Alles hat seine Vergangenheit.
Nicht nur der Mensch, sondern auch jene Dinge, die ihn umgeben.
Vor allem aber die Gegenstände, die er erschuf, erzählen Geschichten über ihn. Nicht nur ihrem Wesen nach. Auch durch das, was mit diesen Dingen geschah. Manches verschwindet einfach oder wird durch einen Zufall gerettet. Das Gerettete kann wiederum verschwinden, jedoch auch zu neuem Leben erweckt werden.
Die in letzter Zeit von mir als (Mal-)Grund meines Tuns benutzten Heliogravüren haben eine diffizile Geschichte, die bis weit in das vergangene Jahrhundert, ja Jahrtausend, hineinreicht. Viele Jahre sind die Mappen mit den Gemäldereproduktionen in meinem Besitz. Ich wusste nicht recht, was ich mit ihnen anfangen sollte. Freilich sind die Reproduktionen brillant und haben einen geradezu haptischen Charakter. Jedoch, sie sind schwarzweiß. Wir sehen heute alles farbig – mancher auch nur noch bunt – und ein Bildband ist ohnehin schon lang nichts mehr wert. Im weltweiten Netz ist alles zu finden und das meiste wird lediglich oberflächlich konsumiert. Der Wert des Bildes an sich hat sich durch die massenhafte Verbreitung relativiert.
Die mit Hilfe der Technik der Heliogravüre reproduzierten Kunstwerke sind zwar edle Drucke, taugen aber für unsereins nicht, um Erkenntnisse über die Kunstgeschichte, und der Malerei im Speziellen, zu erlangen. Ihr didaktischer Zweck hat sich in einen ästhetischen verwandelt. Immer noch faszinierend ist jedoch die 1879 von Karl Klietsch entwickelte Drucktechnik. Diese ist eng mit der Technik der Aquatintaradierung verwandt. Auf die vorbereitete Kupferplatte wird eine lichtempfindliche Schicht aufgebracht, belichtet und dann geätzt. Natürlich sind damit die Arbeitsgänge verkürzt dargestellt. Im Endeffekt ist eine Heliogravüre ein Tiefdruck höchster Qualität und fast selbst ein wenig Kunst. Deshalb wäre es schade, die Drucke wegzuwerfen. Also rettete ich vor vielen Jahren die Mappen vor ihrer Vernichtung.
1983 war ich in Leipzig Student. Nicht bitterarm, aber oft durstig. Wir hatten eine Stammkneipe in Leipzig-Connewitz, die den verheißungsvollen Namen Erholung trug. In ihr verkehrten Stahlarbeiter aus der naheliegenden Gießerei, Offiziere der befreundeten Sowjetarmee und auch Käthe. Diese fürsorgliche Dame war in ihren besten, den 20er und 30er Jahren, Prostituierte und kümmerte sich rein platonisch und ohne Gewinnerzielungsabsicht um uns Trunkenbolde. Sie war die Seele des Lokals, konnte aber trotzdem nicht jeden Streit schlichten. Also ging hin und wieder Mobiliar zu Bruch und auch die eine oder andere Scheibe splitterte nicht ganz geräuschlos, wenn den Worten die Schläge folgten. Das war ungefähr so rustikal, wie wir es vom Maler Adriaen Brouwer geschildert bekommen.
Der Winter 1978/79 war ein entsetzlich kalter. Am 1. Januar trat ein, worauf wir schon lange warteten – der DDR Blackout im Süden unserer sozialistischen Heimat. Klammheimlich freuten wir uns, da die sozialistische Planwirtschaft wieder einmal gezeigt hatte, zu welch außerordentlichen Leistungen sie fähig war. Wir waren wirklich keine aufrechten sozialistischen Menschen. Trotzdem froren auch wir. Kohle musste her. Rückseitig der Hochschule für Grafik und Buchkunst steht das herrliche Gebäude der Universitätsbibliothek. Deren Kellerfenster standen meist offen. Da ja alles Volkseigentum war, entliehen wir uns an diesem heiligen Ort der Bildung regelmäßig Kohlen, um unsere Schaffenskraft durch den harten Winter zu retten und das eine oder andere Buch zu lesen, welches wir uns ordnungsgemäß ausliehen und auch zurückbrachten. Im Kohlenbunker der Unibibliothek lagen sie dann. Die Bildbände von Wilhelm Bode waren für das Feuer gedacht und sollten feuchte Braunkohle zum Brennen bringen.
Nicht des gefährlichen Inhalts wegen, sondern die allgemein grassierende Dummheit war der Grund für die geplante Vernichtung von Kulturgut. Die Not an Brennmaterial natürlich auch. Selbstlos rettete ich die Bildbände, welche in dem Fall Mappen mit den eingelegten Heliogravüren waren, die hier und jetzt zu neuem Leben erweckt werden. Vor Jahren versuchte ich mich schon einmal an diesen kostbaren Drucken. Stilistisch in meiner damals gestisch- abstrahierenden Art und ein wenig an Arnulf Rainer erinnernd. Eher als Übermalung gedacht und nicht wie bei den neueren Arbeiten dazufügend-collagierend. Dann kam wieder etwas dazwischen. Andere Kunst, Romane – was weiß ich.
Gelegentlich ordnet man Dinge und öffnet Schubladen. Da waren sie wieder – die mich an meine wildesten Jahre erinnernden Blätter. Sie tauchten auf wie aus dem Nichts. Als gesetzter Mann setzte ich mich an meinen Arbeitsplatz und dachte darüber nach, was mit diesen frühen Fundstücken zu tun sei. Herumliegen lassen ist ja auch keine Lösung. Also malte ich den einen oder anderen Gegenstand auf das vorhandenen Werk und fand Freude daran, wie sich Dinge verbinden, die so nicht gedacht waren, aber durchaus möglich und passend sind und auch zu Neuem führen. Es entstanden eigenartige, kunstgeologische Schichten. Was dies nun sei, fragt sich der Betrachter?
Surrealismus oder was auch immer, dies mag der Theoretiker entscheiden. Ich nenne die Arbeiten Malereicollagen. Neu ist diese Kunstform jedoch nicht. Irgendwie ist es eine Collage und auch nicht. Nicht ausgeschnitten und aufgeklebt. Aufgemalt.