Die beste aller möglichen Welten

Interview mit Chefarzt und Orchesterleiter Wolfram Lucke

Gemein­sam mit Wolf­ram Lucke, lei­den­schaft­li­cher Musi­ker und Chef­arzt der Sin­ge­ner Frau­en­kli­nik, machen wir in die­ser Aus­ga­be „ein Fass auf“, um es in sei­nen Wor­ten aus­zu­drü­cken. Als prak­ti­zie­ren­der Arzt ist er zugleich Diri­gent des Orches­ters sei­nes Gesund­heits­ver­bunds. Er kom­po­niert eige­ne Stü­cke und setzt sich seit sei­ner Kind­heit inten­siv mit Ton­satz, Har­mo­nie­leh­re und Gehör­bil­dung aus­ein­an­der. Bereits als Fünf­jäh­ri­ger haben Luckes Eltern ihn zum Kla­vier­un­ter­richt geschickt, weil er vom alten Flü­gel nicht die Fin­ger las­sen konn­te. „Glück­li­cher­wei­se war ich sofort in die Leh­re­rin ver­liebt, so dass ich auch tat­säch­lich geübt habe“, erin­nert sich der Frau­en­arzt zurück. Sei­ne Eltern waren bei­de musi­ka­lisch, haben das aber nie inten­siv aus­ge­lebt. Wolf­ram Lucke selbst wur­de bald von einer Pro­fes­so­rin an der Musik­hoch­schu­le in Stutt­gart unter­rich­tet, deren Mann Pro­fes­sor für Kom­po­si­ti­on war und den jun­gen inter­es­sier­ten Lucke zum Schrei­ben eige­ner Stü­cke inspi­rier­te. Inso­fern hat­te er ein sti­mu­lie­ren­des und för­dern­des Umfeld, für das er heu­te noch dank­bar ist. Den­noch ent­schied sich Wolf­ram Lucke nicht für ein Musik­stu­di­um, son­dern für das der Medi­zin und ist heu­te der leben­di­ge Beweis dafür, wie groß­ar­tig die­se Dis­zi­pli­nen mit­ein­an­der har­mo­nie­ren können.

Im Inter­view mit ihm gehen wir der Fra­ge nach, inwie­weit das Künst­le­ri­sche und das Hand­werk­lich-Wis­sen­schaft­li­che mit­ein­an­der ver­bun­den sind und wie auf Basis des­sen der Begriff „Ars Medi­ca“ ver­stan­den wer­den kann. Wolf­ram Lucke glaubt dar­an, dass an den Grenz­flä­chen ver­schie­de­ner Berei­che Befruch­tung ent­steht: „Jeder, der über sei­nen defi­nier­ten Tel­ler­rand hin­aus­schaut, ist berei­chert, erfährt eine Hori­zont­er­wei­te­rung und kann auch bes­ser reflek­tie­ren.“ Wir unter­hal­ten uns dar­über, wie gut Kunst und Medi­zin mit­ein­an­der kön­nen, über den Ur-Glau­ben an eine stim­mi­ge Welt, dar­über, ob Kunst den Pati­en­ten Mut macht, wel­chen Stel­len­wert Geburt und Tod in bei­den Dis­zi­pli­nen ein­neh­men und wie lan­ge der Mensch über­haupt ohne Kunst aus­kom­men kann.

Wie sind Sie vom Kla­vier­spie­len zum Diri­gie­ren gekommen?

WOLFRAM LUCKE: Als Ober­stu­fen­schü­ler habe ich als Solist das C‑dur Kon­zert von Mozart, KV 461, mit unse­rem Schul­or­ches­ter gespielt. Der Musik­leh­rer bat mich in die­sem Kon­text, Regis­ter-pro­ben mit Tei­len des Orches­ters zu über­neh­men – der Vor­teil, den Pia­nis­ten haben, ist ja nun mal, dass sie gewohnt sind, Noten­sys­te­me „ver­ti­kal“ zu lesen, also meh­re­re Stim­men, die über­ein­an­der notiert sind, gleich­zei­tig wahr­zu­neh­men und ver­ste­hen. Also habe ich damals ange­fan­gen, auch Tei­le der Pro­ben zu lei­ten, wofür mir mein Musik­leh­rer dann tat­säch­lich auch Ein­zel­un­ter­richt im Diri­gie­ren gege­ben hat – das Diri­gie­ren baut ja, wie die ande­ren Küns­te auch, zunächst ein­mal auf hand­werk­lich-tech­ni­schen Grund­la­gen auf, ohne die es nicht geht – Schlag­tech­nik, Atem­tech­nik, Phra­sie­rung, Bogen­ge­stal­tung und vie­les mehr. Das kann man – muss man! – erler­nen, üben, bevor man sich über die Umset­zung einer Inter­pre­ta­ti­on Gedan­ken macht. Spä­ter als Stu­dent habe ich dann nach der Grün­dung eines eige­nen Orches­ters über vie­le Jah­re Diri­gier­pra­xis erwer­ben kön­nen und die­se durch Besuch von Work­shops und Diri­gier­kur­sen abgerundet.

Können Sie uns den Begriff „Ars Medi­ca“ erklä­ren und was ver­bin­den Sie damit?

WOLFRAM LUCKE: Wört­lich ist das ja die „medi­zi­ni­sche Kunst“. Damit kann zum einen Kunst gemeint sein, die sich medi­zi­ni­schen The­men wid­met, wie Bil­der aus dem Mit­tel­al­ter, die Sze­nen von medi­zi­ni­schen Ein­grif­fen dar­stel­len. Zum ande­ren – auf die­sen Kon­text spie­len Sie wohl an – ist das künst­le­ri­sche Moment in der Medi­zin gemeint, man könn­te das viel­leicht am ehes­ten tref­fen mit dem Begriff „Heil­kunst“, mög­li­cher-wei­se im bewuss­ten Gegen­satz zur „Heil­kun­de“. Wäh­rend Heil­kun­de sug­ge­riert, dass Wis­sen im Spiel ist, Kennt­nis­se ange­wen­det wer­den, die ver­steh­bar sind, erklär­bar, auch repro­du­zier­bar, asso­zi­iert man viel­leicht mit Heil­kunst eher etwas Kryp­ti­sches, wie Intui­ti­on und Gefühl, die eben der Künst­ler ein­bringt, die man aber nicht so ohne Wei­te­res erklä­ren und repro­du­zie­ren kann. Mit der Fra­ge machen Sie ja letzt­lich ein rie­si­ges Fass auf. Ich den­ke sofort an Goe­thes Faust, der auf der Suche nach Kennt­nis­sen, der „…-Kun­de“ Phi­lo­so­phie, Juris­te­rei, Medi­zin und Theo­lo­gie stu­diert hat und dann doch zu sei­nem eige­nen Bedau­ern erken­nen muss, dass er immer noch nicht weiß, was die Welt im Inne­ren zusam­men-hält, also was eigent­lich in den jewei­li­gen Dis­zi­pli­nen die „Kunst“ aus­macht. Letzt­lich ist es wohl über­all so, dass Vie­les „…-Kun­de“ ist – Wis­sen, Kennt­nis, ohne die es nicht geht, aber dass eben auch immer das Quan­tum Intui­ti­on dazu­kommt, die per­sön­li­che Visi­on, das gute Gefühl, etwas so und nicht anders zu tun – das, was wir viel­leicht das künst­le­ri­sche Ele­ment nen­nen, weil wir es so schlecht fas­sen kön­nen. Und das gibt es, mei­ne ich, eben nicht nur in der Medi­zin und natür­lich in der Kunst – das gibt es letzt­lich in allen Berei­chen des Lebens. Wenn ich mir das bewusst mache, dass es in allen Lebens­be­rei­chen die emo­tio­nal und ästhe­tisch bestimm­ten, intui­ti­ven Momen­te gibt, die mei­ne Ent­schei­dun­gen und mein Han­deln eben­so beein­flus­sen, wie mein Wis­sen und mei­ne Kennt­nis­se, dann bin ich ganz schnell bei Joseph Beuys: jeder Mensch ist ein Künst­ler! Nun wird die Kunst in der Medi­zin übli­cher­wei­se nicht so sehr wahr­ge­nom­men – als Pati­ent fühlt es sich pri­mär bes­ser an, das Gefühl zu haben, dass der Ope­ra­teur im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes „weiß, was er macht“ und nicht künst­le­risch-intui­tiv vor­geht, eben­so, wie man als Kon­zert­hö­rer beim Musi­ker gera­de das Künst­le­risch-Intui­ti­ve wahr­neh­men will und nicht so sehr dar­an inter­es­siert ist, dass in der Dar­bie­tung eines Musik­stü­ckes eben auch viel Hand-werk steckt. Tat­säch­lich aber ist in bei­den Berei­chen immer bei­des imma­nent ent­hal­ten – sowohl Medi­zin als auch Musik funk­tio­nie­ren nur, wenn bei­de Ele­men­te vor­han­den sind – das Künst­le­ri­sche und das Handwerklich-Wissenschaftliche.

Sie sind Frau­en­arzt – spielt die Kunst in Ihrem Beruf eine beson­de­re Rol­le – ist die­se ein Zugang zur mensch­li­chen See­le, um den Pati­en­ten bes­ser zu ver­ste­hen, ihn effi­zi­en­ter zu heilen?

WOLFRAM LUCKE: Ich glau­be nicht, dass pau­schal die Kunst im medi­zi­ni­schen Beruf eine gro­ße Rol­le spie­len muss – sie spielt aber in mei­ner Art und Wei­se der Berufs­aus­übung defi­ni­tiv eine gro­ße Rol­le. Ich ver­ste­he die Welt, die Men­schen um mich her­um und somit eben auch die Pati­en­ten, durch mei­ne Kunst, durch die Musik. Ande­re Kol­le­gen mögen einen ande­ren Zugang zu ihren Pati­en­ten fin­den, bei­spiel­wei­se über sport­li­che Inter­es­sen und Wer­te, wie­der ande­re viel­leicht über den Humor. Es kann, aber muss nicht immer die Kunst sein. Über­ge­ord­net wich­tig ist mei­ner Mei­nung nur, dass jeder Arzt sei­ne per­sön­li­che eige­ne Art und Wei­se, sei­nen Hin­ter­grund hat, mit der er in sei­nem Pati­en­ten immer auch den Men­schen sehen kann – das kann über die Kunst gut funk­tio­nie­ren, aber eben auch auf ande­re Art und Weise.

Wenn ich mir das bewusst mache, dass es in allen Lebens­be­rei­chen die emo­tio­nal und ästhe­tisch bestimm­ten, intui­ti­ven Momen­te gibt, die mei­ne Ent­schei­dun­gen und mein Han­deln eben­so beein­flus­sen, wie mein Wis­sen und mei­ne Kennt­nis­se, dann bin ich ganz schnell bei Joseph Beuys: jeder Mensch ist ein Künstler! 

Ärzte und Kunst – wel­che Syn­er­gien ent­ste­hen dar­aus und wie wür­den Sie die­se Ver­net­zung interpretieren?

WOLFRAM LUCKE: Ich glau­be grund­sätz­lich dar­an, dass an den Grenz­flä­chen ver­schie­de­ner Berei­che Befruch­tung ent­steht. Jeder, der über sei­nen defi­nier­ten Tel­ler­rand hin­aus­schaut, ist berei­chert, erfährt eine Hori­zont­er­wei­te­rung und kann auch bes­ser reflek­tie­ren. So bie­tet zum einen sicher für kunst­af­fi­ne Ärz­te die Kunst eine Mög­lich­keit, den Pati­en­ten als gan­zen Men­schen zu sehen – wie bereits erläu­tert. Zum ande­ren bie­tet die Kunst sicher auch den Ärz­ten, die dafür offen sind, eine Mög­lich­keit, ihre beruf­li­chen Erleb­nis­se und Erfah­run­gen zu ver­ar­bei­ten. Sehen Sie, in mei­nem Beruf als Frau­en­arzt in einer gro­ßen Kli­nik habe ich täg­lich das Ende des Lebens vor Augen, wenn ich krebs­kran­ke Pati­en­tin­nen ope­rie­re, aber ich sehe auch den Anfang des Lebens, wenn ich im Kreis­saal bei einer Geburt hel­fe. Und sind das nicht zwei der ganz gro­ßen The­men unse­res Lebens: Geburt und Tod? Und natür­lich sind das eben auch die viel­leicht bei­den größ­ten The­men in der Kunst: Geburt und Tod. Das mei­ne ich mit Befruch­tung beim Über­tre­ten von Gren­zen: wenn ich sol­che kli­ni­schen Erfah­run­gen als Arzt mit­neh­me in mein Musi­zie­ren und dann bei­spiels­wei­se eine Orches­ter­mu­sik diri­gie­re, in der es eben auch im über­tra­ge­nen Sin­ne mal um Geburt, mal um den Tod geht – ich glau­be schon, dass da unbe­wusst Vie­les aus der Kli­nik mit hin­e­infließt und dass ich dann die­se Musik anders, tie­fer emp­fun­den musi­zie­ren kann – oder anders aus­ge­drückt: viel­leicht habe ich durch mei­ne ärzt­li­che Tätig­keit bereits in jün­ge­ren Jah­ren einen Unter­bau an mensch­li­cher Erfah­rung, der mich als Musi­ker authen­tisch macht.

Durf­ten Sie beson­de­re Erfah­run­gen in die­ser Hin­sicht auch mit ande­ren Kol­le­gen Ihrer Zunft machen, die Ihre Ansicht tei­len oder auch nicht?

WOLFRAM LUCKE: Medi­zin und Musik sind bekannt­lich zwei The­men, die beson­ders häu­fig gut mit­ein­an­der funk­tio­nie­ren – es gibt ja nun wirk­lich vie­le Medi­zi­ner, die auch Musik machen, auch berühm­te Kol­le­gen aus der Ver­gan­gen­heit, wie bei­spiels­wei­se Albert Schwei­zer, und auch im Pro­fi-Musik-Bereich. Ich habe natür­lich sehr viel mit medi­zi­ni­schen Kol­le­gen musi­ziert, und da ist dann tat­säch­lich immer sofort eine zusätz­li­che Ebe­ne des Ver­ste­hens vor­han­den, die man sich beim Musi­zie­ren mit ande­ren erst erar­bei­ten muss. Aller­dings wird in die­sem Rah­men eher nicht so viel über die­se Din­ge gespro­chen und ob Ansich­ten geteilt wer­den oder nicht, ergibt sich weni­ger aus Gesprä­chen über das gemein­sa­me Musi­zie­ren als viel­mehr aus dem Musi­zie­ren selbst her­aus – ent­we­der es funk­tio­niert, oder es funk­tio­niert halt nicht. Meis­tens funk­tio­niert es! Dahin­ter steckt mei­ner Mei­nung nach das bekann­te Phä­no­men, dass man eigent­lich die Musik selbst nicht mit Spra­che in allen Facet­ten erfas­sen kann. Könn­te man es, wür­de man ja nicht mehr musi­zie­ren „müs­sen“.

Die Fra­ge, ob Kunst Mut machen kann, lie­be ich – ja natür­lich kann sie, sie muss es sogar! 

Kunst und Medi­zin – der Begriff Heil­kunst klingt fern­öst­lich, fast schon eso­te­risch – passt das tat­säch­lich zusam­men? Wie hand­ha­ben Sie die Kunst als Arzt, spe­zi­ell als Ope­ra­teur und schaf­fen Sie dabei eine Brü­cke zu Ihren Pati­en­ten? Was bedeu­tet das für Sie und den Patienten?

WOLFRAM LUCKE: Also, ich bin nicht der Arzt, der bei The­ra­pie­be­ginn Klang­scha­len anreibt. Aber dar­über, dass es in der Medi­zin natür­lich das künst­le­ri­sche Ele­ment gibt, das wir viel­leicht am ehes­ten da ansie­deln, wo nicht kla­re Regeln des Lehr­buchs das Han­deln dik­tie­ren, haben wir bereits gespro­chen. Dazu viel­leicht zwei Gedanken:
Ers­tens erfolgt die Durch­füh­rung einer Ope­ra­ti­on zunächst ein­mal nach kla­ren Regeln und gut trai­nier­ten ope­ra­ti­ons­tech­ni­schen Vor­ge­hens­wei­sen. Aber nicht so sel­ten stößt man beim Ope­rie­ren auf Befun­de, die dann doch ein biss­chen anders sind, als aus den Bil­dern vor der OP erwar­tet, und dann muss man ent­schei­den – wie soll es nun wei­ter­ge­hen? Da kommt dann schon – wie in der Kunst – ein impro­vi­sie­ren­des Ele­ment dazu und man muss, um jetzt im Sin­ne des Pati­en­ten ent­schei­den zu kön­nen, in sol­chen Situa­tio­nen mehr über den Pati­en­ten wis­sen, als nur die Befun­de, aus denen er besteht. Da macht es sich dann bezahlt, wenn man im Vor­feld den gan­zen Men­schen gesucht und viel­leicht ein Stück weit auch gefun­den hat.
Zwei­tes sehe ich ein gewis­ses Pro­blem in der Ent­wick­lung der Medi­zin in den letz­ten Jah­ren dar­in, dass die Medi­zin immer mehr ver­sucht, alles, was sie tut, begründ­bar zu machen – oder anders gesagt, dass sie ver­sucht, immer mehr nur die Din­ge zu tun, die medi­zi­nisch begründ­bar sind – wir spre­chen von der „evi­dence based medi­ci­ne“: Nur was in Stu­di­en bewie­se­ner­ma­ßen gewirkt hat, soll ange­wen­det wer­den. Das klingt einer­seits zunächst sinn­voll – sicher­lich steckt dahin­ter auch der öko­no­mi­sche Zwang, im Gesund­heits­we­sen kein Geld aus­zu­ge­ben, für Maß­nah­men, deren Nut­zen nicht belegt ist. Ande­rer­seits wis­sen wir aber doch auch, dass der Mensch ein Bedürf­nis hat nach Emo­tio­na­li­tät und nach Spi­ri­tua­li­tät und Ritua­len – das sind doch alles Din­ge, ohne die ein Mensch ganz schnell zu Grun­de geht. Und da den­ke ich, ist es falsch, wenn die Medi­zin zu sehr nur noch nach Evi­den­zen sucht und kei­nen Platz mehr lässt für das Spi­ri­tu­el­le und Emo­tio­na­le. Wir Ärz­te brau­chen uns nicht wun­dern, dass unse­re Pati­en­ten zuneh­mend bei para­me­di­zi­ni­schen Beru­fen – man­che seri­ös, man­che lei­der auch nicht – ihr Heil suchen, wenn wir Ärz­te die­se Grund­be­dürf­nis­se nicht mehr bedie­nen. Der Wert eines zuge­wand­ten Gesprächs ist unbe­strit­ten, lässt sich aber eben schlecht als Evi­denz im Rah­men einer Stu­die abbil­den. Viel­leicht könn­te man so den Unter­schied zwi­schen einem Medi­zi­ner und einem Arzt ver­su­chen: wäh­rend der Medi­zi­ner streng an den Evi­den­zen ori­en­tiert han­delt, lässt der Arzt – der die Evi­den­zen auch ken­nen muss! – zusätz­lich Raum für Spi­ri­tua­li­tät, Emo­ti­on und Ritua­le. Und für ein sol­ches Arzt-Sein ist eine künst­le­ri­sche Beschäf­ti­gung ganz sicher hilfreich.

Nehmen Ihre Pati­en­ten „Kunst“ als The­ra­pie­form an und wel­che Erfah­run­gen haben Sie per­sön­lich gemacht? Kann Kunst Mut machen?

WOLFRAM LUCKE: Kunst als The­ra­pie­form ist in mei­nem Arbeits­feld einer gro­ßen Akut­kli­nik lei­der eher nur spär­lich reprä­sen­tiert. Aber im Reha­bi­li­ta­ti­ons­be­reich spielt das eine gro­ße Rol­le und die Erfah­run­gen aus die­sen Berei­chen sind gut! Die Fra­ge, ob Kunst Mut machen kann, lie­be ich – ja natür­lich kann sie, sie muss es sogar! Das bezieht sich nun auch nicht nur auf unse­re Pati­en­ten, son­dern letzt­lich auf alle Men­schen! Sehen Sie, wir haben doch alle unse­re Pro­ble­me – von den klei­nen in der Fami­lie und im per­sön­li­chen Arbeits­um­feld ange­fan­gen, bis zu den ganz gro­ßen glo­ba­len. Um nicht auf Dau­er die Hoff­nung auf­zu­ge­ben und die Kraft zu ver­lie­ren, brau­chen wir alle, jeder ein­zel­ne von uns, doch Erfah­run­gen, die uns moti­vie­ren, die uns die Visi­on am Leben erhal­ten: es kann gehen, es lohnt sich! Ich zitie­re Leo­nard Bern­stein, der gesagt hat, dass das der viel­leicht größ­te ethi­sche Wert der Musik ist: in einem guten Musik­stück erle­ben wir wie­der ein­mal, dür­fen wir meta­phy­sisch spü­ren, dass es Wel­ten gibt, die in sich stim­men, die funk­tio­nie­ren, die rich­tig sind – und das ist doch das, was uns manch­mal droht, abhan­den zu kom­men: der Glau­be an eine stim­mi­ge Welt. In der Musik, in der Kunst kön­nen wir sie fin­den, die stim­mi­ge Welt, und kön­nen den Ur-Glau­ben dar­an wie­der­be­le­ben, dass es doch stim­mi­ge Wel­ten gibt – und aus die­sem Ur-Glau­ben her­aus gehen wir wie­der ins „ech­te Leben“ mit Visio­nen und Idea­len und enga­gie­ren uns für die „bes­te aller mög­li­chen Welten“!

Sie lei­ten auch das Orches­ter ihres Gesund­heits­ver­bunds – wel­che Bot­schaft steckt dahin­ter, an wen ist sie gerichtet?

WOLFRAM LUCKE: Unser Gesund­heits­ver­bund ist ein Zusam­men­schluss von 5 Kran­ken­häu­sern der Regi­on Hegau/westlicher Boden­see – da gibt es tat­säch­lich vie­le Mit­ar­bei­ter, die als Lai­en Musik machen, und das sind nicht nur Ärz­te und Schwes­tern, da fin­den sich auch Logo­pä­den, Sozi­al­ar­bei­ter, der Schrei­ner aus der Werk­statt und die Sekre­tä­rin aus der Ver­wal­tung und vie­le mehr.
Wir haben uns als Orches­ter zusam­men-gefun­den auf­grund der gemein­sa­men Freu­de am gemein­sa­men Musi­zie­ren – zunächst ganz ohne Bot­schaft. Aber natür­lich steckt imma­nent in allem, was wir tun, auch eine Bot­schaft. Die unaus­ge­spro­che­ne Bot­schaft kann die sein, sich über die Musik als Men­schen bes­ser ken­nen­zu­ler­nen – nicht nur in der Kli­nik pro­fes­sio­nell mit-ein­an­der zu tun zu haben. Nach einer abend­li­chen gemein­sa­men Haydn-Pro­be begeg­net man sich am nächs­ten Mor­gen beruf­lich ganz anders wie­der – vie­les wird im All­tag ein­fa­cher, freund­li­cher. Eine wei­te­re, unaus­ge­spro­che­ne Bot­schaft ist natür­lich die ans Publi­kum, an die Bevöl­ke­rung unse­rer Regi­on: Seht mal, wir, eure Kran­ken­haus-Teams, sind hin­ter den wei­ßen Kit­teln der Pro­fes­sio­na­li­tät auch mehr – sind auch Men­schen mit Emo­tio­nen und Spi­ri­tua­li­tät. Es ist viel­leicht die Wer­bung dafür, dass nicht nur wir Behand­ler in den Pati­en­ten den Men­schen sehen wol­len, son­dern auch umge­kehrt wir durch die Pati­en­ten als Men­schen wahr­ge­nom­men wer­den kön­nen – das tut wie­der­um nicht nur uns, son­dern auch den Pati­en­ten gut!
Und es bleibt – mir per­sön­lich sehr bewusst und wich­tig – eine grund­sätz­li­che glo­ba­le Bot­schaft im Musi­zie­ren eines Orches­ters oder auch eines Chors: das pas­si­ve Erle­ben – als Zuhö­rer – aber viel mehr noch das akti­ve Er-leben – als Mit-Musi­ker – macht uns erleb­bar, spür­bar, dass wir alle, jeder ein­zel­ne mit sei­nen Unzu­läng­lich­kei­ten, sei­ner Unper­fekt­heit in der Gemein­schaft etwas Gro­ßes ver­wirk­li­chen kön­nen! Es ist eine mit Wor­ten nicht beschreib-bare Ur-Erfah­rung, die uns erle­ben lässt, dass nur und alter­na­tiv­los das sozia­le Mit­ein­an­der der Men­schen ein gro­ßes Gan­zes gelin­gen lässt, in wel­chem die Unzu­läng­lich­kei­ten des Ein­zel­nen aus­ge­gli­chen wer­den und dass jeder ein­zel­ne dabei glei­cher­ma­ßen wich­tig ist. Wer das ein­mal bewusst – oder auch unbe­wusst – erfah­ren, erlebt hat, kann eigent­lich gar nicht mehr anders, als an den uner­setz­ba­ren Wert einer frei­heit­li­chen und sozia­len Gesell­schafts­ord­nung zu glauben.

Sie sind ein poli­ti­scher Mensch?

WOLFRAM LUCKE: Ich bin nicht aktiv im All­tag poli­tisch. Viel­leicht, eigent­lich soll­te ich. Aber ich habe ein Bewusst­sein für die poli­ti­schen und die phi­lo­so­phi­schen Dimen­sio­nen unse­rer Gesell­schaft und unse­res Han­delns. Und da sind mir die­se Din­ge eben sehr bewusst, dass wir in der Kunst nicht Par­al­lel­wel­ten erschaf­fen, die mit dem ech­ten Leben nichts zu tun haben, son­dern im Gegen­teil, wir schaf­fen Wel­ten, die uns Erfah­run­gen ermög­li­chen, die wir im ech­ten Leben drin­gend brau­chen. Des­we­gen kann der Mensch zwar ohne Kunst – in Pan­de­mie­zei­ten – ein biss­chen län­ger über­le­ben, als ohne Essen, aber eben nicht auf Dauer.

Haben Sie Wün­sche oder Visio­nen für die Medizin?

WOLFRAM LUCKE: Es herrscht auf der poli­ti­schen Ebe­ne eine Schi­zo­phre­nie, die ich als unehr­lich emp­fin­de, wenn der Bevöl­ke­rung immer wie­der erzählt wird, wie gut alles im Gesund­heits­we­sen funk­tio­niert, wie hoch­ste­hend die deut­sche Medi­zin ist, aber gleich­zei­tig seit Jah­ren der Rot­stift ange­setzt wird, Kran­ken­häu­ser kaputt­ge­spart wer­den, Pfle­ge­kräf­te nicht adäquat bezahlt werden.
Ohne ein Umden­ken bezüg­lich der Finan­zie­rung wer­den wir auf Dau­er die hohen, durch die Poli­tik for­mu­lier­ten Ansprü­che an das deut­sche Gesund­heits­we­sen nicht hal­ten kön­nen – viel­leicht ist das auch gar nicht gewollt. Nur: wenn das aus Grün­den der Finan­zie­rung gar nicht gewollt ist, soll die Poli­tik das doch bit­te auch genau­so der Bevöl­ke­rung sagen. Aber das ist, fürch­te ich, in ande­ren Berei­chen, bei­spiels­wei­se der Musik, auch nicht anders.

Haben Sie Wün­sche oder Visio­nen für die Musik?

WOLFRAM LUCKE: Ein­mal mit einem Pro­fi­en­sem­ble ein Orches­ter­pro­jekt, viel­leicht auch mit eige­nen Kom­po­si­tio­nen, zu ver­wirk­li­chen, wäre ein Traum.

Groß­ar­tig – wir sind uns sicher, dass sich Ihr Traum erfül­len wird! 
Wir bedan­ken uns für die­sen ganz per­sön­li­chen Ein­blick, der uns defi­ni­tiv eine neue Per­spek­ti­ve eröff­net hat.


Das Inter­view ist in der Aus­ga­be 1.21 PONEERING erschienen.
Print-Ver­si­on hier bestel­len: 1.21 PIONEERING – stay­in­art | Kunstmagazin

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