie­len Pre­mie­ren die­ser Spiel­zeit, die wir trotz enor­mer Hin­der­nis­se alle auf die Büh­ne brin­gen konn­ten, sind ein essen­ti­el­ler Bestand­teil künf­ti­ger Spiel­zei­ten. Über Fern­se­hen und Strea­ming wur­de ein Mil­lio­nen­pu­bli­kum erreicht, in der nächs­ten Woche wird die kumu­lier­te Reich­wei­te all die­ser Über­tra­gun­gen bei sechs Mil­lio­nen ankommen.

Sie haben in einem Inter­view ein­mal gesagt, dass jedes groß­ar­ti­ge Kunst­werk zeit­ge­nös­sisch ist. In der Oper greift man ja häu­fig auf Kunst­wer­ke zurück, die vor Hun­der­ten von Jah­ren ent­stan­den sind. Wie sor­gen Sie und Ihr Team dafür, dass der zeit­ge­nös­si­sche Cha­rak­ter spür­bar wird?

Die Musik, zumal auf dem Niveau, von dem wir hier reden, trifft uns über Jahr­hun­der­te hin­weg genau­so ins Herz wie im Moment ihrer Ent­ste­hung, das ist ihr Geheim­nis, ihr Wun­der. Aber das Gesche­hen, das sie steu­ert und aus­drückt, muss unse­re Welt aus­drü­cken. Nicht im buch­stäb­li­chen Sin­ne, das macht kein wich­ti­ger Regis­seur. Son­dern im Sin­ne der Schaf­fung eines Thea­ter-Raums, der einem heu­ti­gen Men­schen mit allen sei­nen Kennt­nis­sen und Sen­si­bi­li­tä­ten ein Erle­ben der Wahr­hei­ten einer Par­ti­tur ermög­licht. Für Wag­ner war die Vor­stel­lung eines »abso­lu­ten Kunst­werks« im Thea­ter, das unwan­del­bar und unab­hän­gig von der Zeit sei­ner Auf­füh­rung und deren Men­schen immer gleich­blie­be, etwas Widersinniges.

Warum ist es für Sie wich­tig, zeit­ge­nös­sisch zu insze­nie­ren? War­um kann man dem Publi­kum nicht auch ein his­to­ri­sches Mär­chen erzäh­len und den Jetzt­be­zug der Phan­ta­sie der Zuschau­er überlassen?

Das kann man ja. »Zeit­ge­nös­sisch insze­nie­ren« bedeu­tet für mich nicht, dass alle auf der Büh­ne H&M‑Klamotten tra­gen. Schau­en Sie sich zum Bei­spiel den vir­tuo­sen One­gin in der Insze­nie­rung von Tcher­nia­kov an, die »Ent­füh­rung«, insze­niert von Hans Neu­en­fels, die »But­ter­fly« von Antho­ny Ming­hel­la. Aber bei die­sen Din­gen geht es nicht um abs­trak­te Spe­ku­la­tio­nen einer Thea­ter-Lei­tung, son­dern um künst­le­ri­sche Ent­schei­dun­gen von Regis­seu­rin­nen und Regis­seu­ren. Ein buch­stäb­lich aus Wag­ners Anwei­sun­gen gemach­ter »Par­si­fal« wür­de heu­te jeden­falls Lach­stür­me pro­vo­zie­ren. Wag­ner hät­te so einen Zugang verachtet.

Bog­dan Roščić, Por­trait­fo­to (c) Lalo Jodlbauer

In einer säku­la­ri­sier­ten Welt bewahrt die Kunst den ethi­schen Wert der Reli­gi­on und erhält ihn so am Leben. Aber eine Welt, die in einem Aus­maß wie die unse­re säku­la­ri­siert ist, die hät­te sich Richard Wag­ner, so glau­be ich, gar nicht vor­stel­len kön­nen. Wenn ich durch die Art Basel gehe, spü­re ich wenig Wei­he in der Luft. Es hat eher etwas von einer Raubtierfütterung. 

Gibt es für Sie per­fek­te Insze­nie­run­gen, die momen­tan nicht bes­ser gemacht wer­den kön­nen, beja­hen­den­falls, wel­che sind das? (La Tra­via­ta in der Insze­nie­rung von Simon Stone? Rosen­ka­va­lier in der Insze­nie­rung von Otto Schenk?)

Der Reiz des Thea­ters liegt viel­leicht auch in der Fra­gi­li­tät und Flüch­tig­keit des­sen, was da ent­steht. Ich zöge­re da mit dem Attri­but »per­fekt«. Wenn Sie in den Raum 15 im Erd­ge­schoss des Bri­tish Muse­um gehen und sich in guter Ver­fas­sung mit wirk­lich offe­nen Augen vor den Strang­ford Apol­lo stel­len, trifft sie die vol­le Wucht der vor über 2.500 Jah­ren Stein gewor­de­nen Per­fek­ti­on. Die Kraft einer sehr guten Opern­vor­stel­lung ist nicht gerin­ger, aber doch von einer ganz ande­ren Beschaffenheit.

Welche Rol­le spielt für Sie die Über­nah­me von erfolg­rei­chen Pro­duk­tio­nen von ande­ren Opernhäusern?

In die­ser Sai­son spielt sie eine Rol­le, weil nur durch das Inklu­die­ren eini­ger Über­nah­men die unge­wöhn­lich hohe Anzahl von 10 Pre­mie­ren und dadurch eine sehr schnel­le Erneue­rung gewis­ser Wer­ke des Kern­re­per­toires mög­lich war. Auch ein sehr gro­ßes Haus wie unse­res kann eben pro Sai­son nur eine gewis­se Anzahl von Neu­pro­duk­tio­nen schaf­fen. Dadurch konn­ten auch eini­ge der wich­tigs­ten Regis­seu­re der Welt geballt ihr Haus­de­büt nach­ho­len. In künf­ti­gen Jah­ren spie­len Über­nah­men kei­ne Rol­le. Die Staats­oper schafft selbst maß­stab­set­zen­de Arbei­ten, das hat ihr Anspruch zu sein.

Ihre Lei­den­schaft gilt schon seit Ihrem Stu­di­um der Phi­lo­so­phie und Musik­wis­sen­schaft, aber laut unse­ren Infor­ma­tio­nen auch der Bil­den­den Kunst. Wel­chen Zugang haben Sie da? Gibt es spe­zi­el­le Künst­ler oder Stil­rich­tun­gen, die Sie bevorzugen?

Ich habe nie etwas davon gehal­ten, sich vor allem einem Künst­ler oder einem Stil zuzu­wen­den. Mei­ne letz­ten 20 Jah­re habe ich nicht nur im Aus­land gelebt, son­dern auch beruf­lich fast durch­ge­hend im Flug­zeug ver­bracht. Über­all auf der Welt habe ich dabei das Pri­vi­leg gehabt, die­se Rei­sen auch dafür zu nüt­zen, mich in Muse­en und Gale­rien her­um­zu­drü­cken, so viel Ver­schie­de­nes wie mög­lich zu sehen und mich so vie­len Ein­drü­cken wie mög­lich aus­zu­set­zen. Beim Sam­meln ist das etwas ande­res, wegen des begrenz­ten Raums und der für die meis­ten von uns bekla­gens­wert begrenz­ten Mit­tel. Selt­sa­mer­wei­se habe ich, rela­tiv spät im Leben, über den groß­ar­ti­gen Her­bert Brandl irgend­wie zur öster­rei­chi­schen Nach­kriegs-Avant­gar­de zurück­ge­fun­den – zu Rai­ner, Pra­chen­sky, Grab­mayr und ande­ren, die mich in den letz­ten Jah­ren sehr beschäf­ti­gen. Kann man sich heu­te noch jenes Wien vor­stel­len, in dem sie ihren Weg machen mussten?

Die Wie­ner Staats­oper hat durch die Nut­zung der Strea­ming­diens­te und ande­rer digi­ta­ler Mög­lich­kei­ten trotz geschlos­se­ner Türen für das Publi­kum in den letz­ten Mona­ten eine Reich­wei­te erzielt, wie nie zuvor. Tun sich da neue Mög­lich­kei­ten für die Zukunft her­vor? Wird die­ses Ange­bot bestehen blei­ben, auch wenn der gro­ße Saal wie­der für das Publi­kum zugäng­lich wird?

Wir haben viel aus die­ser Zeit gelernt, das Bestand haben wird. Ich gebe Ihnen nur ein Bei­spiel. Die Staats­oper bie­tet vor einer Pre­mie­re Ein­füh­rungs­ma­ti­neen an. Gesprä­che zu Werk und Insze­nie­rung mit den betei­lig­ten Künst­lern. Nun sind wir damit online aus­ge­wi­chen und dabei blei­ben wir auch. Auch im Saal soll es wie­der sol­che Ver­an­stal­tun­gen vor Publi­kum geben, aber das Resul­tat die­ser Ver­an­stal­tun­gen wird, ange­rei­chert mit Din­gen, die man nur vor­pro­du­zie­ren kann, immer auch online ange­bo­ten wer­den. Denn wir errei­chen so, wie wir in den letz­ten Mona­ten gese­hen haben, in kur­zer Zeit bis zu 50.000 Men­schen. Und sol­chen Vide­os ist als Beglei­tung eines Reper­toire­be­triebs ein lan­ges Online-Leben beschieden.

Kirill Ser­ebren­ni­kov hat zuletzt für Par­si­fal die Regie via Zoom durch­ge­führt, weil er nicht aus­rei­sen durf­te. Unge­ach­tet die­ses spe­zi­el­len Hin­de­rungs­grun­des, wäre Regie via Zoom als künf­ti­ges Erfolgs­mo­dell denkbar?

Auf kei­nen Fall! Das war eine Not­lö­sung und eine Qual vor allem für Kirill, die er nur bestehen konn­te dank sei­ner über­mensch­li­chen Dis­zi­plin. Die­se Art des Arbei­tens ver­engt den Blick, ver­lang­samt die Inter­ak­ti­on. Der ganz direk­te Kon­takt auf der Pro­be­büh­ne ist unersetzlich.

Wenn wir über die Zukunft der Oper spre­chen, ins­be­son­de­re der Wie­ner Staats­oper, dann han­delt es sich um eine Ein­rich­tung mit sehr viel Tra­di­ti­on. Wel­che Stra­te­gie in Sachen Inno­va­ti­on ver­fol­gen Sie, damit die Tra­di­ti­on bewahrt blei­ben kann und den­noch eine Öff­nung in Rich­tung neu­er Ziel­grup­pen gelingt?

Über künst­le­ri­sche Inno­va­ti­on kann man nicht als Stra­te­gie spre­chen. Das ist nur als kon­kre­te Arbeit zu fas­sen, Stück für Stück, Pro­jekt für Pro­jekt. Im Zugäng­lich­ma­chen die­ser Din­ge für Alle – denn die Staats­oper wird von Allen für Alle ermög­licht – muss ein Thea­ter alle Regis­ter zie­hen. Die Staats­oper muss sich radi­kal öff­nen, sie gehört nicht, wie man das frü­her ger­ne behaup­tet hat, einer bestimm­ten gesell­schaft­li­chen Schicht.

Bog­dan Roščić„ Por­trait­fo­to (c) Peter Mayr

Welchen Bei­trag kann/sollte eine Insti­tu­ti­on, wie die Wie­ner Staats­oper, Ihrer Mei­nung nach in Zukunft für die Gesell­schaft leis­ten – wird es Berei­che des kul­tu­rel­len Lebens geben, die durch die Gesund­heits­kri­se und einer damit ver­bun­de­nen Wirt­schafts­kri­se rele­van­ter wer­den als in der Vergangenheit?

Selbst eine Pan­de­mie kann an dem grund­le­gen­den, Jahr­tau­sen­de alten Stel­len­wert der Kunst als Teil der mensch­li­chen Daseins­form nichts ändern. Und auch danach ist das, was die unter­schied­li­chen Teil­neh­mer des so genann­ten Kul­tur­be­triebs kön­nen nur eines: wei­ter­ar­bei­ten. Es sind letzt­lich Signa­le, die man in den Äther funkt. Wer sie emp­fängt und auf wel­cher Fre­quenz, wer sie ent­schlüs­seln kann und wer nicht, das ist Sache des Ein­zel­nen, sei­ner Bereit­schaft zur Aus­ein­an­der­set­zung, zur Neu­gier, dazu, sich selbst in Fra­ge zu stellen.

Bezug­neh­mend auf die letz­te groß­ar­ti­ge Auf­füh­rung des Par­si­fal: Wie hal­ten Sie es mit Richard Wag­ner? Ret­tet die Kunst die Wahr­heit der Reli­gio­nen, wie es Wag­ner im Par­si­fal vor­schweb­te? Wird der Künst­ler den Pries­ter ersetzen?

Das war durch­aus Wag­ners Visi­on. In einer säku­la­ri­sier­ten Welt bewahrt die Kunst den ethi­schen Wert der Reli­gi­on und erhält ihn so am Leben. Aber eine Welt, die in einem Aus­maß wie die unse­re säku­la­ri­siert ist, die hät­te sich Richard Wag­ner, so glau­be ich, gar nicht vor­stel­len kön­nen. Wenn ich durch die Art Basel gehe, spü­re ich wenig Wei­he in der Luft. Es hat eher etwas von einer Raubtierfütterung.

Kirill Ser­ebren­ni­kov, der im neu­en Par­si­fal Regie führ­te, sagt: »Ich mag die Vor­stel­lung, dass uns nichts auf­hal­ten kann!« Ist das auch das Cre­do von Bog­dan Roščić?

Man könn­te es durch­aus als Mot­to über die­se Spiel­zeit schreiben.

Herz­li­chen Dank für Ihre offe­nen Wor­te und viel Erfolg auf Ihrem ambi­tio­nier­ten Weg!

Das Interview führten:
Bernhard Hainz (Gastredakteur der collector’s choice edition)
und Magdalena Froner (Redaktion).

______________________

Mehr Infor­ma­ti­on zur Wie­ner Staats­oper: https://www.wiener-staatsoper.at/

Beitrag teilen
geschrieben von

Das Kunstmagazin, das mehr Zeit zum Lesen und mehr Raum zum Schauen beansprucht: ein Gegentrend zu vielen Megatrends. Geeignet für Kunstliebhaber, die tiefer gehen möchten und bereit sind, inspiriert zu werden. Intellektuell anspruchsvolle Inhalte, innovatives Layout und elegantes Design auf höchstem Qualitätsstandard.

Consent Management Platform von Real Cookie Banner

Sie befinden sich im Archiv.
Hier geht's zum aktuellen stayinart Online Magazin.

This is default text for notification bar