Fabio Novembre

Die magische Form der Welt

Der ita­lie­ni­sche Desi­gner und Archi­tekt Fabio Novembre (*1966 in Lec­ce) ist Visio­när und Eklek­ti­ker, Expe­ri­men­ta­tor und Inno­va­tor zugleich. Sein krea­ti­ver, flie­ßen­der Raum ist immer dar­auf aus­ge­rich­tet, Gren­zen und Schran­ken abzu­leh­nen, und ist in der Lage, die objek­ti­ve mit der emo­tio­na­len Mas­se in einen Dia­log zu brin­gen und so das Wahr­neh­men zu objek­ti­vie­ren, das sich zwi­schen Leben und Objek­ten bewegt. Das Ergeb­nis ist das Ein­drin­gen von Frag­men­ten aus Erfin­dun­gen in die Sze­ne, die die dyna­mi­sche Kraft der Lini­en mit dem Pop-Akzent einer Ästhe­tik kom­bi­nie­ren, die durch eine Viel­zahl von Sti­len und Inter­ven­ti­ons­wei­sen gekenn­zeich­net ist.

Die Kar­rie­re von Novembre, der sehr jung aus Süd­ita­li­en nach Mai­land zog, war eine Abfol­ge von Umstän­den und Gele­gen­hei­ten, die vie­len Wir­kungs­mul­ti­pli­ka­to­ren ähnel­ten, die sein gan­zes Leben lang wie in einem schwer fass­ba­ren Spiel unge­reim­ter Ver­se gejagt wur­den, getreu nur dem latei­ni­schen Sprich­wort »auden­tes for­tu­na iuvat«. Etwas Mär­chen­haf­tes, wie eine Fabel, in der alles denk­bar ist.

Es hat sich ange­fühlt, als wäre man in einer Wun­der­kam­mer. Ich kam aus Lec­ce, wo wir eine Fami­lie von vier Geschwis­tern waren, die in einer länd­li­chen, fast volks­tüm­li­chen Atmo­sphä­re leb­ten, und ich fand mich ins gro­ße Mai­land kata­pul­tiert. Ich habe die Stadt in vol­len Zügen genos­sen! Ange­trie­ben von dem Hun­ger zu erfah­ren, zu wis­sen und zu leben, ein­fach typisch für die­je­ni­gen, die in der Pro­vinz auf­wach­sen. Ich war sehr hung­rig nach allem, weil alles neu war, alles groß und wun­der­schön, und so habe ich die­se ers­te Pha­se sehr inten­siv erlebt.

Fabio Novembre und Autorin Fran­ce­s­ca Inter­lenghi – Foto: Eli­sa­bet­ta Brian
Fabio Novembre im Gespräch mit Fran­ce­s­ca Inter­lenghi – Foto: Eli­sa­bet­ta Brian 
Fabio Novembre in sei­nem Stu­dio, Mai­land 2022 – Foto: Eli­sa­bet­ta Brian

Er steht neu­gie­rig an der Schwel­le der neun­zi­ger Jah­re, einem Jahr­zehnt tief­grei­fen­der sozia­ler und wirt­schaft­li­cher Ver­än­de­run­gen, eines gro­ßen Umden­kens der zeit­ge­nös­si­schen Kunst und des Refle­xi­ons­ma­te­ri­als, auf das sich Künst­ler und Krea­ti­ve im All­ge­mei­nen kon­zen­trie­ren: Ras­sen­fra­gen, Sexua­li­tät, Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus, Glo­ba­li­sie­rung. Es ist kein Zufall, dass die Young Bri­tish Artists mit ihrer ant­ago­nis­ti­schen und unter­neh­me­ri­schen Ein­stel­lung in die inter­na­tio­na­le Sze­ne ein­tre­ten. Mit­ten auf die­sem kon­zep­tio­nel­len Nähr­bo­den, der nach dem Pes­si­mis­mus der sieb­zi­ger Jah­re und dem Auf­ruhr der acht­zi­ger Jah­re wie ein fri­scher Wind erscheint, blüht Novembre auf und wird selbst Teil der dyna­mi­schen und erfin­de­ri­schen Ener­gie die­ser Zeit. Ihm schließt sich der Künst­ler Izhar Pat­kin in Vene­dig an, um ihm zu hel­fen, sei­ne Aus­stel­lung anläss­lich des Jugend­be­reichs »Aper­to 90« der 44. Aus­ga­be der Kunst­bi­en­na­le von Vene­dig ein­zu­rich­ten. Er lernt in die­sem Zusam­men­hang den ita­lie­ni­schen Mode­de­si­gner Romeo Gig­li, den Avant­gar­dis­tischs­ten der dama­li­gen Sze­ne, und den ein­zig­ar­ti­gen Archi­tek­ten und Desi­gner Etto­re Sott­s­ass, zusam­men mit sei­ner Frau Bar­ba­ra Radi­ce, ken­nen und bleibt mit ihnen in Kon­takt. Nach sei­nem Abschluss in Archi­tek­tur am Poli­tec­ni­co di Mila­no zieht er nach New York, wo er Film­re­gie an der NYU stu­diert. Gera­de im Big Apple wird ihm von der ita­lie­ni­schen Desi­gne­rin Anna Moli­na­ri die ers­te wich­ti­ge Auf­ga­be über­tra­gen, die den Beginn sei­nes erstaun­li­chen beruf­li­chen Auf­stiegs mar­kie­ren wird, bei dem er mit den wich­tigs­ten inter­na­tio­na­len Mar­ken für Design­pro­jek­te, Innen­ar­chi­tek­tur, Aus­stel­lungs­pro­jek­te und Ver­an­stal­tun­gen zusam­men­ar­bei­ten wird: Stuart Weit­zman, Lam­bor­ghi­ni, AC Milan, Veni­ni, um nur eini­ge zu nennen.

Ich konn­te nicht zeich­nen und zu die­ser Zeit gab es kei­nen Com­pu­ter. Ich war mir bewusst, dass mich kein Archi­tek­tur­bü­ro ein­stel­len wür­de, und dann sag­te ich mir: Erfin­den wir eine ande­re Zukunft! Und so war es. Ich reis­te nach New York, das zu die­ser Zeit eine außer­ge­wöhn­li­che Stadt war. Ich ver­brach­te Zeit mit Leu­ten wie Jim Jar­musch oder Spike Lee, bis ich eines Abends beim Abend­essen die Desi­gne­rin Anna Moli­na­ri traf, die mir die Ver­wirk­li­chung ihres neu­en Mono­mar­ken­ge­schäfts in Hong­kong anver­trau­te. Ich hat­te kei­ne Erfah­rung und konn­te nichts ande­res tun, als die mir eige­nen Mit­tel ein­zu­set­zen, die ich zu nut­zen in der Lage war: die Her­an­ge­hens­wei­se des Archi­tek­ten kom­bi­niert mit dem Blick des Regis­seurs. Ich habe für sie ein Skript geschrie­ben. Am Tag der Eröff­nung erin­ne­re ich mich deut­lich dar­an, dass ich mir nach Erle­di­gung der Arbeit gesagt habe: Fabio, du bist gut, du kannst die­sen Job machen! Weil er alles ver­bin­det: dei­ne Lei­den­schaft für das Kino, dein Geschich­ten­er­zäh­len, dein Raum­ge­fühl, dei­ne Hyper­de­ko­ra­ti­vi­tät. Der Laden war ein Film, der aus einem Dreh­buch ent­stand und in drei Dimen­sio­nen gedreht wur­de. Alles war zu die­ser Zeit mini­ma­lis­tisch und ich stach durch den Unter­schied her­vor, der mich aus­zeich­ne­te – einen maxi­ma­lis­ti­schen und äußerst deko­ra­ti­ven Geschmack.

Stuart Weit­zman Show­room in Rom, 2018 – Foto: Alber­to Ferrero

Wäh­rend die Klei­dung in Hong­kong hin­ter Vor­hän­gen ver­steckt war und die Umklei­de­ka­bi­ne im Schau­fens­ter stand, wo die Flüs­sig­kris­tall­glä­ser – eine abso­lu­te tech­no­lo­gi­sche Neu­heit der dama­li­gen Zeit – ver­dun­kelt wer­den konn­ten, sodass die Kun­den wie bei einer gro­ßen Peep­show beschlie­ßen konn­ten, sich aus­zu­zie­hen, wäh­rend die Pas­san­ten zusa­hen, erwies sich der Laden in der zen­tra­len Old Bond Street in Lon­don, den die Desi­gne­rin unmit­tel­bar dar­auf in Auf­trag gab, als so visio­när, dass dem idio­syn­kra­ti­schen Ansatz von Novembre eine inter­na­tio­na­le Bericht­erstat­tung gewid­met wur­de. »Loss of gra­vi­ty in the M sec­tor« war eine gelun­ge­ne Aus­übung des kul­tu­rel­len Syn­kre­tis­mus, wel­che in der Lage war, die Sug­ges­tio­nen von Male­vich, Moham­med, Matis­se und Moli­na­ri zu ver­ei­nen, indem sie die Per­spek­ti­ven des Welt­raums und sei­ner Abwe­sen­heit, sei­ner Grö­ße und sei­ner Imma­te­ria­li­tät integrierte.

Von da an folg­te alles ande­re, alles kam auf mich zu. Als ich 1995 nach Mai­land zurück­kehr­te, stell­te ich, mehr durch Zufall und Spie­le­rei, das Cafè Atlan­tique fer­tig, das für die nächs­ten zwan­zig Jah­re zum Bezugs­punkt des Mai­län­der Nacht­le­bens wur­de. Das Geheim­nis? Es gibt keins, außer viel­leicht, immer mei­ne Sta­bi­li­tät aufs Spiel zu set­zen. Ich will kei­ne Kom­fort­zo­nen, ich has­se sie, ich muss mich immer mit Schwie­rig­kei­ten auseinandersetzen.

Atlan­tique Cafè in Mai­land, 1995
Blu­ma­ri­ne Show­room in Lon­don, 1994

Seit sei­nen Anfän­gen hat der archi­tek­to­ni­sche Atem von Novembre es ver­stan­den, eine Kon­zep­ti­on von Raum und Zeit, von Leben und Den­ken zur Ver­fü­gung zu stel­len, die auf unauf­lös­li­che Wei­se mit den Men­schen und ihren Kör­pern ver­floch­ten sind, ohne dabei die Wesent­lich­keit ihrer gegen­sei­ti­gen Abhän­gig­keit zu ver­nach­läs­si­gen. Den gewöhn­li­chen Ges­ten, die den Men­schen aus Fleisch und Blut cha­rak­te­ri­sie­ren, einen Raum zu geben: atmen, essen, schla­fen, sich gegen­sei­tig vom Kon­takt mit dem ande­ren näh­ren; alle Erfah­run­gen, die mit der Kör­per­lich­keit ver­bun­den sind und mit denen die Archi­tek­tur nie auf­hört, uns in Bezie­hung zu setzen.

In die­sem Sin­ne haben wir den Vor­teil, das Glück, Archi­tek­ten zu sein, da wir uns immer noch auf die Kör­per bezie­hen, wir schaf­fen immer noch Höh­len, in denen die Sapi­ens und mit ihnen das Leben auf­ge­nom­men wer­den kön­nen. Für alle Men­schen ent­wi­ckelt sich die Wahr­neh­mung des Rau­mes im Mut­ter­leib, also von innen nach außen. Das war die gro­ße Ver­wir­rung der letz­ten drei­ßig Jah­re: Archi­tek­tur als eine Makro-Skulp­tur zu betrach­ten, denn wenn wir gro­ße Volu­men schnit­zen müs­sen, ist das kei­ne Archi­tek­tur. Wah­re Archi­tek­tur, wie in der gro­ßen ita­lie­ni­schen Tra­di­ti­on, wird von innen nach außen gemacht. Wir begin­nen damit, wie die Men­schen leben, und dann geben wir dem Gan­zen eine Scha­le. Für mich ist es ein zen­tra­les The­ma: Insi­de-out oder Out­side-in? In mei­ner Kon­zep­ti­on ist es zwei­fel­los Inside-out.

Und in den Woh­nun­gen fin­den die Design­ob­jek­te ihren Platz. Sei­ne sind iko­nisch und ima­gi­när. Eine Ver­klä­rung auf einer Ebe­ne der Rea­li­tät aus meist mit offe­nen Augen geträum­ten Träu­men. Sie sind Objek­te mit star­ken Aus­sa­gen, die den dia­lek­ti­schen – und ste­ril aka­de­mi­schen – Kno­ten des Form-/Funk­ti­ons­prin­zips hin­ter sich las­sen und vor­ran­gig die Para­me­ter Nütz­lich­keit und Lang­le­big­keit erfül­len, um Instru­men­te zu wer­den, durch die Mär­chen, Gedich­te oder visu­el­le Par­ti­tu­ren erzählt wer­den kön­nen. Ein Bei­spiel dafür ist der für Cap­pel­li­ni ent­wor­fe­ne ORG-Tisch, der aus einer trans­pa­ren­ten Glas­plat­te besteht, die von 175 beweg­li­chen Bei­nen aus Poly­pro­py­len­seil getra­gen wird, in denen die star­ren Stütz­bei­ne sich ver­schmel­zen. Oder der für Dria­de ent­wor­fe­ne Mono­block-Stuhl/­Skulp­tur Nemo, des­sen Prot­ago­nist ein Gesicht/eine Mas­ke ist, die vom Kar­ne­val von Vene­dig inspi­riert ist. Oder die Him & Her Stüh­le, die für Casa­ma­nia ent­wor­fen wur­den. Sie sind eine Wei­ter­ent­wick­lung des ursprüng­li­chen Vitra Pan­ton Chair, des­sen Form, die auf die har­mo­ni­sche Begeg­nung der bei­den Geschlech­ter anspielt, aus dem drei­di­men­sio­na­len Scan von eben­so vie­len Gips­skulp­tu­ren stammt. Oder der für Guf­ram ent­wor­fe­ne Jol­ly Roger Skull-Stuhl, der eine Hom­mage an den Pira­ten­geist dar­stellt, mit dem das Unter­neh­men die Design­re­geln auf den Kopf gestellt hat. Aber die Lis­te wäre endlos.

Him & Her for Casa­ma­nia, 2008 – Foto: Set­ti­mio Benedusi

Für mich waren Objek­te, genau wie Archi­tek­tur, immer Vek­to­ren der Bedeu­tung. Wir spre­chen durch die Din­ge, die wir tun, und in den Din­gen, die wir tun, müs­sen Bot­schaf­ten sein. Als ich mich bei Giu­lio Cap­pel­li­ni das ers­te Mal vor­ge­stellt habe, habe ich ihm mein preis­ge­krön­tes Pro­jekt gezeigt und ihm gesagt, dass ich einer sei­ner Desi­gner sein möch­te. Er hat mir sehr lie­be­voll geant­wor­tet: ‚Du bist defi­ni­tiv gut und das ist ein schö­nes Pro­jekt, aber ich begrü­ße Ansich­ten, ich will Ansich­ten über die Welt, ich will kei­ne schö­nen Objek­te; wenn du einen Stand­punkt über die Welt ent­wi­ckelst, wer­de ich dich mit offe­nen Armen auf­neh­men.‘ Ich bin nach Jah­ren zu ihm zurück­ge­kehrt, im Jahr 2001, mit einer sehr kla­ren Sicht auf die Welt.

Es ist wahr, dass die Archi­tek­tur eine schwie­ri­ge Kunst ist, weil ihr The­ma die gan­ze Welt des Woh­nens ist. Es ist auch wahr, dass Novembre es fer­tig bringt, es so schei­nen zu las­sen, dass sie aus ein­fa­chen Ele­men­ten besteht, da sie in der Lage ist, nicht nur eine über­zeu­gen­de Ant­wort auf for­ma­le, funk­tio­na­le und tech­no­lo­gi­sche Fra­gen zu geben, son­dern auch und vor allem die Welt der gewun­de­nen und durch­drin­gen­den Ober­flä­chen zu bevöl­kern und sie in eine meta­mor­phe Ein­heit instän­di­ger Bewe­gung zu ver­wan­deln. Das ist eine magi­sche Alter­na­ti­ve zu den fes­ten und mess­ba­ren Kon­fi­gu­ra­tio­nen, die typisch für die ratio­na­le Räum­lich­keit sind.

Die Annä­he­rung zwi­schen uns und den Objek­ten muss magisch wer­den. Magie ist für mich eine grund­le­gen­de Kom­po­nen­te, sie macht mich wie­der zu einem Kind und es ist eine wun­der­ba­re Sache. Wenn du die Fähig­keit hast, Wun­der her­vor­zu­ru­fen, Magie her­vor­zu­ru­fen, dann hast du die Sache an der Wur­zel gelöst, dann hast du gewon­nen. Ein magi­sches Stau­nen in den Men­schen wecken. Das ist im Grun­de das, was ich immer ver­sucht habe zu tun.

Der Arti­kel ist in der Print-Aus­ga­be 3.22 REFLECTION erschienen.

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geschrieben von

ist Autorin, unabhängige Kuratorin und Performerin. Sie schreibt für verschiedene Zeitschriften über zeitgenössische Kunst, kuratiert Kunstbücher, Ausstellungskataloge, Ausstellungen der Fotografie und der zeitgenössischen Kunst und verfasst Videokunstkritiken. Seit 2016 ist sie als Performerin tätig. Sie hat an mehreren Videoperformances teilgenommen und öffentliche Performances realisiert, an Kurzfilmen und Filmen mit experimentellem Charakter mitgewirkt, die auf internationalen Festivals präsentiert wurden.

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