Die Chaostheorie

Für Mer­ce­des Heln­wein ist die Geschich­te – oder die Tief in ihren Frag­men­ten ver­gra­be­nen Chan­cen – das Ein und Alles. Soweit sie sich zurück­er­in­nern kann, erzählt sie ihre Geschich­ten und sucht mit Wör­tern und Bil­dern nach den ver­bor­ge­nen Möglichkeiten.

Im Mit­tel­punkt ihrer jüngs­ten Arbeit ste­hen Jugend und Fami­li­en­le­ben in US-ame­ri­ka­ni­schen Vor­städ­ten. Als Grund­la­ge für ihre Bil­der dien­ten anony­me Fotos oder Figu­ren, die Heln­wein im Ate­lier in nach­ge­bau­ten Wohn­zim­mern in Pose setzt. Die Künst­le­rin repli­ziert die Ori­gi­nal­sze­nen in Pas­tell (für Heln­wein ein Medi­um, das „die Unru­he schein­bar harm­lo­ser Momen­te“ bes­tens zum Aus­druck bringt) und gibt Ein­blick in die Ängs­te und Span­nun­gen, mit denen Fami­li­en­ri­tua­le und die Bestre­bun­gen der Jugend oft belas­tet sind. Vom all­jähr­li­chen Abklap­pern der Nach­bar­häu­ser zu Hal­lo­ween über Fami­li­en­tref­fen, Schul­bäl­le und Klas­sen­fo­tos behan­delt Heln­wein immer und immer wie­der die all­täg­li­che Jugend- und Fami­li­en­rou­ti­ne, um die unwill­kür­li­chen Gefüh­le und das impli­zi­te Dra­ma ein­zu­fan­gen, das die­sen iso­lier­ten Momen­ten innewohnt.

Heln­weins Cha­os Theo­ry dreht sich eben um kom­ple­xe Gefühls- und Bezie­hungs­sys­te­me. Die Künst­le­rin iso­liert den Moment, hält Augen­bli­cke fest, die laten­tes, aber unmit­tel­bar bevor­ste­hen­des Dra­ma ver­mu­ten lassen. 

Ihre frü­hen Wer­ke schuf Mer­ce­des Heln­wein fern­ab des typisch ame­ri­ka­ni­schen Lebens­stils, den sie dar­stellt: Sie wur­de 1979 als Toch­ter des renom­mier­ten Künst­lers Gott­fried Heln­wein in Wien gebo­ren. 14 Jah­re spä­ter zog die Fami­lie nach Irland, und seit dem Jahr 2000 lebt die Künst­le­rin auf dem Fami­li­en­an­sitz in Irland und in ihrer Wahl­hei­mat Los Ange­les. Ihr Vater Gott­fried zwang sei­ner Toch­ter den Drang zur Kunst kei­nes­wegs auf, son­dern leg­te ihr wert­vol­les Wis­sen in die Wie­ge: „Kunst ist kei­ne Ant­wort, son­dern eine Fra­ge“. Und tat­säch­lich stellt Heln­wein jede noch so klei­ne Mög­lich­keit in Fra­ge. Ihre Farb­pa­let­te setzt sich groß­teils aus Grau‑, Grün- und Rosa­tö­nen zusam­men und lässt bestimm­te Details eini­ger Bil­der bewusst unklar erschei­nen. In ande­ren Bil­dern malt Heln­wein mit aus­drucks­star­ken Ges­ten dicke Stri­che quer über die Ober­flä­che und über­lässt es dem Betrach­ter, deren Bedeu­tung zu ent­zif­fern. Häu­fig stellt sie eine ein­zi­ge Sze­ne mehr­mals dar, ent­flieht so ihrer Klaus­tro­pho­bie und ana­ly­siert zwang­haft die vie­len Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­kei­ten der sub­ti­len und weni­ger sub­ti­len Variationen.

Gekonn­te Arran­ge­ments mehr­deu­ti­ger Sze­nen sind für die Künst­le­rin nichts neu­es: Bereits als Jugend­li­che steck­te sie ihre Geschwis­ter und Freun­de in alte Klei­der oder Kos­tü­me, die sie im Haus fand, und lich­te­te sie als Klos­ter­schul­kin­der, ame­ri­ka­ni­sche Far­mer zur Zeit der Gro­ßen Depres­si­on, Immi­gran­ten auf Ellis Island, usw., ab. Damals wie heu­te ent­führ­ten die Bil­der den Betrach­ter in eine bestimm­te Epo­che, wobei die spe­zi­fi­schen Umstän­de aber stets unbe­kannt blie­ben. The­ma­tisch sind die Pas­tell­bil­der mit zwei Fil­men ver­wandt, die Heln­wein 2014 gedreht hat: Cops und Nur­ses. Die Strei­fen – sie soll­ten gemein­sam gezeigt wer­den und haben den­sel­ben span­nungs­ge­la­de­nen, packen­den Sound­track aus der Feder des Bru­ders, Ali – sind beun­ru­hi­gen­de, rät­sel­haf­te Dar­stel­lun­gen all­täg­li­cher Inter­ak­tio­nen am Arbeits­platz bzw. des Feh­lens eben­sol­cher Inter­ak­tio­nen. Jeder Film umfasst Sze­nen mit jeweils 20 Poli­zis­ten und 20 Kran­ken­pfle­ge­rin­nen und hin­ter­fragt Gen­der-Ste­reo­ty­pen und die damit ver­bun­de­ne Sym­bo­lik. Die Pfle­ge­rin­nen, die schwei­gend in einem Kran­ken­haus­raum rau­chen und sich dabei gegen­sei­tig ver­stoh­len beob­ach­ten, und die Poli­zis­ten, die bei anschwel­len­der bedroh­li­cher Hin­ter­grund­mu­sik völ­lig unbe­tei­ligt durch ein Stadt­vier­tel fah­ren, ver­mit­teln ein Gefühl der Unstim­mig­keit. Gespannt beob­ach­tet man sie und war­tet auf eine Ent­wick­lung der Hand­lung – einen Hauch von Mensch­lich­keit, Inter­ak­ti­on oder eine viel­sa­gen­de Hal­tungs­än­de­rung. Aber das Ergeb­nis ist nicht vor­her­seh­bar, da die Wei­ter­füh­rung der Geschich­te ein­zig und allein der Vor­stel­lung des Betrach­ters über­las­sen ist.

In der Mathe­ma­tik besagt die Cha­os­theo­rie, dass ein kom­ple­xes Sys­tem kei­ne Vor­her­sa­gen zulässt, dass sogar eine win­zi­ge Abwei­chung der Aus­gangs­be­din­gun­gen über die Zeit weit­rei­chen­de Aus­wir­kun­gen für das Sys­tem haben kann. Heln­weins Cha­os Theo­ry dreht sich eben um kom­ple­xe Gefühls- und Bezie­hungs­sys­te­me. Die Künst­le­rin iso­liert den Moment, hält Augen­bli­cke fest, die laten­tes, aber unmit­tel­bar bevor­ste­hen­des Dra­ma ver­mu­ten las­sen. Die Inter­pre­ta­ti­on des Betrach­ters ändert mit jeder neu­en Erfah­rung das End­ergeb­nis. Zum Teil ist es mit Sicher­heit auf ihr künst­le­ri­sches Umfeld zurück­zu­füh­ren, dass Heln­wein über beson­de­res Gefühl für Mate­ri­al ver­fügt. Durch tief­sit­zen­de Emp­find­sam­keit und ihr Ver­ständ­nis der Viel­schich­tig­keit des Werks ihres Vaters ent­wi­ckel­te sie ihren Ein­blick in die kom­ple­xen Sys­te­me, die einem Bild oder einer Situa­ti­on inne­woh­nen, und die vie­len mög­li­chen Aus­wir­kun­gen, die ein solch chao­ti­sches Sys­tem haben kann.

Heln­wein lehn­te ein for­mel­les Kunst­stu­di­um ab und zog es vor, ihre eige­ne Stim­me zu fin­den. „Ich woll­te kei­ner­lei Ein­flüs­se außer­halb der Inspi­ra­ti­on durch Kunst­wer­ke, die ich bewun­de­re.“ Ange­sichts ihres Umfelds von Kunst und Krea­ti­vi­tät war der künst­le­ri­sche Ein­fluss Drit­ter wohl unaus­weich­lich. Ein Künst­ler, der wohl bewusst oder unbe­wusst ein Bezugs­punkt für Heln­wein zu sein scheint, ist Edward Hop­per. Von der mehr­deu­ti­gen Bezie­hungs­dy­na­mik hin zum Dra­ma des Augen­blicks erin­nern ihre Fil­me und Gemäl­de häu­fig an Hop­pers Meis­ter­wer­ke. Die Moti­ve und Stim­mun­gen, für die Hop­per bekannt ist, und deren Ver­bin­dung mit dem Film noir sind unum­strit­ten. Heln­wein zählt zu ihren Ein­flüs­sen eben auch den Film noir, und ins­be­son­de­re des­sen Licht­ef­fek­te und die „unglaub­li­che Span­nung eini­ger Sze­nen…ich mag es beson­ders ger­ne, wenn ich nichts über den Kon­text weiß.“

Die­se Serie zele­briert die nicht auf den ers­ten Blick ersicht­li­chen Ver­stri­ckun­gen des All­tags­le­bens, ver­weist auf uni­ver­sel­le Wahr­hei­ten und bezieht den Betrach­ter mit ein. Wie Edward Hop­per ein­mal sag­te: „Das Innen­le­ben des Men­schen ist ein wei­tes und viel­fäl­ti­ges Reich und beschränkt sich nicht allein dar­auf, Zusam­men­stel­lun­gen von Far­be, Form und Zeich­nung zu ver­an­las­sen.“ Heln­wein nimmt die­se Her­aus­for­de­rung an und hält die­ses wei­te und viel­fäl­ti­ge Reich fest. Ihre Ent­de­ckungs­rei­sen wer­den zwei­fel­los unzäh­li­ge neue Mög­lich­kei­ten eröffnen.

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Carole Perry is the Artistic Director and Curator at Edward Hopper House in Nyack, NY. She previously worked as an independent curator and as an exhibition coordinator at the Guggenheim Museum. She earned a Master of Arts degree in art history from Hunter College in New York.

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