Interview mit Chefarzt und Orchesterleiter Wolfram Lucke
Gemeinsam mit Wolfram Lucke, leidenschaftlicher Musiker und Chefarzt der Singener Frauenklinik, machen wir in dieser Ausgabe „ein Fass auf“, um es in seinen Worten auszudrücken. Als praktizierender Arzt ist er zugleich Dirigent des Orchesters seines Gesundheitsverbunds. Er komponiert eigene Stücke und setzt sich seit seiner Kindheit intensiv mit Tonsatz, Harmonielehre und Gehörbildung auseinander. Bereits als Fünfjähriger haben Luckes Eltern ihn zum Klavierunterricht geschickt, weil er vom alten Flügel nicht die Finger lassen konnte. „Glücklicherweise war ich sofort in die Lehrerin verliebt, so dass ich auch tatsächlich geübt habe“, erinnert sich der Frauenarzt zurück. Seine Eltern waren beide musikalisch, haben das aber nie intensiv ausgelebt. Wolfram Lucke selbst wurde bald von einer Professorin an der Musikhochschule in Stuttgart unterrichtet, deren Mann Professor für Komposition war und den jungen interessierten Lucke zum Schreiben eigener Stücke inspirierte. Insofern hatte er ein stimulierendes und förderndes Umfeld, für das er heute noch dankbar ist. Dennoch entschied sich Wolfram Lucke nicht für ein Musikstudium, sondern für das der Medizin und ist heute der lebendige Beweis dafür, wie großartig diese Disziplinen miteinander harmonieren können.
Im Interview mit ihm gehen wir der Frage nach, inwieweit das Künstlerische und das Handwerklich-Wissenschaftliche miteinander verbunden sind und wie auf Basis dessen der Begriff „Ars Medica“ verstanden werden kann. Wolfram Lucke glaubt daran, dass an den Grenzflächen verschiedener Bereiche Befruchtung entsteht: „Jeder, der über seinen definierten Tellerrand hinausschaut, ist bereichert, erfährt eine Horizonterweiterung und kann auch besser reflektieren.“ Wir unterhalten uns darüber, wie gut Kunst und Medizin miteinander können, über den Ur-Glauben an eine stimmige Welt, darüber, ob Kunst den Patienten Mut macht, welchen Stellenwert Geburt und Tod in beiden Disziplinen einnehmen und wie lange der Mensch überhaupt ohne Kunst auskommen kann.
Wie sind Sie vom Klavierspielen zum Dirigieren gekommen?
WOLFRAM LUCKE: Als Oberstufenschüler habe ich als Solist das C‑dur Konzert von Mozart, KV 461, mit unserem Schulorchester gespielt. Der Musiklehrer bat mich in diesem Kontext, Register-proben mit Teilen des Orchesters zu übernehmen – der Vorteil, den Pianisten haben, ist ja nun mal, dass sie gewohnt sind, Notensysteme „vertikal“ zu lesen, also mehrere Stimmen, die übereinander notiert sind, gleichzeitig wahrzunehmen und verstehen. Also habe ich damals angefangen, auch Teile der Proben zu leiten, wofür mir mein Musiklehrer dann tatsächlich auch Einzelunterricht im Dirigieren gegeben hat – das Dirigieren baut ja, wie die anderen Künste auch, zunächst einmal auf handwerklich-technischen Grundlagen auf, ohne die es nicht geht – Schlagtechnik, Atemtechnik, Phrasierung, Bogengestaltung und vieles mehr. Das kann man – muss man! – erlernen, üben, bevor man sich über die Umsetzung einer Interpretation Gedanken macht. Später als Student habe ich dann nach der Gründung eines eigenen Orchesters über viele Jahre Dirigierpraxis erwerben können und diese durch Besuch von Workshops und Dirigierkursen abgerundet.
Können Sie uns den Begriff „Ars Medica“ erklären und was verbinden Sie damit?
WOLFRAM LUCKE: Wörtlich ist das ja die „medizinische Kunst“. Damit kann zum einen Kunst gemeint sein, die sich medizinischen Themen widmet, wie Bilder aus dem Mittelalter, die Szenen von medizinischen Eingriffen darstellen. Zum anderen – auf diesen Kontext spielen Sie wohl an – ist das künstlerische Moment in der Medizin gemeint, man könnte das vielleicht am ehesten treffen mit dem Begriff „Heilkunst“, möglicher-weise im bewussten Gegensatz zur „Heilkunde“. Während Heilkunde suggeriert, dass Wissen im Spiel ist, Kenntnisse angewendet werden, die verstehbar sind, erklärbar, auch reproduzierbar, assoziiert man vielleicht mit Heilkunst eher etwas Kryptisches, wie Intuition und Gefühl, die eben der Künstler einbringt, die man aber nicht so ohne Weiteres erklären und reproduzieren kann. Mit der Frage machen Sie ja letztlich ein riesiges Fass auf. Ich denke sofort an Goethes Faust, der auf der Suche nach Kenntnissen, der „…-Kunde“ Philosophie, Juristerei, Medizin und Theologie studiert hat und dann doch zu seinem eigenen Bedauern erkennen muss, dass er immer noch nicht weiß, was die Welt im Inneren zusammen-hält, also was eigentlich in den jeweiligen Disziplinen die „Kunst“ ausmacht. Letztlich ist es wohl überall so, dass Vieles „…-Kunde“ ist – Wissen, Kenntnis, ohne die es nicht geht, aber dass eben auch immer das Quantum Intuition dazukommt, die persönliche Vision, das gute Gefühl, etwas so und nicht anders zu tun – das, was wir vielleicht das künstlerische Element nennen, weil wir es so schlecht fassen können. Und das gibt es, meine ich, eben nicht nur in der Medizin und natürlich in der Kunst – das gibt es letztlich in allen Bereichen des Lebens. Wenn ich mir das bewusst mache, dass es in allen Lebensbereichen die emotional und ästhetisch bestimmten, intuitiven Momente gibt, die meine Entscheidungen und mein Handeln ebenso beeinflussen, wie mein Wissen und meine Kenntnisse, dann bin ich ganz schnell bei Joseph Beuys: jeder Mensch ist ein Künstler! Nun wird die Kunst in der Medizin üblicherweise nicht so sehr wahrgenommen – als Patient fühlt es sich primär besser an, das Gefühl zu haben, dass der Operateur im wahrsten Sinne des Wortes „weiß, was er macht“ und nicht künstlerisch-intuitiv vorgeht, ebenso, wie man als Konzerthörer beim Musiker gerade das Künstlerisch-Intuitive wahrnehmen will und nicht so sehr daran interessiert ist, dass in der Darbietung eines Musikstückes eben auch viel Hand-werk steckt. Tatsächlich aber ist in beiden Bereichen immer beides immanent enthalten – sowohl Medizin als auch Musik funktionieren nur, wenn beide Elemente vorhanden sind – das Künstlerische und das Handwerklich-Wissenschaftliche.
Sie sind Frauenarzt – spielt die Kunst in Ihrem Beruf eine besondere Rolle – ist diese ein Zugang zur menschlichen Seele, um den Patienten besser zu verstehen, ihn effizienter zu heilen?
WOLFRAM LUCKE: Ich glaube nicht, dass pauschal die Kunst im medizinischen Beruf eine große Rolle spielen muss – sie spielt aber in meiner Art und Weise der Berufsausübung definitiv eine große Rolle. Ich verstehe die Welt, die Menschen um mich herum und somit eben auch die Patienten, durch meine Kunst, durch die Musik. Andere Kollegen mögen einen anderen Zugang zu ihren Patienten finden, beispielweise über sportliche Interessen und Werte, wieder andere vielleicht über den Humor. Es kann, aber muss nicht immer die Kunst sein. Übergeordnet wichtig ist meiner Meinung nur, dass jeder Arzt seine persönliche eigene Art und Weise, seinen Hintergrund hat, mit der er in seinem Patienten immer auch den Menschen sehen kann – das kann über die Kunst gut funktionieren, aber eben auch auf andere Art und Weise.
Wenn ich mir das bewusst mache, dass es in allen Lebensbereichen die emotional und ästhetisch bestimmten, intuitiven Momente gibt, die meine Entscheidungen und mein Handeln ebenso beeinflussen, wie mein Wissen und meine Kenntnisse, dann bin ich ganz schnell bei Joseph Beuys: jeder Mensch ist ein Künstler!
Ärzte und Kunst – welche Synergien entstehen daraus und wie würden Sie diese Vernetzung interpretieren?
WOLFRAM LUCKE: Ich glaube grundsätzlich daran, dass an den Grenzflächen verschiedener Bereiche Befruchtung entsteht. Jeder, der über seinen definierten Tellerrand hinausschaut, ist bereichert, erfährt eine Horizonterweiterung und kann auch besser reflektieren. So bietet zum einen sicher für kunstaffine Ärzte die Kunst eine Möglichkeit, den Patienten als ganzen Menschen zu sehen – wie bereits erläutert. Zum anderen bietet die Kunst sicher auch den Ärzten, die dafür offen sind, eine Möglichkeit, ihre beruflichen Erlebnisse und Erfahrungen zu verarbeiten. Sehen Sie, in meinem Beruf als Frauenarzt in einer großen Klinik habe ich täglich das Ende des Lebens vor Augen, wenn ich krebskranke Patientinnen operiere, aber ich sehe auch den Anfang des Lebens, wenn ich im Kreissaal bei einer Geburt helfe. Und sind das nicht zwei der ganz großen Themen unseres Lebens: Geburt und Tod? Und natürlich sind das eben auch die vielleicht beiden größten Themen in der Kunst: Geburt und Tod. Das meine ich mit Befruchtung beim Übertreten von Grenzen: wenn ich solche klinischen Erfahrungen als Arzt mitnehme in mein Musizieren und dann beispielsweise eine Orchestermusik dirigiere, in der es eben auch im übertragenen Sinne mal um Geburt, mal um den Tod geht – ich glaube schon, dass da unbewusst Vieles aus der Klinik mit hineinfließt und dass ich dann diese Musik anders, tiefer empfunden musizieren kann – oder anders ausgedrückt: vielleicht habe ich durch meine ärztliche Tätigkeit bereits in jüngeren Jahren einen Unterbau an menschlicher Erfahrung, der mich als Musiker authentisch macht.
Durften Sie besondere Erfahrungen in dieser Hinsicht auch mit anderen Kollegen Ihrer Zunft machen, die Ihre Ansicht teilen oder auch nicht?
WOLFRAM LUCKE: Medizin und Musik sind bekanntlich zwei Themen, die besonders häufig gut miteinander funktionieren – es gibt ja nun wirklich viele Mediziner, die auch Musik machen, auch berühmte Kollegen aus der Vergangenheit, wie beispielsweise Albert Schweizer, und auch im Profi-Musik-Bereich. Ich habe natürlich sehr viel mit medizinischen Kollegen musiziert, und da ist dann tatsächlich immer sofort eine zusätzliche Ebene des Verstehens vorhanden, die man sich beim Musizieren mit anderen erst erarbeiten muss. Allerdings wird in diesem Rahmen eher nicht so viel über diese Dinge gesprochen und ob Ansichten geteilt werden oder nicht, ergibt sich weniger aus Gesprächen über das gemeinsame Musizieren als vielmehr aus dem Musizieren selbst heraus – entweder es funktioniert, oder es funktioniert halt nicht. Meistens funktioniert es! Dahinter steckt meiner Meinung nach das bekannte Phänomen, dass man eigentlich die Musik selbst nicht mit Sprache in allen Facetten erfassen kann. Könnte man es, würde man ja nicht mehr musizieren „müssen“.
Die Frage, ob Kunst Mut machen kann, liebe ich – ja natürlich kann sie, sie muss es sogar!
Kunst und Medizin – der Begriff Heilkunst klingt fernöstlich, fast schon esoterisch – passt das tatsächlich zusammen? Wie handhaben Sie die Kunst als Arzt, speziell als Operateur und schaffen Sie dabei eine Brücke zu Ihren Patienten? Was bedeutet das für Sie und den Patienten?
WOLFRAM LUCKE: Also, ich bin nicht der Arzt, der bei Therapiebeginn Klangschalen anreibt. Aber darüber, dass es in der Medizin natürlich das künstlerische Element gibt, das wir vielleicht am ehesten da ansiedeln, wo nicht klare Regeln des Lehrbuchs das Handeln diktieren, haben wir bereits gesprochen. Dazu vielleicht zwei Gedanken:
Erstens erfolgt die Durchführung einer Operation zunächst einmal nach klaren Regeln und gut trainierten operationstechnischen Vorgehensweisen. Aber nicht so selten stößt man beim Operieren auf Befunde, die dann doch ein bisschen anders sind, als aus den Bildern vor der OP erwartet, und dann muss man entscheiden – wie soll es nun weitergehen? Da kommt dann schon – wie in der Kunst – ein improvisierendes Element dazu und man muss, um jetzt im Sinne des Patienten entscheiden zu können, in solchen Situationen mehr über den Patienten wissen, als nur die Befunde, aus denen er besteht. Da macht es sich dann bezahlt, wenn man im Vorfeld den ganzen Menschen gesucht und vielleicht ein Stück weit auch gefunden hat.
Zweites sehe ich ein gewisses Problem in der Entwicklung der Medizin in den letzten Jahren darin, dass die Medizin immer mehr versucht, alles, was sie tut, begründbar zu machen – oder anders gesagt, dass sie versucht, immer mehr nur die Dinge zu tun, die medizinisch begründbar sind – wir sprechen von der „evidence based medicine“: Nur was in Studien bewiesenermaßen gewirkt hat, soll angewendet werden. Das klingt einerseits zunächst sinnvoll – sicherlich steckt dahinter auch der ökonomische Zwang, im Gesundheitswesen kein Geld auszugeben, für Maßnahmen, deren Nutzen nicht belegt ist. Andererseits wissen wir aber doch auch, dass der Mensch ein Bedürfnis hat nach Emotionalität und nach Spiritualität und Ritualen – das sind doch alles Dinge, ohne die ein Mensch ganz schnell zu Grunde geht. Und da denke ich, ist es falsch, wenn die Medizin zu sehr nur noch nach Evidenzen sucht und keinen Platz mehr lässt für das Spirituelle und Emotionale. Wir Ärzte brauchen uns nicht wundern, dass unsere Patienten zunehmend bei paramedizinischen Berufen – manche seriös, manche leider auch nicht – ihr Heil suchen, wenn wir Ärzte diese Grundbedürfnisse nicht mehr bedienen. Der Wert eines zugewandten Gesprächs ist unbestritten, lässt sich aber eben schlecht als Evidenz im Rahmen einer Studie abbilden. Vielleicht könnte man so den Unterschied zwischen einem Mediziner und einem Arzt versuchen: während der Mediziner streng an den Evidenzen orientiert handelt, lässt der Arzt – der die Evidenzen auch kennen muss! – zusätzlich Raum für Spiritualität, Emotion und Rituale. Und für ein solches Arzt-Sein ist eine künstlerische Beschäftigung ganz sicher hilfreich.
Nehmen Ihre Patienten „Kunst“ als Therapieform an und welche Erfahrungen haben Sie persönlich gemacht? Kann Kunst Mut machen?
WOLFRAM LUCKE: Kunst als Therapieform ist in meinem Arbeitsfeld einer großen Akutklinik leider eher nur spärlich repräsentiert. Aber im Rehabilitationsbereich spielt das eine große Rolle und die Erfahrungen aus diesen Bereichen sind gut! Die Frage, ob Kunst Mut machen kann, liebe ich – ja natürlich kann sie, sie muss es sogar! Das bezieht sich nun auch nicht nur auf unsere Patienten, sondern letztlich auf alle Menschen! Sehen Sie, wir haben doch alle unsere Probleme – von den kleinen in der Familie und im persönlichen Arbeitsumfeld angefangen, bis zu den ganz großen globalen. Um nicht auf Dauer die Hoffnung aufzugeben und die Kraft zu verlieren, brauchen wir alle, jeder einzelne von uns, doch Erfahrungen, die uns motivieren, die uns die Vision am Leben erhalten: es kann gehen, es lohnt sich! Ich zitiere Leonard Bernstein, der gesagt hat, dass das der vielleicht größte ethische Wert der Musik ist: in einem guten Musikstück erleben wir wieder einmal, dürfen wir metaphysisch spüren, dass es Welten gibt, die in sich stimmen, die funktionieren, die richtig sind – und das ist doch das, was uns manchmal droht, abhanden zu kommen: der Glaube an eine stimmige Welt. In der Musik, in der Kunst können wir sie finden, die stimmige Welt, und können den Ur-Glauben daran wiederbeleben, dass es doch stimmige Welten gibt – und aus diesem Ur-Glauben heraus gehen wir wieder ins „echte Leben“ mit Visionen und Idealen und engagieren uns für die „beste aller möglichen Welten“!
Sie leiten auch das Orchester ihres Gesundheitsverbunds – welche Botschaft steckt dahinter, an wen ist sie gerichtet?
WOLFRAM LUCKE: Unser Gesundheitsverbund ist ein Zusammenschluss von 5 Krankenhäusern der Region Hegau/westlicher Bodensee – da gibt es tatsächlich viele Mitarbeiter, die als Laien Musik machen, und das sind nicht nur Ärzte und Schwestern, da finden sich auch Logopäden, Sozialarbeiter, der Schreiner aus der Werkstatt und die Sekretärin aus der Verwaltung und viele mehr.
Wir haben uns als Orchester zusammen-gefunden aufgrund der gemeinsamen Freude am gemeinsamen Musizieren – zunächst ganz ohne Botschaft. Aber natürlich steckt immanent in allem, was wir tun, auch eine Botschaft. Die unausgesprochene Botschaft kann die sein, sich über die Musik als Menschen besser kennenzulernen – nicht nur in der Klinik professionell mit-einander zu tun zu haben. Nach einer abendlichen gemeinsamen Haydn-Probe begegnet man sich am nächsten Morgen beruflich ganz anders wieder – vieles wird im Alltag einfacher, freundlicher. Eine weitere, unausgesprochene Botschaft ist natürlich die ans Publikum, an die Bevölkerung unserer Region: Seht mal, wir, eure Krankenhaus-Teams, sind hinter den weißen Kitteln der Professionalität auch mehr – sind auch Menschen mit Emotionen und Spiritualität. Es ist vielleicht die Werbung dafür, dass nicht nur wir Behandler in den Patienten den Menschen sehen wollen, sondern auch umgekehrt wir durch die Patienten als Menschen wahrgenommen werden können – das tut wiederum nicht nur uns, sondern auch den Patienten gut!
Und es bleibt – mir persönlich sehr bewusst und wichtig – eine grundsätzliche globale Botschaft im Musizieren eines Orchesters oder auch eines Chors: das passive Erleben – als Zuhörer – aber viel mehr noch das aktive Er-leben – als Mit-Musiker – macht uns erlebbar, spürbar, dass wir alle, jeder einzelne mit seinen Unzulänglichkeiten, seiner Unperfektheit in der Gemeinschaft etwas Großes verwirklichen können! Es ist eine mit Worten nicht beschreib-bare Ur-Erfahrung, die uns erleben lässt, dass nur und alternativlos das soziale Miteinander der Menschen ein großes Ganzes gelingen lässt, in welchem die Unzulänglichkeiten des Einzelnen ausgeglichen werden und dass jeder einzelne dabei gleichermaßen wichtig ist. Wer das einmal bewusst – oder auch unbewusst – erfahren, erlebt hat, kann eigentlich gar nicht mehr anders, als an den unersetzbaren Wert einer freiheitlichen und sozialen Gesellschaftsordnung zu glauben.
Sie sind ein politischer Mensch?
WOLFRAM LUCKE: Ich bin nicht aktiv im Alltag politisch. Vielleicht, eigentlich sollte ich. Aber ich habe ein Bewusstsein für die politischen und die philosophischen Dimensionen unserer Gesellschaft und unseres Handelns. Und da sind mir diese Dinge eben sehr bewusst, dass wir in der Kunst nicht Parallelwelten erschaffen, die mit dem echten Leben nichts zu tun haben, sondern im Gegenteil, wir schaffen Welten, die uns Erfahrungen ermöglichen, die wir im echten Leben dringend brauchen. Deswegen kann der Mensch zwar ohne Kunst – in Pandemiezeiten – ein bisschen länger überleben, als ohne Essen, aber eben nicht auf Dauer.
Haben Sie Wünsche oder Visionen für die Medizin?
WOLFRAM LUCKE: Es herrscht auf der politischen Ebene eine Schizophrenie, die ich als unehrlich empfinde, wenn der Bevölkerung immer wieder erzählt wird, wie gut alles im Gesundheitswesen funktioniert, wie hochstehend die deutsche Medizin ist, aber gleichzeitig seit Jahren der Rotstift angesetzt wird, Krankenhäuser kaputtgespart werden, Pflegekräfte nicht adäquat bezahlt werden.
Ohne ein Umdenken bezüglich der Finanzierung werden wir auf Dauer die hohen, durch die Politik formulierten Ansprüche an das deutsche Gesundheitswesen nicht halten können – vielleicht ist das auch gar nicht gewollt. Nur: wenn das aus Gründen der Finanzierung gar nicht gewollt ist, soll die Politik das doch bitte auch genauso der Bevölkerung sagen. Aber das ist, fürchte ich, in anderen Bereichen, beispielsweise der Musik, auch nicht anders.
Haben Sie Wünsche oder Visionen für die Musik?
WOLFRAM LUCKE: Einmal mit einem Profiensemble ein Orchesterprojekt, vielleicht auch mit eigenen Kompositionen, zu verwirklichen, wäre ein Traum.
Großartig – wir sind uns sicher, dass sich Ihr Traum erfüllen wird!
Wir bedanken uns für diesen ganz persönlichen Einblick, der uns definitiv eine neue Perspektive eröffnet hat.
Das Interview ist in der Ausgabe 1.21 PONEERING erschienen.
Print-Version hier bestellen: 1.21 PIONEERING – stayinart | Kunstmagazin