Undefinierte Orte, verschleierte Gesichter, wesenhafte Nebelschwaden, in den Werken des österreichischen Künstlers Thomas Riess spielen Fragen zu Raum und Zeit, (feinstoffliche) Wahrnehmung und ein Erkunden von Metaebenen eine große Rolle. Nichts ist, wie es scheint. Seine Protagonist*innen existieren in einer twilight zone. So akribisch er als Maler seine Pinselstriche setzt und führt, so sehr für ihn auch ein an Perfektion grenzender Malstil wichtig ist, seinen Figuren und Landschaften haftet dennoch immer ein Hauch von Inexistenz, von Erscheinen und Verschwinden an, jenseits des Fassbaren.
Unterhält man sich mit Thomas Riess, ist es genau das, was schnell zum Thema wird: eindrückliches (und ausdrückliches) Schwärmen über Pinselduktus, die Getriebenheit des Künstlers zum Schaffen – kein Zwang, einfach eine künstlerische Notwendigkeit. Da kann es schon einmal bis weit in die Morgenstunden dauern, bis die Striche sitzen, bis die Oberfläche eines Kleides, die Finger einer Hand oder auch „einfach“ nur der Hintergrund dem Bild entspricht, das er im Sinn hat. Vor malerischen Meisterleistungen der Kunstgeschichte hat er größte Hochachtung. Es ist eine große Bereicherung, mit ihm durch Ausstellungen zu flanieren und sich einfach seinen Gedanken hinzugeben, eine wunderbare Ergänzung zu meinem eigenen Blick und meinen Gedanken als Kunsthistorikerin. Im gemeinsamen Sinnieren und Diskutieren fließt der Gesprächsfaden bald in Feinstoffliches über, in das Dazwischen, das kaum Wahrnehmbare, die dünne Schicht zwischen den Realitäten.
Eigentlich wollte Thomas Riess Musiker werden. Die Affinität zur Musik ist auch in seinen Gemälden und Zeichnungen erkennbar; manche Werkserien könnte er durchaus mit musikalischen Tempi betiteln. Seinen frühen Arbeiten haftet ein Suchen nach dem Raum an. Oft changieren die Handlungsorte seiner Protagonist* innen zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, zwischen tatsächlichem Raum und einer Art Bühne. Die Dargestellten selbst verschwimmen in ihrem Ringen um Existenz, sich kaum fassbar im malerischen Gestus auflösend.
Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass sich der Künstler selbst in vielen Werken wiederfindet. Die künstlerische Reise beginnt für viele bei sich selbst.
Einsame Menschen in einem undefinierten Raum dominieren viele Gemälde. Von 2007 bis 2016 entstanden Werke mittels einer speziellen Technik, dem Auftrag von Korrekturband auf meist schwarz grundierter Leinwand. Als klassische Malerei kann man sie eigentlich nicht bezeichnen, es ist eher ein Herausarbeiten, ein Auftauchen von Bildinformation aus einem endlosen schwarzen Raum. Sie erinnern an die ersten Fotos, welche Mitte der 1960er Jahre im Rahmen von NASA-Missionen mit teils verzerrten und in Streifen aufgeteilten Bildinformationen aus dem Weltraum auf die Erde geschickt worden waren. So verwundert es nicht, dass eine große Zahl von ihnen auch die Raumfahrt thematisiert: Raumkapseln, Versatzstücke der Mondlandschaft und Raumfahrer*innen.
Gerade im Jubiläumsjahr der Mondlandung, das mit vielen Ausstellungen gewürdigt wird, erinnert man sich an ein Lied, das unsere Kindheit geprägt hat: Space Oddity von David Bowie, das dieser 1969 geschrieben hatte, dem Jahr, in dem mit der Landung des ersten Menschen auf dem Mond Geschichte geschrieben worden war. Major Tom von Peter Schilling als deutsche Adaptierung aus dem Jahr 1982 könnte als Assoziation passender nicht sein: Thomas Riess, Künstler und Reisender im Ungewissen, seine Werke, das Reisetagebuch. In der Auseinandersetzung mit schwer zugänglichen Orten wie dem Weltraum oder den Tiefen des Meeres relativiert sich die menschliche Wahrnehmung von Zeit und Raum, führt sich vieles, das wir in unserem eingeschränkten Spektrum als Konstante festgelegt haben, ad absurdum.
In technisch perfekten Ölgemälden tauchen sie nun wieder auf, die Astronauten, Taucher und Liquidatoren. Thomas Riess wählt eine Metaebene, um die teils unsicht- und undarstellbare psychische und physische Einsamkeit wahrnehmbar zu machen: teils durch die gesättigte Farbigkeit des Hintergrundes in tiefstem Schwarz oder mystischem Ultramarin, teils über die in den Gemälden schwebenden Blurs. Major Tom, der einsame Astronaut, wird sowohl bei David Bowie als auch bei Peter Schilling von einem Licht durch das All geführt. Im Volksglauben vieler Regionen sind Irrlichter unerklärbare Leuchterscheinungen, die jene, die ihnen folgen und ihrer Verlockung nicht widerstehen können, ins Unglück stürzen. Gänzlich frei von böser (aber auch guter) Intention sind die Erscheinungen in den Gemälden von Thomas Riess, die er als „Blurs“ bezeichnet. Sie sprechen das elementare Bewusstsein der Menschen an, können als Kontakt in eine andere Sphäre der Wahrnehmung, aber auch als Blick in die eigene Psyche interpretiert werden. Sie erscheinen genau dort, wo die Darstellung zu genau wird, wo die Bildsprache und der Duktus zu ausformuliert sind. Als expressive Geste huldigen sie der Unschärfe in einer Komposition, in der die Malerei versucht, das fotografische Bild zu übertreffen. Man merkt schnell, dass außerhalb unseres Bild- und Wahrnehmungsfeldes mehrere dieser Erscheinungen anwesend sind, sich nicht an die physikalischen Gesetze unseres Planeten halten (müssen). Oder handelt es sich um Trug- und Traumbilder, die sich vor unserem inneren Auge auflösen, sich uns entziehen, bevor sie (be-)greifbar werden konnten?
Mit dem Wissen, dass Thomas Riess ein präziser Maler ist, ist klar, dass auch bei den „Blurs“ jeder Strich exakt gesetzt, keine Ausführung eines Bildelements dem Zufall überlassen ist. Er setzt genau dort an, wo Menschen am Gesehenen zu zweifeln beginnen, ihre Neugierde angeregt wird. Die „Blurs“ sind Bewegung des Körpers und des Geistes, Auflösung und Manifestation zugleich. Sie bewegen sich in Zwischenwelten und Zwischenzeiten.
Was können wir glauben? Können wir unseren Augen, unserer Wahrnehmung trauen? Wie viel ist von dem beeinflusst, was uns als Wissen vermittelt wurde? Wie können wir das, was Menschen fühlen, selbst wahrnehmen? Der Gedankenraum spiegelt sich oft in Gesichtern wieder, genauso wie Lebenserfahrungen uns, vor allem unsere Gesichtszüge zeichnet. Es kommt also nicht von ungefähr, dass Thomas Riess die Gesichter seiner Protagonist*innen verschwinden lässt, sie bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, übermalt oder sie hinter Masken verschiedenster Art versteckt. Die „Idols“ sind Darsteller*innen eines scheinbar perfekten Lebens, hervorragend gekleidete Models einer viel zu glatten, oberflächlichen Welt. Was hinter der Fassade steckt, bleibt im Verborgenen. In unserer medial reizüberfluteten Welt, in der Alterungsprozesse ausgehebelt werden sollen, die Zeit beherrscht, gleichzeitig stillstehen und rasant voranschreiten soll, bleibt die Individualität oft im Verborgenen – wie die Unsicherheiten, die sich hinter der untadelhaften Maske zu verstecken suchen. Das Plakative versucht sich durchzusetzen. Aber es bleibt immer etwas nicht Fassbares enthalten, auch in den perfektesten Gemälden, der schicksten Kleidung, der selbstbewusstesten Pose.
Dieser feine Bruch ist genau das, an dem wir als Betrachter*innen hängen bleiben, Fragen stellen, nachhaken und durchaus nach dem bohren, was wir unter der makellosen Epidermis vermuten. „Ein Gedanke manifestiert sich nicht“ heißt eines der jüngsten Gemälde des Künstlers und drückt genau diesen Moment aus, indem man versucht, das wahrgenommene zu verarbeiten, zu benennen, ihm eine Form zu geben, aber oft manifestieren sich Gedanken nicht, sind volatil und machen sofort wieder neuen Gedanken Platz − so wie der „Gute Geist“, der durch uns zu wirbeln scheint, ein Hauch von nichts auf Leinwand, aber gerade so viel, dass er einem bekannt vorkommt und als Erinnerungsfetzen erhalten bleibt.