Die Konstruktion der Sinnlichkeit

Elena Parris

Bereits der ers­te Blick auf die neu­en Bil­der von Ele­na Par­ris las­sen etwas von der sinn­li­chen Auf­ge­regt­heit und Ener­gie spü­ren, mit der die Künst­le­rin an ihnen gear­bei­tet hat. Bei nähe­rer Betrach­tung des Wer­kes rückt zwei­fel­los die Beto­nung des Kör­per­haf­ten in den Vor­der­grund. Auf­fäl­lig sind die zahl­rei­chen Remi­nis­zen­zen an die Welt der Mode, der Maga­zin­äs­the­tik, und des Urba­nen und Welt­ge­wand­ten. Der Abschied von der kom­mer­zi­el­len Pho­to­gra­phie, die einen gro­ßen Abschnitt in der Bio­gra­phie der gebür­ti­gen Luzer­ne­rin ein­nahm, hat der Künst­le­rin die gestal­te­ri­sche Frei­heit gebracht, Bil­der und The­men neu zu sehen und neue Wege der Inter­pre­ta­ti­on frucht­bar zu machen. Mit dem Blick auf die Bil­der muss man von einer sehr selek­ti­ven Sicht­wei­se spre­chen, die den Kör­per stets neu und im Kon­text einer sich stän­dig wan­deln­den Welt sieht. Eines der schöns­ten und ergrei­fends­ten neu­en Bil­der stellt das auf wun­der­ba­re Wei­se dar: the look behind ver­weist bei­spiel­haft auf die Durch­drin­gung von Indi­vi­dua­li­tät und Mode. Ver­füh­rung und Distanz erschei­nen hier eben­so als Grund­te­nor, wie ein sub­lim ero­ti­scher Unter­ton ein­ge­bet­tet. Die selt­sa­me Span­nung des Bil­des resul­tiert nicht zuletzt aus einem sinn­li­chen Zusam­men­spiel der Far­ben, das die Pho­to­gra­phie wie gemalt erschei­nen lässt.

Immer erschei­nen ihre Bil­der fast sur­re­al, wie etwa in the second touch, das an die glos­sy Anzei­gen exklu­si­ver Kos­me­tik- und Mode-Brands aus den sech­zi­ger Jah­ren erin­nert, in der Far­big­keit aber die mini­ma­lis­ti­schen Ten­den­zen aktu­el­ler Dar­stel­lun­gen auf­nimmt. Ande­re pho­to­gra­phi­sche Arbei­ten der Künst­le­rin wie red snow grei­fen den Kör­per im urba­nen Kon­text auf, der wie eine vir­tu­el­le Traum­se­quenz von dem ver­schwom­me­nen Bild der Groß­stadt durch­drun­gen wird. Aus dem bild­ne­ri­schen Nexus der sich gegen­sei­tig durch­drin­gen­den Bild-schich­ten springt dem Betrach­ter eine Sinn­lich­keit ent­ge­gen, die eine pure Abbil­dung der Rea­li­tät so nicht leis­ten kann.

Ele­na Par­ris, „the look behind“

My ener­gy comes from free­dom and a rebel­lious spirit. 

Rei Kawa­ku­bo

Der Varia­ti­ons­reich­tum, den Kör­per immer wie­der neu ins Zen­trum der Bild­fin­dung zu stel­len, scheint uner­schöpf­lich. Pho­to­gra­phien wie impri­so­ned free­dom spie­len noch in rea­lis­ti­scher Ansicht mit Geschlecht und Iden­ti­fi­ka­ti­on. Hier fin­det die selt­sa­me Unschär­fe in der andro­gy­nen Dar­stel­lung selbst statt. Ande­re Bil­der wie dreamd­an­cer sind nur noch sche­men­haft wahr­zu­neh­men und wer­den von abs­trak­ten Farb­ele­men­ten wir­kungs­stark umspielt. Ele­na Par­ris zeigt in die­sen ganz aktu­el­len und neu­en Bil­dern, wie man mit den domi­nan­ten The­men der Jetzt­zeit: Kör­per, Geschlecht und Iden­ti­fi­ka­ti­on sehr befreit und offen umgeht, und dabei Bil­der kre­iert, die manch­mal pro­vo­ka­tiv, immer aber sinn­lich anre­gend sind und visu­ell auf ein neu­es Ter­rain füh­ren. Der Weg, Bil­der neu zu den­ken, ist unwei­ger­lich auch ein Schritt in die Frei­heit gewe­sen, sich von den tra­di­tio­nel­len Dar­stel­lungs­wei­sen klas­si­scher Pho­to­gra­phie zu entfernen.

Ele­na Par­ris, „the dream dancer“

DIE DEKONSTRUKTION DER MOTIVE

Der Weg in die Welt der Abs­trak­ti­on führt über die, in den letz­ten Jah­ren, ent­stan­de­nen Bil­der. Immer wie­der begeg­net der Betrach­ter Arbei­ten, in denen das Motiv durch mani­pu­la­ti­ve Ein­grif­fe ver­schie­dens­ter Art dekon­stru­iert wird. Die Künst­le­rin arbei­tet dabei aus der Bil­d­ober­flä­che ganz sen­si­tiv in die vir­tu­el­le Tie­fe des Bil­des, öff­net die Schich­ten durch fei­ne Über­blen­dun­gen oder auch durch bru­ta­le Ris­se. Es gibt also durch­aus ein wich­ti­ges, pro­zess­haf­tes Agie­ren im Bild, eine direk­te und spon­ta­ne Annä­he­rung an das Motiv. Damit führt die Künst­le­rin das Medi­um der Pho­to­gra­phie in einen absur­den Bereich und unter­streicht zugleich, dass die pho­to­gra­phi­sche Tech­nik, aus deren Tra­di­ti­on sie kommt, hier nicht mehr Selbst­zweck ist, son­dern ein pro­ba­tes Medi­um, um Bil­der ent­ste­hen zu las­sen, die jen­seits einer durch Tie­fen­schär­fe und Fokus kon­stru­ier­ten Wie­der­ga­be der Welt exis­tie­ren kön­nen. In der Gesamt­heit bil­det sich damit für den Betrach­ter ein von der Rea­li­tät befrei­tes, dekon­stru­ier­tes Bild ab – eine Welt aus bild­haf­ten Frag­men­ten, eine in der Tie­fe zer­split­ter­te Wie­der­ga­be des ursprüng­li­chen Bil­des. Das mag an die Bil­der des Fran­zo­sen Jac­ques Vil­leglé erin­nern, des­sen col­la­gier­te Pla­kat­wand­ab­ris­se sich zu wun­der­sam schö­nen Bil­der­wel­ten zusam­men­füg­ten. Wäh­rend die Arbei­ten von Vil­leglé durch die phy­si­sche Addi­ti­on der abge­ris­se­nen Papier­seg­men­te zum Bild wer­den, fin­den wir bei den Bil­dern von Ele­na Par­ris eine fast ent­ge­gen­ge­setz­te Tech­nik. Sie ope­riert im zwei­di­men­sio­na­len Raum ihrer Kom­po­si­tio­nen in die Tie­fe des Bil­des. Dabei lässt sie dem Auge immer noch die Chan­ce, sich auf iden­ti­fi­zier­ba­re Motiv­frag­men­te zu fokus­sie­ren, doch stellt das für den Betrach­ter auch nicht mehr als eine visu­el­le Fal­le dar. Uner­müd­lich arbei­tet sich das Auge dar­an ab, sozu­sa­gen ein Bild­zen­trum fest­zu­ma­chen, Ruhe in den visu­el­len Pro­zess zu bekom­men. Man wird unwei­ger­lich gezwun­gen, einen Schritt zurück­zu­ge­hen, um dem Bild so zu begeg­nen, dass man tat­säch­lich in die diver­sen Ris­se und Schich­tun­gen des Motivs ein­stei­gen kann. Ganz ohne Zwei­fel ist das ein legi­ti­mes Kal­kül, den Betrach­ter mit der Raf­fi­nes­se des Bil­des zu kon­fron­tie­ren. Par­ris arbei­tet hier sozu­sa­gen male­ri­sche Ele­men­te in die Pho­to­gra­phien ein. Das Auge wan­dert bestän­dig zwi­schen Ver­wi­schun­gen und Über­la­ge­run­gen, Ris­sen und Schnit­ten, die das Bild wie eine ver­blass­te Erin­ne­rung erschei­nen las­sen, die sich aus viel-teil­i­gen Frag­men­ten zusam­men­fügt. Wenn man die um 2019 und 2020 ent­stan­de­nen Arbei­ten auf die­se Wei­se inter­pre­tiert, passt es auf­fäl­lig, dass die Künst­le­rin dem Betrach­ter die völ­li­ge Frei­heit an der Deu­tung des Bil­des über­lässt. Nicht aus Zufall wer­den die Arbei­ten des­halb fort-lau­fend num­me­riert als untit­led benannt. Das Bild an und für sich stärkt sei­ne Auto­no­mie, wenn es die Inter­pre­ta­ti­ons­rich­tung nicht über einen Titel lenkt.

BEFREITE BILDER

Über­haupt erscheint die abso­lu­te Frei­heit als Leit­mo­tiv in den Arbei­ten der Luzer­ner Künst­le­rin. Nach vie­len und erfolg­rei­chen Jah­ren in der kom­mer­zi­ell gepräg­ten Pho­to­gra­phie, nach Sta­tio­nen in Metro­po­len wie New York und Ber­lin, ent­ste­hen nun die poe­tisch kon­tem­pla­ti­ven Tableaus in der länd­li­chen Abge­schie­den­heit des Luzer­ner Berg­lands. Der Erleb­nis­ho­ri­zont, der in die poe­tisch fra­gi­len Dar­stel­lun­gen ein­fließt, ist nicht nur durch die Erin­ne­rungs­welt der Künst­le­rin erklär­bar. Er hat auch viel mit dem Sein im aktu­el­len Welt-gesche­hen, mit den seis­mi­schen, ganz aktu­el­len Bewe­gun­gen in Mode, Kunst und Kul­tur zu tun, wel­che die Künst­le­rin wie ein Kata­ly­sa­tor auf eine ande­re, visu­el­le Ebe­ne hebt und in Ideen und Bild­wel­ten umwan­delt. Geblie­ben aus die­ser span­nungs­rei­chen Ver­gan­gen­heit ist aber eines auf­fäl­lig: der hohe Grad an pho­to­gra­phi­scher Per­fek­ti­on und Pro­fes­sio­na­li­tät, der beim Blick auf die Mach­art ihrer Arbei­ten ins Auge fällt. Dies ist nicht zuletzt ihrer Zusam­men­ar­beit mit Hel­mut New­ton zu ver­dan­ken, der mit sei­nem prä­zi­sen Umgang in Hin­sicht auf qua­li­ta­ti­ve Details wie Kom­po­si­ti­on, Licht und Ent­wick­lung zu einem sti­lis­tisch wich­ti­gen Fix­punkt in der Pho­to­gra­phie­ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts zu zäh­len ist.

Ganz ohne Zwei­fel ist der Attrak­ti­ons­punkt aber vor allem in der sinn­li­chen Abstrah­lung der Arbei­ten zu sehen. Die sehr sub­til ein­ge­ar­bei­te­ten Bild­ele­men­te ver­füh­ren den Betrach­ter, in einer ganz eige­nen Wei­se auf das Bild ein­zu­ge­hen. Es ist eine Welt, in der die viel­sei­ti­gen Ele­men­te von Begeh­ren, die ero­ti­schen Unter­tö­ne und das sinn­li­che Erle­ben ihren Platz haben und ganz indi­vi­du­ell die per­sön­li­chen Asso­zia­tio­nen des Betrach­ters akti­vie­ren. In die­ser Welt öff­net sich die Kunst wie ein Fens­ter, aus dem her­aus neue Per­spek­ti­ven ein­ge­nom­men wer­den kön­nen oder der Blick, auch auf die eige­ne Geschich­te, gewei­tet wer­den kann. Dabei ist auch immer wie­der wohl kal­ku­lier­te Pro­vo­ka­ti­on im Spiel. Im Grun­de ist es der pro­vo­ka­ti­ve Aspekt, der die Gedan­ken­welt der Künst­le­rin immer wie­der aufs Neue in Bil­der kana­li­siert. Hier zeigt sich die zeit­lo­se Aktua­li­tät von Picas­sos Bemer­kung, dass der Künst­ler sich in sei­nen Wer­ken von Ideen und Ein­drü­cken ‚ent­lädt‘. So bese­hen sind die Arbei­ten von Ele­na Par­ris also eine Trans­for­ma­ti­on der rea­len Welt durch den Blick der Künst­le­rin. Sie ermög­li­chen es dem Betrach­ter sei­ner­seits, sich jen­seits rea­lis­ti­scher Zwän­ge ein Bild zu machen, in dem die Emo­tio­nen gänz­lich befreit agie­ren können.

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Er ist Essayiste, studierte Kunstgeschichte, Kommunikationsdesign und Ästhetik. Zahlreiche internationale Beiträge zur zeitgenössischen Fotografie, zum klassischen Design, zur zeitgenössischen Kunst und zur Modegeschichte des 20. Jahr-hundert. Unter anderem über Isamu Noguchi, Gianni Versace, Andreas Gursky, Axel Hütte, Arik Levy, Serge Mouille, Oscar Niemeyer, E.W. Buquet et al. Aktuell in Arbeit: Andy Warhol: 'sunsets and clouds' sowie ein Essay über Alexander McQueen. Lebt und arbeitet in Düsseldorf und Berlin. Foto: ©Mikael Olsson, Stockholm

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